radioWissen - Bayern 2   /     Wie die Körpergröße unsere Gesellschaft prägt

Description

Körpergröße ist eines unserer bestimmenden Merkmale. Was wir sehen, sind die Unterschiede: zu uns selbst, aber auch statistisch. Weil etwa größere Menschen erfolgreicher und gesünder sind. Biologisch bestimmen vor allem die Gene unsere Größe. Doch wie beeinflussen sich Größe und Gesellschaft? Von Sebastian Kirschner

Subtitle
Duration
00:23:20
Publishing date
2024-07-23 03:00
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/wie-die-koerpergroesse-unsere-gesellschaft-praegt/2095887
Contributors
  Sebastian Kirschner
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2095887/c/feed/wie-die-koerpergroesse-unsere-gesellschaft-praegt.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Körpergröße ist eines unserer bestimmenden Merkmale. Was wir sehen, sind die Unterschiede: zu uns selbst, aber auch statistisch. Weil etwa größere Menschen erfolgreicher und gesünder sind. Biologisch bestimmen vor allem die Gene unsere Größe. Doch wie beeinflussen sich Größe und Gesellschaft? Von Sebastian Kirschner

Credits
Autor dieser Folge: Sebastian Kirschner
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Andreas Neumann, Friedrich Schloffer
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner

Im Interview:
Dr. Eva Rosenstock, Archäologin (Universität Bonn);
Prof. Dr. Michael Hermanussen, Kinder- und Jugendmediziner;
Dr. Christiane Scheffler, Humanbiologin (Universität Potsdam);
Dr. Gert Stulp, Soziologe (Universität Groningen, NL)

Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

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ZUM PODCAST

Literaturtipps: 

- Michael Hermanussen/ Christiane Scheffler, „Größenwahn – Zur Evolution biologischer Signale im sozialen Miteinander“ (Springer-Verlag, ab Oktober 2024): zeigt allgemeinverständlich, auf welche Weise sich Körpergröße auf unseren Alltag auswirkt, wie sie unser soziales, politisches und wirtschaftliches Leben beeinflusst; viele weiterführende Literaturhinweise

- Barry Borgin, „Patterns of human growth“ (2020): Welche Faktoren beeinflussen das menschliche Wachstum und wie spielen sie zusammen? Barry Borgin erklärt es. 

- Frank Siegmund, „Die Körpergröße der Menschen in der Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas und ein Vergleich ihrer anthropologischen Schätzmethoden“ (2010): eines der Standardwerke, wenn es um Körpergrößen jenseits der Neuzeit geht – und wo die Probleme liegen, sie zuverlässig zu ermitteln

- John Komlos, „Körpergröße und Wohlstand“ in: Spektrum der Wissenschaft (9) 2005: prägnante und verständliche Sicht eines Wirtschaftshistorikers. Komlos gilt als einer DER Vertreter, dass sich an Körpergrößen ablesen lässt, wie gut es einer Gesellschaft geht 

- John Tyler-Bonner, „Why size matters“ (2006): Psychologie und Gesellschaft beiseite; wie anders sich die Physik für die Allergrößten (und Allerkleinsten) auswirkt

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHER

Klein und ein Tyrann. Einer, der seine geringe Größe mit Macht kompensieren musste. Der den Spott über seine kurze Statur mit diktatorischer Härte und der Herrschaft über halb Europa ausgeglichen hat. So ist Napoleon Bonaparte zum Teil bis heute noch im kollektiven Gedächtnis verankert. Körpergröße, die eng mit dem Charakter verbunden scheint. Als sogenannter „Napoleon-Komplex“ hat es dafür zeitweise sogar einen psychologischen Fachbegriff gegeben. Wissenschaftlich ist der zwar überholt – aus der breiten Öffentlichkeit aber längst nicht verschwunden. Denn Körperhöhe bewegt uns, sie ist mehr als nur ein biologisches Maß. Jeder misst Größe eine Bedeutung bei: 

ZUSP_01

… dass kleine Männer zum Beispiel energiegeladen bis aggressiv durchsetzungsfähig sind, um irgendetwas zu kompensieren. Dass bei gleicher Qualifikation zweier beruflicher Bewerber auf eine Stelle gerne gerade bei Männern der größere genommen wird, weil Körperhöhe offensichtlich doch irgendwie positiv konnotiert ist. 

SPRECHER

Dass Körpergröße unsere Gesellschaft in vielerlei Hinsicht beeinflusst, scheint außer Frage zu stehen. Doch offenbar funktioniert das Ganze nicht nur in eine Richtung. Psychologen, Wirtschaftswissenschaftler und Archäologen wie Eva Rosenstock spüren längst weiteren Faktoren von Körperhöhe nach und wie sich die auswirken. Könnte unsere Gesellschaft auch die Körpergröße beeinflussen? Und wenn ja:

ZUSP_02

Woran liegt es? Steckt da auch Kultur drin? Und natürlich: Steckt da auch irgendwie Umwelt drin, im Sinne von Ernährungszustand? All diese Dinge sind noch relativ unerforscht.

MUSIK 2

"Minamisoma" - Album: Grüsse Aus Fukushima (Original Score) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'30

SPRECHER

Eines ist offensichtlich: Körpergröße bestimmt unser Leben. Große Menschen sind statistisch gesehen erfolgreicher als kleinere, Frauen sind im Schnitt kleiner als Männer. Und kleine Kinder wollen oft nur eines: endlich groß sein! Körpergröße ist für uns allgegenwärtig. Für den niederländischen Soziologen Gert Stulp ist auch völlig klar, warum das so ist:

ZUSP_03

height is one of the first things that you notice. height is a very a distinguishing feature. and we cannot help not looking at height

VOICEOVER-männlich

Größe fällt uns sehr schnell auf. Sie ist ein wichtiges 

Unterscheidungsmerkmal. Wir können gar nicht anders, als darauf zu achten.

SPRECHER

Mit zwei Metern Größe weiß Gert Stulp, wovon er spricht. Egal, was wir tun, wohin wir schauen – wir nehmen unsere Körpergröße wahr, physisch und psychisch: Etwa, wenn wir ins Auto steigen und erstmal den Sitz verstellen müssen. Oder wenn wir im Bus vielleicht kaum an die Haltestangen reichen. Wenn wir Treppen steigen, am Tisch sitzen oder im Bett liegen: Unsere Umgebung haben wir an Durchschnittswerte unserer Größe angepasst. Und mehr noch: Blicken wir auf unsere Mitmenschen, dann registrieren wir – bewusst oder unbewusst – als eines der ersten Dinge deren Statur. Wollen wir jemanden beschreiben, dann wohl kaum ohne dessen Größe. Nicht umsonst steht sie in jedem Pass. Dementsprechend messen wir ihr auch zwischenmenschlich beim ersten Eindruck so viel Bedeutung bei: 

ZUSP_04

If you only have three minutes to judge a person, you will judge a person on easy to measure characteristics. So those are height, weight, the face. But that is also because there are no real alternatives.

VOICEOVER-männlich

Wenn Sie nur drei Minuten Zeit haben, eine Person zu beurteilen, werden Sie auf einfache Merkmale schauen: Körpergröße, Gewicht, das Gesicht. Auch deswegen, weil es keine Alternativen gibt.

SPRECHER

Die Auswirkungen davon sind enorm.

Musik 3: 

"Minamisoma" - Album: Grüsse Aus Fukushima (Original Score) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'36

Sprecher:

Wer groß ist, hat es tendenziell besser in unserer Gesellschaft. Immer wieder belegen Studien: Größere Menschen haben tendenziell mehr Sex, finden leichter einen Job, sie verdienen im Schnitt mehr Geld. Selbst unsere Sprache transportiert, wie wichtig groß sein ist: Egal ob jemand einen hohen Status hat oder großes erreichen will – Größe zählt. Und nicht zuletzt leiden etliche, weil sie mit ihrer Statur nicht ins gängige Ideal passen, weiß Archäologin Eva Rosenstock:

ZUSP_05

Zum Beispiel sollte der männliche Partner größer sein als die Partnerin, mindestens gleich groß. Wenn kleiner, wird es eher schwierig oder gilt als mutige Verpartnerung, dass man sich über Schönheitsideale und Vorstellungen hinwegsetzt. Also, das ist ein sehr, sehr starkes Attribut, was einem auch Rollen zuweist in unserer Gesellschaft.

SPRECHER

An unserer Körperhöhe führt also kein Weg vorbei. Sie hat erheblichen Einfluss auf unsere Gesellschaft, unser soziales Miteinander. So weit, so gut. Nun zeigen aber neuere Studien, das Ganze funktioniert wohl auch umgekehrt. Sprich: Unsere Kultur bestimmt maßgeblich, wie groß wir überhaupt werden. 

Wie kann das sein? Beißt sich die Katze damit nicht in den Schwanz? 

An dieser Stelle eine kurze Wiederholung für alle, die ihren Biologieunterricht nicht mehr so präsent haben: 

Musik 4

"Forest Of Fairytales" - Komponist und Ausführender: Lauschgold - Länge: 0'38

SPRECHER

Die Natur gibt unserem körperlichen Wachstum bestimmte Grenzen vor. Physikalische, die den Bauplan unseres Körpers betreffen. Und physiologische, die die Funktionen und Abläufe in unserem Organismus anbelangen. Kurz gesagt: Wir können nicht etwa fünf Meter groß werden – unsere Knochen würden dabei brechen. Wir können auch nicht zehn Zentimeter klein werden – darauf sind etwa Atmung und Blutkreislauf nicht ausgelegt. Das alles ist in unserem Erbgut, unseren Genen festgelegt. Sie geben unsere Größe vor. Und trotzdem, so sagt Kinderarzt und Größenforscher Michael Hermanussen:

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Der Rahmen ist riesig. Wir können in einem Bereich von etwa 30 Zentimetern wanken. Alles, was wir zwischen 1,40 will ich mal sagen und 1,90 für Männer sehen – es ist im Rahmen unserer Genetik. Nur die Feinabstimmung, die erfolgt dann später. 

SPRECHER

Soll heißen: Nach der Geburt und unabhängig von unseren Genen stellt sich heraus, wo wir innerhalb dieser Bandbreite als Erwachsene landen. Ausschlaggebend dafür ist – so die gängige Erklärung:

ZUSP_08

If you will have a good environments when you are young, with many resources available, that will impact your growth.

VOICEOVER-männlich

Wenn Sie in jungen Jahren ein gutes Umfeld haben, mit vielen Ressourcen, dann wird das ihr Wachstum beeinflussen.

Musik 5

"Forest Of Fairytales" - Komponist und Ausführender: Lauschgold - Länge: 0'30

SPRECHER

Und irgendwie scheint das auch ganz gut zu passen: Denn die meiste Zeit in den letzten Jahrtausenden hat sich unsere Durchschnitts-Größe nur mäßig verändert. Erst in den vergangenen 150 Jahren sind wir sehr schnell deutlich größer geworden – weltweit im Schnitt um mehr als zehn Zentimeter. Fachleute wie Eva Rosenstock nennen das die ‚säkulare Akzeleration‘: 

ZUSP_09

Was hat sich verändert? Da sehen wir eben Fortschritte in ganz verschiedenen Bereichen. Wir sehen in der Landwirtschaft zum einen Kunstdünger mit höheren Erträgen, auch höherem Proteingehalt, den dann die Feldfrüchte haben, insbesondere die Getreide. Wir sehen eine Intensivierung, eine massive der Milchwirtschaft. Das geht wahrscheinlich Hand in Hand mit dem pasteurisieren können. Dann verbesserte Hygiene, weniger Wachstumsverzögerungen, die einfach entstehen, wenn der Mensch ständig gegen Krankheiten ankämpfen muss.

SPRECHER

Körpergröße ist demnach offenbar eng an unsere wirtschaftliche Entwicklung geknüpft. Kurz gesagt:

ZUSP_10

Es ist ein Wohlstands-Indikator.

SPRECHER

Beispiel Niederlande, also dem Land, in dem gegenwärtig die Menschen weltweit am größten sind. Mit Frauen zuletzt 1,70 Metern und Männern 1,84 Metern, im Schnitt wohlgemerkt. Mitte des 19. Jahrhunderts war das noch anders. Damals maßen sie durchschnittlich knapp 20 Zentimeter weniger, sagt der Niederländer Gert Stulp:

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the first reason is that the Netherlands have a very good health care system and also very equal access to health care. And this is important because lets take as an example America. The top American healthcare system is probably better than what we get in the Netherlands. 

VOICEOVER-männlich

Die Niederlande haben ein sehr gutes Gesundheitssystem und haben einen sehr gleichberechtigten Zugang dazu. Und das ist entscheidend. Beispiel USA: Deren bestes System ist wahrscheinlich besser als unseres hier. 

SPRECHER

Aber nur wenige Menschen können sie sich leisten. Wirtschaftswissenschaftler argumentieren, dass US-Amerikaner aufgrund dieser Arm-Reich-Schere heute im Schnitt sechs Zentimeter kleiner sind als Niederländer. Dabei waren sie noch im 19. Jahrhundert die weltweit größten. 

Musik 6

"Stones Throw" - Album: Language Barrier - Komponist: Lusine Icl - Länge: 0'31

SPRECHER

Doch ist unsere Körperhöhe dann tatsächlich eine Frage der Wirtschaftsleistung? Ein Zeichen also für unseren Fortschritt und stetig wachsenden Wohlstand? Oder ist sie vielleicht eher von der Kultur, der Gesellschaft abhängig? Weil die zum Beispiel darüber bestimmt, wer wie viel Zugang zu Ressourcen bekommt. Das hat sich unter anderem auch Archäologin Eva Rosenstock gefragt:

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Können wir das quasi als so ein Bruttoinlandsprodukt-Ersatz für die Vorgeschichte verwenden? Das war die ursprüngliche Idee. Und je weiter wir geforscht haben, wurde uns immer klarer, dass so ein eindeutiges Bild, wie das Wirtschaftshistoriker zeichnen können, das hat sich halt für die Vorgeschichte gar nicht so abgezeichnet.

SPRECHER

… sagt die Forscherin von der Universität Bonn – laut Pass übrigens 1,66 Meter groß. Doch zurück zum Thema. Was hat sie mit Kollegen aus Österreich und den USA genau untersucht? Die Genetiker und Altertumswissenschaftler haben Daten von über 1.500 Skeletten ausgewertet, allesamt zwischen 6.000 und 8.000 Jahren alt. Gefunden bei Grabungen in Mitteleuropa, auf dem Balkan und im Mittelmeerraum. Knapp 130 Proben stammen auch aus der Gegend des heutigen Sachsen-Anhalt. Sie gehören zu Menschen aus der Gruppe der sogenannten Linienbandkeramik:

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Die sind in der zweiten Hälfte des sechsten Jahrtausends aus Südosteuropa nach Mitteleuropa zu uns gekommen und haben die bäuerliche Lebensweise, also Viehhaltung und Pflanzenbau, zu uns gebracht.

SPRECHER

Das besondere dieser Linienbandkeramiker: Sie besiedelten nahezu ausschließlich Gegenden mit fruchtbarem Lössboden. In dem erhalten sich Knochen meist sehr gut. Deshalb kann man mit ihnen auch gut ermitteln, wie groß die Menschen waren.

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So durch die Bank rum haben wir, dass Männer irgendwo um die 1,65 bis maximal 1,70 rangieren und Frauen doch deutlich drunter. 1,55, maximal 1,60. Auf jeden Fall deutlich kleiner als das, was wir heute so gewohnt sind.

SPRECHER

Gleichzeitig ergab sich anhand genetischer Proben aber: Die Menschen haben ihr vorgegebenes Wachstumspotenzial damals nicht ausgeschöpft – genetisch hätten sie größer sein können. Warum also waren die Männer und Frauen damals relativ klein? Zum Teil liegt das nach Ansicht der Wissenschaftler an der damaligen Umwelt und Lebensweise: Körperliche Schwerstarbeit beim Ackerbau, aufwendige und in reiner Handarbeit konstruierte Häuser – tagtäglich enorme Belastungen, die sich auch auf die Körpergröße ausgewirkt haben müssen. Allerdings reicht das nicht, um zu erklären, was Eva Rosenstock noch festgestellt hat – beim Vergleich von nördlichem Mitteleuropa und Mittelmeerraum: 

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Was auffällig war: dass die mediterranen Männer und Frauen ein- und derselben Kulturzeit weniger starke Unterschiede aufweisen als die Bandkeramiker.

SPRECHER

Soll heißen: In der Gegend des heutigen Sachsen-Anhalt waren die Frauen deutlich kleiner als Männer, im Süden dagegen waren Frauen und Männer annähernd gleich groß. An Ernährung, Krankheiten oder Mangelzuständen kann das aber nicht gelegen haben, sagt die Archäologin. Das lässt sich aus den Analysen von in den Knochen eingelagertem Kohlenstoff und Stickstoff ableiten. Die zeigten keine auffälligen Unterschiede zwischen den Geschlechtern.

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Sodass wir jetzt einfach den Schluss ziehen müssen: Da muss es irgendetwas geben, was kulturell getrieben auf die Körperhöhe einwirkt und werdende Männer begünstigt und werdende Frauen benachteiligt hat.

SPRECHER

Die plausibelste Erklärung für die Wissenschaftler ist, dass Frauen weiter im Norden offenbar mehr leisten mussten als Männer. 

ZUSP_17

Was wir wissen, ist, dass die Bandkeramiker ihre Frauen von woanders hergeholt haben. Und da kann man dann so sich Szenarien ausspinnen, wie ist das für so eine junge Frau, die verheiratet wird, den Ort wechselt? Das ist eine emotionale Belastung. Gab es schon so etwas wie Teenager-Schwangerschaften? Also eine Kombi aus früher Schwangerschaft, man wächst selber noch und muss aber auch schon arbeiten. 

MUSIK 7

"Stones Throw" - Album: Language Barrier - Komponist: Lusine Icl - Länge: 0'30

SPRECHER

Belegen können die Forschenden um Eva Rosenstock diese Theorie derzeit noch nicht. Es mehren sich aber die Hinweise darauf, dass nicht nur Wohlstand und Umwelt, sondern auch der kulturelle Rahmen eine wichtige Rolle dabei spielt, wie groß wir werden. Und diese Hinweise kommen auch aus anderen Disziplinen.

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Früher fühlte ich mich eigentlich mittel bis eher klein. Und ich erinnere mich noch, als wir in der Schule so aufgereiht wurden im Sportunterricht, dass ich immer am unteren Ende war und wir immer hoffentlich nicht die letzten waren.

SPRECHER

… erzählt Christiane Scheffler. Sie ist Humanbiologin an der Universität Potsdam und Körpergröße ist eines ihrer großen Forschungsgebiete. Zusammen mit Kinder- und Jugendmediziner Michael Hermanussen spürt sie seit Jahrzehnten menschlichem Wachstum nach. Was groß zu sein für Menschen in unserer Gesellschaft bewirkt und bedeutet ist ihr daher vertraut:

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Aber es ist nicht klar gewesen, warum die groß sind. Man ging davon aus, dass sie große Eltern haben, es die Gene sind. Und man ging davon aus, dass die besser ernährt wurden.

SPRECHER

Und dass in der Folge unsere Körpergröße dafür sorgt, wie unsere Gesellschaft reagiert. Ob wir als attraktiv gelten, Erfolg, Ansehen, Einfluss bekommen oder eher nicht. Doch die Forschung von Michael Hermanussen und Christiane Scheffler zeigt: Genetik und Ernährung sind zwar Voraussetzungen, um groß werden zu können – aber sie sind nicht der Auslöser für das Wachstum:

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Was wir meinen ist, dass die Regulation der Körpergröße gesellschaftlich und sozial bedingt ist. Sicherlich haben Sie einen gewissen genetischen Rahmen, wie groß sie werden können. Der ist aber nicht so unterschiedlich in den einzelnen Bevölkerungen, wie wir vermuten könnten. Und wenn sie nicht ihr ganzes Leben lang extrem hungern, ist die Ernährung mehr oder weniger marginal, dass sie einen Einfluss auf die Körperhöhe hat.

SPRECHER

Soziale Interaktion mit unserer gesellschaftlichen Umwelt als Schlüssel zu unserer Körpergröße – dieses anfängliche Gedankenexperiment sorgte in der Fachwelt zuerst für Aufregung. Nach über 20 Jahren Forschung dazu und mit rund 80.000 untersuchten Individuen ist das mittlerweile anders:

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Unsere Idee, die setzt sich so langsam durch. Manche belächeln uns. Es kommt so langsam durch.

SPRECHER

Mit einem Sachbuch wollen sie ihre Erkenntnisse künftig auch einem breiteren Publikum zugänglich machen. 

MUSIK 8

"Minamisoma" - Album: Grüsse Aus Fukushima (Original Score) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'33

SPRECHER

Die Kernaussage: Größe ist ein biologisches Signal. Und das müssen wir verstehen, damit wir unser menschliches Miteinander besser verstehen:

ZUSP_22

Dass Körperhöhe ein Signal ist, sehen Sie an jeder Frau, die sich Hackenschuhe anzieht. Das sehen Sie an jedem König, der eine Krone aufsetzt. Immer ein Stückchen größer, immer ein Stückchen größer. 

SPRECHER

Über dieses Signal kommunizieren wir und formen unsere sozialen Strukturen und Hierarchien.  

ZUSP_23

Sie können das signalisieren, indem Sie sprechen und sagen: Ich bin der Chef. Aber eine einfache Signalgebung ist die Körperhöhe als ein Signal, ich bin größer. Und weil ich größer bin, habe ich mehr zu sagen. 

SPRECHER

Ein Muster, das aus Sicht der Wissenschaftler tief in uns verwurzelt ist. Ein Stück Evolution, das wir mit vielen anderen Tierarten teilen. 

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Und dieses Muster ist auch an bestimmte hormonelle Signale gebunden. Wir wissen von Primaten-Untersuchungen, dass die Organismen, die diesen dominanten Status erreichen und auch größer als Signal haben, höhere Insulin like growth Faktoren haben, also IGF-Faktoren haben. Und in dem Moment, wo sie die Position verlassen, schrumpfen sie nicht, aber das IGF-Level geht runter.

SPRECHER

Die Wachstumshormone wirken nicht weiter. Anders ausgedrückt: Es ist die Hoffnung auf Dominanz, die zu größerer Körperhöhe führt. Und das passiert in der Kindheit und vor allem der Jugend, also der Zeit, in der wir noch wachsen.

ZUSP_25

In dieser Zeit nehme ich schon sehr wohl wahr, wo potenziell meine zukünftige Position sein könnte. Wenn Sie in der unteren sozialen Schicht sind und Sie haben keine Chance auf soziale Mobilität, dann nehmen Sie natürlich auch als Jugendlicher wahr, dass Sie keine Chance auf soziale Mobilität haben und nischen sich da ein. 

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Und wenn die jungen Leute merken, dass sie eine goldene Zukunft haben, dann wachsen sie besser.

SPRECHER

… sagt Michael Hermanussen. Übertragen auf die Gesellschaft würde das auch erklären, was wir zuvor als säkulare Akzeleration kennengelernt haben. Nur dass die Menschen nicht während einer Glanzzeit wachsen, sondern um und kurz nach einem Tiefpunkt:

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Wir sehen, dass Menschen in einem Land immer dann wachsen, wenn die soziale Ordnung zusammenbricht. Die Deutschen haben einen unglaublichen Wachstumsschub gegen Ende des Ersten Weltkriegs in der Mitte der 20er-Jahre. Dasselbe ist noch mal nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir haben einen massiven säkularen Trend nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Also zu einer Zeit, als es den Leuten wirklich ganz dreckig ging im Land. Aber die Jugendlichen das Gefühl hatten, jetzt geht's aber los. Jetzt kann man was machen. 

SPRECHER

Mit Ökonomie und Ernährung habe das aber nichts zu tun, so Hermanussen. Gleiches zeigen Christiane Scheffler zufolge auch die Daten zu den Niederlanden:

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Die Holländer, wenn man ein bisschen die Geschichte sich anguckt, haben die zwar bis heute noch eine Monarchie. Aber sie haben eine konstitutionelle Monarchie. Dort war eine Demokratisierung, und dann fingen die Leute an zu wachsen.

Musik 9

"Forest Of Fairytales" - Komponist und Ausführender: Lauschgold - Länge: 0'47

SPRECHER

Tatsache ist, dass in Europa inzwischen immer mehr Menschen 1,90 Meter und größer werden. Immer mehr also die Grenze dessen erreichen, was unsere Biologie hergibt und damit gesund möglich ist. Doch das sei eine Ausnahmesituation, so Michael Hermanussen, denn: 

Historisch betrachtet war die Aussicht sozial aufzusteigen nie größer. Gleichzeitig hatten wir mit einer derart globalisierten Welt auch noch nie so viele, mit denen wir konkurrieren. 

Die spannende Frage ist nun: Was bedeutet das alles? Was sagt uns dann Körpergröße überhaupt? Körpergröße muss differenziert gesehen werden, findet Christiane Scheffler:

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Erstmal würde ich sagen, ist sie mit Sicherheit kein Indikator über den Wohlstand per se einer Gesellschaft. Zweitens ist sie kein Indikator für die individuelle Ernährungssituation. 

SPRECHER

Und auch Soziologe Gert Stulp schränkt ein:

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All of that might lead you to conclude that height is very important in contemporary society. And maybe it is. But we also should not overstate this.

VOICEOVER-männlich

Unsere Gesellschaft lässt uns vielleicht glauben, Körpergröße sei sehr wichtig. Aber wir sollten sie auch nicht überbewerten.

SPRECHER

Alle Studien und Statistiken darüber, wie sich unsere Körpergröße gesellschaftlich auswirkt – Erfolg, Ansehen, Sexappeal – haben in seinen Augen einen gravierenden Haken: Sie geben nur Tendenzen wieder. Tendenzen, die sich durch beständiges Wiederholen ihrer Aussage verstärken können, wie selbst erfüllende Prophezeiungen. Tendenzen, über die wir aber im Zweifel erhaben sind, weil wir sie mit unserer freien Entscheidung selbst beeinflussen. 

Beispiel Schönheitsideal: Solange wir festhalten an der Idee, dass der Mann größer zu sein hat als seine Partnerin, solange stützen wir auch einen Trend dahin, glaubt Eva Rosenstock. 

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Wir könnten uns trennen von dieser Idee, dass der Mann 10 Zentimeter größer sein muss als seine Partnerin. Dass man sich selber auf die Schliche kommt. 

SPRECHER

Der mögliche Lösungsansatz klingt bestechend einfach: Sich bewusst zu machen, was es mit unserer Körpergröße auf sich hat oder eben auch nicht – und so aus dem Kreislauf auszubrechen. Diese Vorstellung macht Eva Rosenstock zumindest sehr neugierig:

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Dass jetzt seit etlichen Jahrzehnten Mädchen einen Wertschätzungsboom erleben, die Girls Days und all diese Sachen. Ich wäre echt neugierig zu sehen, ob das auf Gesellschaftsebene gesehen dann auch irgendwann in der Körpergröße Früchte trägt.

Musik 10

"Minamisoma" - Album: Grüsse Aus Fukushima (Original Score) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'37

SPRECHER

Abgesehen davon bleibt uns wohl auch nicht viel anderes übrig, als kraft unserer Vernunft den Größenwahn zu durchbrechen. So urteilen jedenfalls Michael Hermanussen und Christiane Scheffler. Unsere Körpergröße ist ein Signal, mit dem uns unsere Biologie ausgestattet hat. Ein evolutionäres Überbleibsel, wenn wir so wollen. Groß oder klein zu sein hat demnach an sich keine Bedeutung.