radioWissen - Bayern 2   /     Zeitzeugen - Wertvolle Erinnerungen mit TĂŒcken

Description

Zeitzeugen machen Geschichte hautnah erfahrbar. Ihre Erlebnisse machen Opfer - etwa der NS-Diktatur - zur unangreifbaren moralischen AutoritĂ€t. Doch das vorgeblich so authentischen Erinnern durch Zeitzeugen hat durchaus TĂŒcken. Von Lukas Grasberger

Subtitle
Duration
00:22:42
Publishing date
2024-07-24 03:00
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/zeitzeugen-wertvolle-erinnerungen-mit-tuecken/2095937
Contributors
  Lukas Grasberger
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2095937/c/feed/zeitzeugen-wertvolle-erinnerungen-mit-tuecken.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Zeitzeugen machen Geschichte hautnah erfahrbar. Ihre Erlebnisse machen Opfer - etwa der NS-Diktatur - zur unangreifbaren moralischen AutoritĂ€t. Doch das vorgeblich so authentischen Erinnern durch Zeitzeugen hat durchaus TĂŒcken. Von Lukas Grasberger

Credits
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Benedigt Schregle
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Nicole Ruchlak

Im Interview:
Prof. Dorothee Wierling, Forschungsstelle fĂŒr Zeitgeschichte, Hamburg;
Prof. Martin Sabrow, Senior Fellow Zentrum fĂŒr Zeithistorische Forschung, Potsdam;
Prof. Bernd Schnettler, Lehrstuhl fĂŒr Kultur und Religionssoziologie, Uni Bayreuth;
Prof. Anja Ballis, Projekt LediZ – Lernen mit digitalen Zuegnissen, LMU MĂŒnchen

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Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

O-Ton 1 Ceija Stojka, EndrĂŒcke von der Ankunft im KZ Auschwitz

„Es ist finster. Man spĂŒrt den Gatsch, die NĂ€sse unter den FĂŒĂŸen. Man spĂŒrt den Geruch der Verwesung, der im Lager herrscht. Man spĂŒrt die KĂ€lte, die Feuchtigkeit. Noch sieht man nichts
. man hört nur die Schritte der Menge, die schleichend dahinschleicht. Und die Hunde. Und das Gejaule
.und die SS, die immer brĂŒllt: „Weitergehen, Marsch! Marsch! In Bewegung setzen.“ 

MUSIK:  Dark operation 0‘42

ErzÀhlerin

EindrĂŒcklich erzĂ€hlt Ceija Stojka in einem Fernsehinterview von ihrer Ankunft im Konzentrationslager Auschwitz. Die Schilderungen der Romni, die als Kind ins Lager kam, machen das Grauen des KZ fĂŒr jeden hautnah erlebbar. Abzurufen ist das Interview mit Ceija Stojka ĂŒber das Zeitzeugenportal im Internet. Es ist eines von zahlreichen Projekten, die die Erinnerungen der letzten Überlebenden des Holocaust fĂŒr die Nachgeborenen bewahren möchten. 

Musiktrenner

Geschichte bekommt dank Zeitzeugen ein Gesicht – und eine Stimme. Der Zeitzeuge nicht nur als Augenzeuge, sondern als Mensch, als personalisierte Geschichte, die berĂŒhrt. Die unmittelbare Erfahrung von Menschen, die „dabeigewesen sind“ und davon erzĂ€hlen, machen es leichter, historische ZusammenhĂ€nge zu verstehen – und soweit wie möglich nachzuvollziehen. Schilderungen wie die der KZ-Überlebenden Stojka zĂ€hlen dabei zu den eindrĂŒcklichsten. Doch Zeitzeugen decken mittlerweile ein breites Spektrum ab. Wenn ein Fluchthelfer davon berichtet, wie er DDR-BĂŒrger in waghalsigen Manövern ĂŒber die innerdeutsche Grenze bringt; wenn ein HIV-Infizierter davon erzĂ€hlt, wie ihn die Aids-Epidemie der 1980er-Jahre nach und nach aller Freunde beraubt hat: Dann sind diese Personen - die ĂŒber die Zeitgeschichte, also die "Epoche der Mitlebenden“, Auskunft geben - der Definition nach Zeitzeugen. 

MUSIK: Nocturnal research 0‘41

ErzÀhlerin

Dass Zeitzeugen in großer Zahl öffentlich auftreten – und damit die Wahrnehmung von Geschichte prĂ€gen: Das ist der Berliner Historikerin Dorothee Wierling zufolge ein recht neues PhĂ€nomen. Es begann damit, dass die professionelle Geschichtswissenschaft ab den 1930er-Jahren den sogenannten „einfachen Menschen“ breiten Raum einrĂ€umte. Mit der oral history - ĂŒbersetzt, der „mĂŒndlichen Geschichte“ -, die solche Zeitzeugen einfach sprechen lĂ€sst: möglichst unbeeinflusst vom interviewenden Profi-Historiker.

O-Ton 1 Prof. Dorothee Wierling, Forschungsstelle fĂŒr Zeitgeschichte, Hamburg

„Wir sitzen mit dem am KĂŒchentisch, und lassen uns die ganze Lebensgeschichte erzĂ€hlen. (
) Wir als oral historian sitzen gegenĂŒber und nehmen alles mit Interesse und Respekt auf. Das heißt, es entsteht eine AtmosphĂ€re des Vertrauens und der Offenheit, wo wir mehr Zeit haben - und mehr Raum lassen. 

ErzÀhlerin

Die oral history will mit Hilfe von Zeitzeugen die „ganze Geschichte“ erzĂ€hlen. Menschen aus den unterschiedlichsten Schichten und Milieus sollten ihre Erlebnisse, Sichtweisen und Lebenswelten darstellen können – und taten dies auch. So gaben in den USA der 1930er-Jahre die letzten Zeugen von Sklaverei und BĂŒrgerkrieg ausfĂŒhrlich in Interviews Auskunft; im Ruhrgebiet erzĂ€hlten Bergleute Forschern im O-Ton ihre Lebens-und Arbeits-Geschichte; und fĂŒr ein Oral-History-Filmprojekt in der Schweiz schilderten 80 Zeitzeugen ihrer Erfahrungen aus erster Hand in der Entwicklungshilfe. Das Zusammentragen von Zeitzeugen-Berichten sollte der „offiziellen Geschichte“ eine Art „Geschichtsschreibung von unten“ entgegenstellen.

MUSIK: Still waiting 0‘35

ErzÀhlerin

Zeitzeugen, sagt der Potsdamer Historiker Professor Martin Sabrow, brachten so schließlich auch eine andere Perspektive in die damalige Wahrnehmung des Nationalsozialismus in Deutschland - in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die BewĂ€ltigung der zurĂŒckliegenden NS-Zeit vor allem darin bestand, die Deutschen als Opfer von Hitler und seiner Vebrecher-Elite zu sehen: Nicht „die Deutschen als Opfer“, sondern die „Opfer der Deutschen“ rĂŒckten fortan in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses.

O-Ton 2 Prof. Martin Sabrow, Senior Fellow Zentrum fĂŒr Zeithistorische Forschung Potsdam

„FĂŒr diese GegenerzĂ€hlung war der Zeitzeuge dann die entscheidende Figur: Er berichtete nicht von hohen Haupt- und Staatsaktionen und er berichtete auch nicht aus der Sicht der MitlĂ€ufer der TĂ€ter, der der deutschen, der dreißiger, vierziger Jahre - sondern ihrer Opfer.“

ErzÀhlerin

In Deutschland lernte so eine breite Öffentlichkeit den „Zeitzeugen“ in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kennen, erklĂ€rt die Berliner Geschichtsprofessorin Dorothee Wierling.  

O-Ton 3 Wierling

„Als MassenphĂ€nomen, denke ich, verdankt sich der Zeitzeuge tatsĂ€chlich den schrecklichen Kriegen des Zwanzigsten Jahrhunderts in Europa und hier vor allem auch dem Zweiten Weltkrieg und den Erfahrungen von Tod und Völkermord.“

MUSIK: Secret proofs 0‘51

ErzÀhlerin

SpektakulĂ€r in Erscheinung trat dieser spezielle Zeitzeuge erstmals 1961: Beim Prozess gegen einen den Hauptorganisatoren des Holocaust, Adolf Eichmann.  Im Jerusalemer Gericht ließ Generalstaatsanwalt Gideon Hausner ĂŒber einhundert Zeugen auftreten. Die große Zahl der Zeuginnen und Zeugen diente weniger dazu, Eichmann Völkermord-Verbrechen einzeln nachzuweisen – dafĂŒr gab es bereits ausreichend stichhaltige Belege. Nein, diese Zeitzeugen dienten vielmehr dazu, das Unfassbare begreifbar zu machen: Gleichsam als Personifizierung des Grauens. Staatsanwalt Hausner sah darin den einzigen Weg, „die Katastrophe ĂŒberhaupt zu konkretisieren“. Dadurch, so viele ĂŒberlebende Zeugen aufzurufen, wie es der Gerichts-Prozess ĂŒberhaupt zuließ - und jeden zu bitten, ein winziges BruchstĂŒck dessen zu erzĂ€hlen, was er gesehen und erlebt hatte. 

O-Ton 4 Sabrow

„So entstand im Jerusalem Gerichtssaal ein dichtes Bild von im Schrecken dieser Vierziger-Jahre der deutschen Konzentrationslager - und damit war Gideon Hausner sozusagen der Erstproduzent dieser Zeitzeugenbewegung, wie wir sie bis heute noch kennen.“

ErzÀhlerin

Die besondere deutsche Geschichte von Nazi-Diktatur, Krieg und Völkermord brachte Martin Sabrow zufolge eine spezielle Form des Zeitzeugens hervor. Er unterscheidet sich demnach vom Tatzeugen, vom Augenzeugen - oder von historischen Fachexperten, die lediglich ĂŒber Fakten Auskunft geben. Dieser Zeitzeuge ist laut dem Professor Martin Sabrow eine Figur, mit deren Hilfe man der Vergangenheit unmittelbar als Person begegnet. Sabrow erinnert sich an die ersten GesprĂ€che von SchĂŒlern mit solchen Zeitzeugen. Damals, Anfang der 1980er-Jahre, war der Geschichtsprofessor noch Studienrat an einer Berliner Schule. Der junge Lehrer Sabrow hatte Isaak Behar, einen Zeitzeugen der Judenverfolgung in Berlin, in sein Klassenzimmer eingeladen.

O-Ton 5 Sabrow

„Es war noch nicht eingeĂŒbt, und schon gar keine Routine...Und plötzlich stand ein Ă€lterer Mann mit freundlichem LĂ€cheln, aber auch etwas melancholischen GesichtszĂŒgen vor der Klasse, die vielleicht auch erst mal gar nicht wusste: Was will der hier eigentlich? (...)  Und dann erzĂ€hlte Herr Behar, wie er dort von der Schule kam, den Savignyplatz entlang ging und in dann in die Grolmannstraße da einbog. Und er sah schon die Gardinen am Fenster, allerdings brannten sie. Und stĂŒrmt in das Haus, das waren nĂ€mlich die Gardinen der Wohnung seiner Eltern. Die Eltern waren weg, er hat sie nie wiedergesehen. Sie sind ermordet worden. Und plötzlich waren meine SchĂŒlerinnen und SchĂŒler, die zuerst so halb zugehört hatten... plötzlich waren sie in den Bann gezogen. Da sitzt und steht ein Mann vor uns, leibhaftig Fleisch und Blut, und er hat etwas erlebt auf demselben Platz, den wir auch alle kennen, und es ist so radikal anders, wie es kein Buch dastellen kann.“

MUSIK:  Thinking of better times 0‘17

ErzÀhlerin

Der Zeitzeuge als personalisierte Geschichte, die berĂŒhrt – und sich berĂŒhren lĂ€sst: Auch heute wollten SchĂŒler Überlebende des Holocaust nicht selten anfassen, sagt Dorothee Wierling. 

O-Ton 6 Wierling

 „Das hat was ganz Körperliches...Das hat irgendwie was...also was Religiöses, fast, ja. Und das GefĂŒhl ist sehr stark. (
) Es geht wirklich dann mehr um die Aura. Und diese Aura des Überlebens ist sehr stark.“

ErzÀhlerin

Solche Zeitzeugen, ergĂ€nzt Wierlings Kollege Martin Sabrow, umwehe die Aura der AuthentizitĂ€t. Sie wirkten nicht allein durch den Inhalt dessen, was sie erzĂ€hlen. Sie seien - im wahrsten Sinne des Wortes - die „Verkörperung“ eines historischen Dramas. 

MUSIK:  Memory activity 035

Doch so eindrucksvoll, so wertvoll Zeitzeugen in ihrer Wirkung fĂŒr die Erinnerungs- und Gedenkkultur auch sein mögen: Ihr Auftreten hat aus der nĂŒchternen Perspektive der Wissenschaft betrachtet auch Schattenseiten. Der Bayreuther Soziologe Bernd Schnettler warnt davor, einzelne Aussagen von Zeitzeugen vorschnell fĂŒr „bare MĂŒnze“ zu nehmen. Denn die Aura des Authentischen, des Einzigartigen, die Glaubhaftigkeit: Dies alles entstehe nicht allein in und aus der Persönlichkeit des Zeitzeugen heraus.

O-Ton 7 Prof. Bernd Schnettler, Kultur- und Religionssoziologe, Uni Bayreuth

„Das, was als AuthentizitĂ€t oft bezeichnet wird - also dieser Eindruck, wirklich ĂŒberzeugt davon zu sein, was mein GegenĂŒber sagt - das ergibt sich ja eben aus dieser Begegnungssituation
®

„also deswegen ist auch die Glaubhaftigkeit etwas, was natĂŒrlich an ihnen liegt, was aber auch daran liegt, ob nun eine ausreichende Zahl von Menschen ihnen weiter folgen wird.“

ErzÀhlerin

Der Zeitzeuge wirkt demnach also durch und mit einem Publikum, das ihm folgen – und das ihm glauben will. Die Historikerin Dorothee Wierling berichtet indes von ihrem Unbehagen bei öffentlichen Auftritten von Zeitzeugen: Denn diese erzĂ€hlten Geschehnisse nicht nur aus ihrer subjektiven Sichtweise. Manche Zeitzeugin oder mancher Zeitzeuge erinnere sich auch falsch, oder versah seine Erinnerung mit einer fragwĂŒrdigen Deutung. So etwa bei einer Veranstaltung mit einer Oppositionellen, die in der DDR wegen ihrer politischen Haltung in Haft saß – und diese vor Publikum unwidersprochen als „Konzentrationslager“ bezeichnete. Auf diesen Fehler hinzuweisen – vor dem unbestreitbaren Leiden der Frau schien dies keinen Sinn zu haben. 

O-Ton 8 Wierling

„Jemand, der auf diese radikale Weise Opfer geworden ist, den kann man zum Beispiel nicht unterbrechen. Den kann man auch nicht kritisieren. Also das ist irgendwie gegen unser GefĂŒhl, und es ist auch ungehörig. Es bedeutet aber auch, dass die Geschichte auch in anderer Hinsicht nicht hinterfragt wird – ja, dass man zum Beispiel nicht kritisieren kann, dass jemand einen bestimmten Begriff benutzt. Oder dass man nicht nachfragen kann, ob etwas wirklich so gewesen sei oder so. Das ist alles ungehörig. Und das meine ich jetzt nicht nur ironisch: Das ist wirklich unangemessen, weil die Leute ja mit ihrem Leid irgendwie unangreifbar geworden sind.“

ZSP 2 Enric Marco, Rede vor spanischem Parlament, span., 

dt. OV

Sprecher Voice Over

„Wir mussten uns splitternackt ausziehen, sie haben uns aller Habseligkeiten beraubt. Aber nicht nur aus Habgier, sondern, damit wir völlig nackt und schutzlos dastanden. Wir mussten uns ausziehen – und dann bissen uns ihre Hunde
“

MUSIK:  Obscure intrique 0‘35

ErzÀhlerin

Der Katalane Enric Marco berichtete 2005 beim Holocaust-Gedenktag im spanischen Parlament von den GrĂ€ueln in einem deutschen KZ. Ein Auftritt, der etliche Abgeordnete zu TrĂ€nen rĂŒhrte. Das Problem: Die Erlebnisse Enric Marcos – sie waren frei erfunden. Der Betrug konnte nur funktionieren, da die Geschichte Marcos allen Erwartungen gerecht wurde  

O-Ton 9 Schnettler

„Wir haben ja ein ganzes institutionelles GefĂŒge, in dem diese Erinnerungen produziert, hergestellt und verbreitet werden.

ErzÀhlerin

...sagt der Soziologe Bernd Schnettler. Die Erinnerungen der Zeitzeugen seien – selbst wenn sie das „Siegel“ der Echtheit tragen – zuweilen weniger individuell, als es auf den ersten Blick scheinen mag, betont der Soziologie-Professor der Uni Bayreuth. Denn seine Wirkung gewinne der Bericht Enric Marcos nicht, weil der Zuschauer oder Zuhörer ihm eine Hundephobie zurechne. 

MUSIK: Terrible truth 0‘39

Sie wirke, weil wir, das Publikum des Zeitzeugen,  die Hunde als Bestien der SS an der Selektionsrampe im KZ aktiv interpretieren – und damit eine Erinnerung reproduzieren, die schon gesellschaftlich verankert ist. Der Zuhörer setzt die Szene mit dem Hund also in einen historischen Zusammenhang, den er bereits verfĂŒgbar hat. Zuweilen, sagt Bernd Schnettler, sei es sogar so...

O-Ton 10 Schnettler

„...dass nĂ€mlich diese Erfahrungsberichte komplett sozusagen durch die kulturellen Rahmen erzeugt werden.“

ErzÀhlerin

Es sei auf jeden Fall ein Wechselspiel mit seinem Publikum, sagt der Soziologe, aus dem der Zeitzeuge seine Wirkungsmacht gewinne.Erwartungen, denen mancher Zeitzeuge gern nachkomme. 

O-Ton 11 Wierling

„Das ist eben auch fĂŒr den einzelnen dann oft sehr reizvoll, ja, diese, also diese Zustimmung zu bekommen ...dass dieser öffentliche Zeitzeuge eigentlich so stark eingebunden ist in eine ErzĂ€hlung, die er kennt und von der weiß, dass er sie liefern soll und das wird ja auch belohnt, ja, wenn er sie so liefert. Und insofern bekommt er immer wieder die BestĂ€tigung, daß das die Geschichte ist, die alle Leute hören wollen. Und das ist ja auch ne BestĂ€tigung, nicht nur, dass er es richtig gemacht hat, sondern es ist ja auch eine BestĂ€tigung, die er als Person bekommt.“     

MUSIK: Undercover investigations red. 0‘26

Dass Zeitzeugen auch dazu dienen können, eine vorgefertigte Geschichte zu bestÀtigen - oder gar nur mehr als Statisten und Stichwortgeber fungieren: Dies beobachtet Dorothee Wierling vor allem bei den allgemein wohl bekanntesten Zeitzeugen: Den Protagonisten des so genannten Geschichtsfernsehens..

O-Ton 13 Wierling

„Hier sind die Zeitzeugen sozusagen öffentlich aufgetreten, und zwar in einer Rolle von hochkontrollierten Sprechern. (...) und dieser Zeitzeuge, das ist wirklich eine Figur,  die ĂŒber das Fernsehen eigentlich erst ihre Rolle gefunden hat, und zwar in den neunzehnhundertachtziger Jahren.“

ErzÀhlerin

Die Zeitzeugen sind mediale Quotenrenner, aber den Erkenntnisgewinn so mancher Aussage hĂ€lt der Potsdamer Professor Martin Sabrow fĂŒr zweifelhaft.

O-Ton 14 Sabrow

„Ist es eine verdichtete ErzĂ€hlung, die womöglich auch so geschnitten ist, daß sie den Erwartungen des Publikums entspricht? 

ErzÀhlerin

Die immense öffentliche Aufmerksamkeit stehe hier im Gegensatz zum geringen wissenschaftlichen Erkenntniswert. Zeitzeugen-Aussagen solcher Art mĂŒssten dringend von der Geschichtswissenschaft kritisch eingeordnet werden, sagt Professor Martin Sabrow.

MUSIK: Pensive pondering 0‘45

Medial omniprĂ€sente Zeitzeugen, die ihr Publikum vor allem durch Affekt und Emotion „mitnehmen“: Die könnten zwar vielleicht dabei helfen, eine Erinnerungskultur zu etablieren und zu bestĂ€rken, sagt die Berliner Historikerin Dorothee Wierling. FĂŒr eine Geschichtswissenschaft aber, seien die ungeprĂŒften Aussagen solcher Zeitzeugen weitgehend wertlos. Wie es anders geht: Das will Wierling mit ausfĂŒhrlichen wissenschaftlichen Interviews nach Methode der oral history zeigen.

O-Ton 15 Wierling

„Wir unterbrechen im ersten Durchgang ĂŒberhaupt nicht und lassen allen Assoziationen freien Lauf. Und insofern sind es ganz andere Texte als die Texte, die wir zum Beispiel aus dem Geschichtsfernsehen kennen - die ja viel kĂŒrzer sind und in der Regel auch viel stĂ€rker fokussiert sind auf die BestĂ€tigung eines ganz bestimmten Ereignisses. Es kommt eben auch vor bei den Zeitzeugen, dass die sich falsch erinnern - oder dass sie etwas fĂŒr wahr halten, von dem die Geschichtswissenschaft aber weiß, dass es so nicht passiert ist. Und da kann man dann zum Beispiel, wenn man Tonaufnahmen hat, oder wenn man Videoaufnahmen hat, dann kann man auch erklĂ€ren, wie es dazu kommt, dass jemand sich falsch erinnert, das ist ja sozusagen keine böse Absicht, das ist ja Teil der GedĂ€chtnisentwicklung, dass Erinnerungen sich verĂ€ndern, dass sie sich verĂ€ndern unter dem Einfluss öffentlicher Debatten....  Also das ist dann fĂŒr uns guter Ansatz fĂŒr eine komplexe Deutung solcher Geschichtserfahrungen, die da erzĂ€hlt werden.“

ErzÀhlerin

Die Zeitgeschichts-Professorin Dorothee Wierling setzt sich dafĂŒr ein, Lebensgeschichten auf diese Weise festzuhalten, sie zu sammeln - und systematisch auszuwerten. Denn fĂŒr die Geschichtsschreibung waren und sind die Zeugen der jeweiligen Zeit – so bruchstĂŒckhaft und widersprĂŒchlich ihre ErzĂ€hlungen auch sein mögen - stets unentbehrliche Quellen: FĂŒr Forscher – wie auch fĂŒr Lehrende, die Geschichte dank der AuskĂŒnfte von Zeitzeugen anschaulich und konkret vermitteln können.  

MUSIK: Bleak and droughty 0‘22

Was aber, wenn die letzten Zeitzeugen einer Epoche sterben?

Musiktrenner, kurz

Damit, wie sich die ErzĂ€hlungen und Erfahrungen von Holocaust-Überlebenden bewahren und weitergeben lassen, beschĂ€ftigt sich ein Projekt an der LMU MĂŒnchen: „LediZ – Lernen mit digitalen Zeitzeugen“.

O-Ton 16 Prof. Anja Ballis, Professorin fĂŒr Literaturwissenschaft und Ko-Leiterin Projekt „LediZ“, Teil 1

„Uns geht es darum, herauszufinden, inwiefern tatsĂ€chlich diese digitalen Zeugnisse helfen, die Geschichten weiter zu erzĂ€hlen.

ErzÀhlerin

...erklÀrt die Leiterin des digitalen Zeitzeugen-Projekts, Anja Ballis

O-Ton 16 Ballis Teil 2

Und der erste Teil von LediZ besteht eben in interaktiven digitalen Zeugnissen. Und da haben wir eigentlich relativ einfach nachgebaut, ZeitzeugInnen-GesprĂ€che
.dass eben der oder die Zeitzeugin ihre Geschichte erzĂ€hlt. Und im Anschluss eben einen Frage-und-Antwort-Teil, und das haben wir praktisch ins Digitale verlegt.“

MUSIK: Network access 0‘22

ErzÀhlerin

Die KZ-Überlebende Eva Umlauf beantwortete fĂŒr LediZ 1000 Fragen zu ihrer Lebensgeschichte, ihre Antworten wurden mit einer Spezialkamera aufgenommen. Stellt nun ein SchĂŒler eine dazu passende Frage, dann antwortet die Zeitzeugin - in Form einer wirklichkeitsnahen Videosequenz. 

ZSP Clip LediZ

-„Konnten Sie den TĂ€tern verzeihen?“

-“Das ist auch oft so eine Frage, die ich bekomme: So eine Absolution zu erteilen. Ja, also
.ich hab nicht verziehen!“ 

ErzÀhlerin 

In den nĂ€chsten Stufen von LediZ sollen die meist jugendlichen Nutzerinnen und Nutzer nicht nur Fragen stellen, sondern mit Computer-Brillen oder als Avatare – also selbst als kĂŒnstliche Alter Egos - in digitale Welten eintauchen. 

O-Ton 17 Ballis

„Und da geht es jetzt eben darum, dass sie mit Hilfe einer VR-Brille in einen Raum eintreten und der Zeitzeugin gegenĂŒbertreten können, die ihnen dann ihre Geschichte erzĂ€hlt. Und diese RĂ€umlichkeiten, die wir hier entwickelt haben, bieten ihnen auch die Möglichkeit, in begrenztem Maße eben zu interagieren: Sich ein Buch nĂ€her anzuschauen, Bilder also ein virtuelles Buch anzuschauen, Fotografien anzuschauen und die dort integrierten Medien aufzunehmen.(
)

ErzÀhlerin. 

Das interaktive Format ermögliche es SchĂŒlern zumindest, ohne Scheu Fragen zu stellen - zu Themen, bei denen sie BerĂŒhrungspunkte mit den Zeitzeugen vermuteten. Im besten Fall könnten die Jugendlichen dann an die Erfahrungen der Zeitzeugen anknĂŒpfen, eine gemeinsame Ebene entdecken. 

Der Blick durch die 3D-Brille, das hat Anja Ballis beobachtet, ermögliche ein Eintauchen in die Lebenswelt der Zeitzeugen, schaffe besondere Momente der NÀhe. 

Human afflication 0‘33

So könnten SchĂŒlerinnen und SchĂŒler Geschichte ganz persönlich - mit allen Emotionen - erleben.

O-Ton 18 Ballis

„Also, es löst viel in ihnen aus
Und wir stellen des öfteren fest, wenn sie die Brillen abnehmen: Es wird geweint, die Kinder, die Jugendlichen werden angerĂŒhrt in ganz unterschiedlicher IntensitĂ€t, von der Geschichte. Also wir haben den Eindruck: Es ist sehr intensiv.“Â