radioWissen - Bayern 2   /     Der innere Kritiker - Wie man ihn verstehen und besänftigen kann

Description

Ob man von Über-Ich, Gewissen oder Leistungsdenken spricht: Kritische innere Stimmen gehören zur psychischen Ausstattung des Menschen. Ihr Spektrum reicht von fordernd bis fertig machend. Umso wichtiger ist es, den abwertenden innerer Kritiker von anspornenden, motivierenden seelischen Aspekten zu unterscheiden. Von Justina Schreiber

Subtitle
Duration
00:22:23
Publishing date
2024-07-30 03:00
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/der-innere-kritiker-wie-man-ihn-verstehen-und-besaenftigen-kann/2096121
Contributors
  Justina Schreiber
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2096121/c/feed/der-innere-kritiker-wie-man-ihn-verstehen-und-besaenftigen-kann.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Ob man von Über-Ich, Gewissen oder Leistungsdenken spricht: Kritische innere Stimmen gehören zur psychischen Ausstattung des Menschen. Ihr Spektrum reicht von fordernd bis fertig machend. Umso wichtiger ist es, den abwertenden innerer Kritiker von anspornenden, motivierenden seelischen Aspekten zu unterscheiden. Von Justina Schreiber

Credits
Autorin dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Andreas Neumann
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Susanne Poelchau

Im Interview:
Dr. Kathryn Eichhorn, Psychoanalytikerin und Dozentin an der Bundeswehrhochschule München,
Dr. Eckhard Roediger, Psychiater, Psychotherapeut und Leiter des Institutes für Schema-Therapie in Frankfurt / Main

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Linktipps:

Schematherapie von Eckhard Roediger HIER

Dr. Kathryn Eichhorn - Institut für Psychologie (unibw.de) HIER

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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
STIMME:

Jetzt musst du dich aber mal richtig anstrengen. Sonst wird das wieder nichts.

SPRECHERIN:

Diese Stimme klingt unangenehm. 

STIMME:

Was redest du schon wieder für ein Zeugs! 

SPRECHERIN:

Wenn reale Personen so zu einem sprechen, kann man sich wehren und sagen: Lass mich in Ruhe! Wenn die Stänkerei aber im eigenen Kopf abläuft, dann wird es mit der Abwehr schon schwieriger. 

STIMME:

Du kriegst eh nichts wirklich gut hin. Das war jetzt sicher falsch! Wie blöd kann man eigentlich sein! So unsensibel und undifferenziert! Warum lässt du es nicht gleich bleiben? 

STIMME MIT SPR.‘IN KREUZEN

MUSIK:  Hypothesize 0‘30

SPRECHERIN:

Was ist das für eine innere Stimme? Oder sind es nicht sogar mehrere Stimmen, die einem den Tag und manchmal auch das Leben vermiesen können, je nachdem, wie penetrant sie sich zu Wort melden? Es handelt sich nicht wirklich um eine Stimme, sondern eher um folgenschwere Gedanken, auf jeden Fall ist es kein Gefühl, erklärt die Psychoanalytikerin Dr. Kathryn (=Kathrin) Eichhorn. 

O-TON 01: (Eichhorn)

„Es ist eine Stimme, die dann Emotionen auslösen kann, die unangenehm sind. Schamgefühle, Schuldgefühle, Ängste.“  

STIMME:

Alle anderen sind besser als du.

MUSIK:  Hectic hiding 0‘35

SPRECHERIN:

Es ist eine Art innerer Kritiker, der selbstverständlich auch weiblich gedacht werden kann. Er sendet Botschaften, die für eine angespannte Stimmung sorgen. Ein bisschen Ehrgeiz muss schon sein. Wir wollen auch gefordert werden. Aber dieser innere Kritiker erzeugt ganz schnell ein ungutes Fahrwasser. Wenn sich Minderwertigkeitsgefühle festsetzen oder das schlechte Gewissen zum Dauerbegleiter wird, dann kann man nämlich nur noch jammern: 

O-TON 02: (Eichhorn)

„Ah, ich bin schuld, ich mache alles falsch. Ich bin eine schlechte Mutter. Ich bin eine schlechte Partnerin. Ich bin eine schlechte Arbeitnehmerin oder oder. Also, das sind auch diese Anteile. Also, es ist nicht nur der Perfektionist oder die Perfektionistin, die sagt: da hättest dir jetzt aber noch mehr Mühe geben können, sondern das ist letztendlich eine Stimme, die uns nicht sehr wohlgesonnen ist.“ 

SPRECHERIN:

Der innere Kritiker kann also ein massives Problem darstellen, eine Bedrohung für das Selbstbewusstsein. Der Psychiater Dr. Eckhard Roediger definiert ihn deshalb auch: 

O-TON 03: (Roediger) 

„Als die Summe negativer Bewertungen oder negativer Gedanken über einen selbst oder auch über die Welt.“

MUSIK:  Data connected 0‘30

STIMME:

Alle werden erkennen, dass du eigentlich eine Hochstaplerin bist. Deshalb hopp hopp an die Arbeit! Bloß nichts schleifen lassen!

O-TON 04: (Eichhorn)

„Es entspricht natürlich auch der Leistungsgesellschaft, in der wir leben. Das hat schon auch einen sozialen und gesellschaftlichen Aspekt, also dieses Immer-Weiter, Immer-Höher, Immer-Mehr. Wie hat eine Patientin gesagt: ah, die Hustle Culture! Also dieses immer machen, machen, machen. Und es reicht irgendwie nie. Man orientiert sich daran: Wo kann ich möglichst viel Geld verdienen und gar nicht: Wo finde ich eine Sinnhaftigkeit? Das hat schon viel damit zu tun.“

SPRECHERIN:

Man will ja vielleicht Karriere machen, auf jeden Fall muss man Geld verdienen, man möchte kein Außenseiter sein. Was den Umgang mit diesem inneren Kritiker nicht leichter macht: in einer Gesellschaft, die Leistung (immer noch) höher bewertet als Nichtstun…

STIMME:

Sonst geht es ja nur noch bergab!

MUSIK: Contrepunkt 0‘25

SPRECHERIN:

Dort, wo Leistungsdenken zählt, in der Schule, der Uni oder im Job, da bekommt der innere Kritiker durch äußere Stimmen ordentlich Rückenwind. In Stresssituationen, vor Prüfungen zum Beispiel, kann dieser mal antreibende, mal niederknüppelnde psychische Aspekt richtig laut werden. Dann übersieht man schnell, dass es eben nur ein innerer „Anteil“ ist, der sich hier aufplustert, sagt Kathryn Eichhorn. 

O-TON 05: (Eichhorn)

„Wenn man sich noch nicht so richtig damit auseinandersetzt: Was ist jetzt eigentlich dieser innere Kritiker? Dann fühlt sich das bei ganz vielen Menschen erst mal so an, dass nur das jetzt „Ich“ bin. Also es gibt jetzt nur das Ganz-Schlechte: „Nie kriege ich was hin. Immer geht alles schief. Niemand mag mich.“ Und wenn man das relativiert, dass man sagt: Ah, da kommt jetzt dieser Anteil, der sieht die Welt so, dann impliziert das ja, dass es auch noch einen anderen Anteil gibt, der dann vielleicht sagt: na ja, also es gibt da schon welche, die dich mögen. Und du kriegst schon auch ganz schön viel hin. Und da gibt es auch noch eine andere Seite. Und damit relativiert sich das erstmal, dass man sagt: Ah, da gibt es verschiedene Facetten. Dann kommt mehr Bewegung in die Psyche mit rein. Und damit kann man dann weiterarbeiten.“

MUSIK:  Meandering 0‘30

SPRECHERIN:

Im Coaching und anderen psychosozialen Beratungssituationen ist es heute üblich, Gefühle und Gedanken, überhaupt das innere Erleben, nach Rollen oder Funktionen zu sortieren. So ist auch der Begriff des „inneren Kindes“ fast schon Allgemeingut geworden. Neben dem inneren Kritiker lassen sich also noch weitere Stimmen, Stimmungen oder Zustände identifizieren, in die man ebenfalls „hineinrutschen“ kann. 

O-TON 06: (Roediger)

„Zum Beispiel den des verlassenen Kindes oder den des ärgerlichen Kindes oder den des Kämpfers, der sich versucht, in der Welt durchzusetzen oder des Unterordnenden, der versucht, es allen recht zu machen. Oder den distanzierten Beschützer, der sich von allen zurückzieht und Situationen ausweicht und gar nichts mehr fühlen will zum Beispiel. Das sind alles Zustände, in denen wir sein können.“

SPRECHERIN:

Der Psychiater Eckhard Roediger leitet das Frankfurter Institut für Schematherapie. Die Schematherapie, eine Weiterentwicklung der kognitiven Verhaltenstherapie, definiert den inneren Kritiker als dysfunktionalen innerpsychischen Zustand. Was die strafenden und abwertenden Gedanken besonders belastend macht: sie laufen absolut automatisch ab. 

STIMME:

Kein Wunder, du bist ja auch ein Trampel.

MUSIK:  Sweet little birdies (reduziert) 0‘25

SPRECHERIN:

Andere Stimmen hört man vielleicht kaum oder unterdrückt sie regelrecht. In manche flüchtet man sich gern. Man kann das innere Konzert mit einem Familienfest vergleichen. Diesen Onkel mag man mehr, jene Tante weniger, und wie heißt nochmal Typ mit dem vorwurfsvollen Gesichtsausdruck, der sich so in den Vordergrund drängt? So erklärt es die Psychoanalytikerin Kathryn Eichhorn ihren Patientinnen, wenn sie sich dem Thema „innerer Kritiker“ zuwenden. 

O-TON 07: (Eichhorn)

„Manchmal finden auch Patienten so eigene Namen dafür. Das finde ich dann fast noch ein bisschen besser. Also, da kommt jetzt das innere kleine Teufelchen wieder oder da kommt dann wieder dieser ganz strenge Anteil in mir, dieser…, also ich hatte mal eine Patientin, die meinte: ja das ist wieder dieser alte, grantige Opa, der dann da zu mir spricht.“

SPRECHERIN:

Durch den sprachlichen Akt des Benennens kann man etwas Abstand zum emotionalen Sumpf oder Chaos gewinnen. Man begrenzt das betreffende Gefühl, macht es handlicher.

O-TON 08: (Eichhorn)

„Es geht ja so, dass Emotionen, egal welche Emotionen, ob es jetzt Selbst-Abwertung ist, ob es Traurigkeit ist, Ängste, dass die deshalb oft so einen hohen Leidensdruck auslösen, weil sie so überflutend wirken. Und dann geht es immer darum: wie kann ich mich distanzieren? Und das ist eine Möglichkeit zu sagen: Ah, ja, da gibt es jetzt diesen Anteil in mir, der meint es gerade gar nicht gut mit mir.“

STIMME:

Aber du bist wirklich eine Versagerin.

MUSIK: Symbiosis 0‘35

SPRECHERIN:

Die Psychoanalytikerin Kathryn Eichhorn berät oft Studierende und jüngere Menschen in Lebenskrisen. Wie soll es weitergehen? Die Bachelorarbeit kann nicht noch weiter aufgeschoben werden, ein Referat muss gehalten werden, aber Stress hält man gar nicht gut aus. Das Gefühl, nichts auf die Reihe zu kriegen, ist auch nicht viel besser. Panikattacken und Erschöpfungszustände können die Folge sein, wenn der innere Kritiker gefühlt ständig Druck macht und nur noch herummäkelt. Ziel einer Therapie ist dann logischerweise:

O-TON 09: (Eichhorn) 

„Wenn wir jetzt in dieser Metapher von unserem Familienfest sind, dass er halt nicht die Party dominiert. Dann ist es immer unangenehm.“

STIMME:

Von nichts kommt nichts. Ohne Fleiß kein Preis.

MUSIK:  Notorious 0‘25

SPRECHERIN:

Wer an Ängsten, Depressionen oder Zwangsstörungen leidet, beugt sich dem Diktat dieser negativen, abwertenden Stimme. Im Extremfall macht der innere Kritiker tatsächlich krank. Oder andersherum formuliert: zu psychischen Erkrankungen gehört eine rigide innere Stimme, die nie zufrieden ist, sagt der Psychiater Eckhard Roediger.

O-TON 10: (Roediger)

„Eine Essgestörte sieht sich zu dick, und hat den Gedanken: oh Gott, du bist zu dick. Und dann isst sie nicht mehr. Sie kann das nicht mehr relativieren. Und bei ganz vielen psychischen Störungen sind unkontrollierte Gedanken ein ganz wichtiges Element, die die Störung aufrechterhalten.“ 

STIMME:

Das schaffst du nie. Du bist ganz allein auf der Welt. Das überlebst du nicht. 

O-TON 11: (Roediger)

„Das wären in unserem Verständnis alles Kritiker-Gedanken. Aber es sind Gedanken und die müssen wir uns vom Leib halten. Oder wir müssen prüfen, wie lange sie hilfreich sind: Sport zu machen ist eine gute Sache. Aber zu viel Sport zu machen, macht Gelenke kaputt, zum Beispiel. Das müssen Sie ausbalancieren können.“

SPRECHERIN:

Den inneren Antreiber beziehungsweise Runterzieher zu relativieren, ist jedoch leichter gesagt als getan. Deshalb empfiehlt die Psychoanalytikerin Kathryn Eichhorn im ersten Schritt auch einfach nur:

O-TON 12: (Eichhorn)

„Ihn anzuhören, ihn anzuerkennen als das, was er ist: Es ist ein wichtiger Teil von uns.“ (OBEN)

MUSIK:  I finally understand 0‘23

SPRECHERIN:

Der innere Kritiker gehört zur psychischen Grundausstattung jedes Menschen. Auch wenn es Menschen geben soll, die keine inneren Monologe führen, also nie vor sich hin brabbeln: „Ja, wo ist denn jetzt der Schlüssel? Ich bin aber auch ein Schussel!“ Der innere Kritiker agiert eh dauernd im Hintergrund.

O-TON 13: (Eichhorn)

„Das ist schon auch ganz gut, wenn man so jemanden hat, der dafür sorgt, dass wir selbstkritisch auch sind, also Selbstreflektion. Das gehört schon auch mit dazu, dass man sagt: okay, was hätte ich da jetzt irgendwie anders machen können? Oder dass wir auch bestimmte Werte oder Normen einhalten. Also was ist jetzt okay gesellschaftlich, wo wir uns als Gesellschaft darauf verständigt haben.“ (OBEN)

SPRECHERIN:

Wir brauchen so etwas wie ein Gewissen, um miteinander leben zu können. Selbst egozentrische Menschen, die sich nicht um die Erwartungen, Wünsche und Ziele ihres sozialen Umfelds zu kümmern scheinen, kommen ohne das psychische Instrument nicht aus. Es zeigt im Grunde, wo es lang geht. Wer allerdings gerade auf Krawall gebürstet ist und keinen Wert auf Harmonie legt, richtet den inneren Kritiker mit Vorliebe nach außen, gegen andere. Im Stil von Vorwürfen zum Beispiel: 

O-TON 14: (Roediger)

„Was ist das für ein Idiot? Was ist das für eine blöde Regierung? Was ist das für ein schlechtes Auto? Warum funktioniert das nicht? Wenn man auf die anderen angewiesen ist, dann ist man eher selbstkritisch und benimmt sich ordentlich, damit die einen mögen, weil sonst fliegt man raus. Also die Kritiker gehen ja in beide Richtungen nach innen und nach außen.“

MUSIK: Time flies (reduced) 0‘25

SPRECHERIN:

In dem berühmten Modell des psychischen „Apparats“, das Sigmund Freud 1923 veröffentlichte, taucht der Begriff eines „inneren Kritikers“ nicht auf. Trotzdem lässt sich die Vorstellung von einer fordernden inneren Stimme auf den Begründer der Psychoanalyse zurückführen, sagt Kathryn Eichhorn.

O-TON 15: (Eichhorn)

„Der Ursprung ist schon, dass sich Sigmund Freud auch damit auseinandergesetzt hat, als er sein Instanzen-Modell aufgestellt hat, mit Über-Ich, Ich und Es. Und dieses Über-Ich wäre jetzt das Pendant, so könnte man es jetzt verstehen, als der innere Kritiker. Im Über-Ich sind Werte, Normen der Gesellschaft und auch unserer Eltern verankert.“

SPRECHERIN:

Sigmund Freud maß den angeborenen Trieben, also Aggressionen und Begierden, als „mächtigsten Regungen“ große Bedeutung zu. Nach seiner Theorie trägt deren Abwehr durch Verdrängen, Projizieren oder Sublimieren dazu bei, dass sich die strafende innere Instanz eines Über-Ichs herausbildet. Die österreichisch-britische Psychoanalytikerin Melanie Klein verschob dann als erste den Fokus auf den Einfluss der Eltern, auf die prägende Bedeutung der frühkindlichen Erfahrungen.  

O-TON 16: (Eichhorn) 

„Da hat man sich jetzt nicht nur so diese intrapsychischen, also die innerpsychischen Vorgänge angeschaut, sondern auch die interpersonellen, also die Beziehungsaspekte, was unsere psychische Struktur mit beeinflusst. Letztendlich ist so ein innerer Kritiker, so könnte man es heute verstehen, eine verinnerlichte, internalisierte Beziehungserfahrung.“

SPRECHERIN:

„Introjekte“ lautet der psychoanalytische Fachausdruck für die oft unbewussten, gefühlsbehafteten Glaubenssätze und Haltungen, die Kinder von ihren Eltern oder anderen engen Bezugspersonen übernehmen. Das innere System von Ge- und Verboten gibt Halt und liefert Orientierung beim Erkunden der Welt.

STIMME:

Wenn du nicht brav bist, gibt es Ärger.

MUSIK: Obscure intrigue 0‘20

SPRECHERIN:

Über-Ich oder auch Ich-Ideal, wie es in der Psychoanalyse heißt, das klingt ziemlich abstrakt. Der Begriff des inneren Kritikers wirkt dagegen auf Anhieb verständlich. Ah ja, das ist der Typ mit dem erhobenen Zeigefinger.

O-TON 17: (Roediger)

„Die Gefahr dabei ist, dass man sich das zu personal vorstellt. Also dass man denkt, da gibt es eine Kritiker-Person in mir, das gibt es ja nicht, sondern das, was wir erleben, prägt sich in das Gehirn ein und taucht dann als Gefühl im Körper wieder auf oder als Gedanke. Und die Gedanken können eben kritisch über einen selbst sein.“

SPRECHERIN:

Der Schematherapeut Eckhard Roediger möchte verhindern, dass Menschen denken, sie müssten ihrem inneren Kritiker ordentlich Kontra zu bieten - wie Pubertierende, die gegen Mutter oder Vater rebellieren. Oder dass man versucht, ihn mit Versprechungen zu besänftigen. Das wäre der falsche Weg. 

MUSIK:  Well and warm 0‘35

Besser geeignet ist „Mindfulness“, auf Deutsch: Geistesgegenwart oder Achtsamkeit. So lautet auch die Parole der Schematherapie. Patienten und Patientinnen lernen, einen „erwachsenen“ Modus einzunehmen, um das Kommen und Gehen ihrer Gedanken und Gefühle beobachten zu können. Ähnlich wie beim Meditieren. 

O-TON 18: (Roediger)

„Modernere Psychotherapien seit 20 Jahren mindestens, viele von denen haben buddhistische Elemente übernommen, weil sie dieses Selbstkonzept (haben), dass ich als Beobachter meiner eigenen Gedanken und meiner eigenen Gefühle im Stande bin, regulierend einzugreifen. Das ist der Kern des Erwachsenen-Modus, ist diese beobachtende und regulierende Instanz.“

SPRECHERIN:

Diese Instanz braucht Raum. Der Druck, den der bohrende innere Kritiker macht, wirkt kontraproduktiv – selbst, wenn er das „Loslassen“ befiehlt. Innerer Freiraum entsteht nur, wenn der Gegenspieler des Erwachsenen-Modus ignoriert werden kann. Wenn der „Elternmodus“, wie die Schematherapie den inneren Kritiker auch nennt, an Macht verliert. 

STIMME:

Wir haben es dir ja gleich gesagt. 

MUSIK:  Intimate play (a) 0‘35

SPRECHERIN:

Seit der Erfindung der Psychoanalyse um 1900 hat sich die psychotherapeutische Methodik immens aufgefächert und weiterentwickelt. So erfand etwa der Arzt Jacob Levy Moreno in den 1930er Jahren das Psychodrama, ein handlungsorientiertes Gruppentherapie-Verfahren, bei dem man nicht auf der Couch liegt, sondern im Rollenspiel verschiedene Ich-Zustände szenisch darstellt. Die Schematherapie griff dieses Konzept auf. Man arbeitet hier mit mehreren Stühlen, um die verschiedenen inneren Aspekte zu symbolisieren. Manchmal sind es auch nur zwei. Auf dem ersten Stuhl sitzend artikuliert der Patient dann zum Beispiel die Ansagen seines inneren Kritikers, also die belastenden Gedanken im Eltern-Modus. 

STIMME:

Was ist das schon wieder für ein Unfug? Das glaubt dir doch kein Mensch! 

O-TON 19: (Roediger)

„Dann gehen die Patienten rüber auf den Stuhl für das innere Erleben, machen die Augen zu und spüren, was dieser Gedanke heute in ihnen auslöst, nämlich Bedrängung, Bedrückung, Lähmung, Angst.“

MUSIK:  Cold thoughts (b) 0‘35

O-TON 20: (Roediger)

„Und dann kann man in diesem Erleben zurücktreiben in die Kindheitssituation und erkennt, das ist das gleiche Gefühl, wenn mein Vater mich damals geschimpft hat. Und dann können wir sagen: okay, da kommt das her. Wenn diese Stimme mich heute bedrückt, dann ist es eigentlich das Erleben des Kindes von damals. Aber ich bin heute ein erwachsener Mensch. Ich kann heute sagen, diese Stimme in meinem Kopf, die ich damals innerlich aufgebaut habe, die ist alt. Ich kann heute neu auf mich schauen und kann sagen: es gibt Menschen, die mich wertschätzen. Ich mache gute Sachen. Und dann kann man den Gedanken loslassen. Und ich sage mir andere Gedanken zum Beispiel selbst: ich gebe mir Mühe, ich tue, was ich kann. Und dann beruhigt sich das innere Gefühl, weil es jetzt eine andere Ansage bekommt.“

MUSIK: Unfolding feelings (a) 0‘15 

SPRECHERIN:

Es ist wie bei einem Mobile. Es ist eine Frage der seelischen Balance. Sigmund Freud nannte die vermittelnde, ausgleichende, korrigierende innere Instanz „Ich“. Er sagte aber auch, das Ich sei nicht Herr im eigenen Haus. Was bedeuten würde, dass wir uns allenfalls um Regulation bemühen können, wenn der innere Kritiker mal wieder drängt und zetert, während das innere Kind keine Lust auf gar nichts hat. 

STIMME:

Jetzt lass dich doch nicht so gehen!

SPRECHERIN:

Es bleibt gewiss eine Illusion, dass wir absolut frei entscheiden und handeln können. Aber man kann wohl doch einen höheren Grad an Selbstbestimmung erlangen, indem man dem inneren Kritiker oder ähnlich klingenden Stimmen mit kritischem Blick begegnet und sich selbstkritisch befragt:

O-TON 21: (Eichhorn)

„Ist es eine alte Beziehungserfahrung, die ich in Frage stellen kann. Oder geht es darum, dass es eine Stimme ist, die tatsächlich aus mir raus eine Veränderung anstoßen möchte, die ganz sinnvoll ist. Das kann ja auch eine Instanz sein, die sagt: du also, das mit deinem Alkoholkonsum, mit deinem Lebensstil und mit dieser Arbeitssucht, also irgendwie ist das nicht so geil. Und das kann natürlich auch Veränderung anstoßen. Darum geht es, das zu differenzieren.“ 

MUSIK: Reflections 0‘30

SPRECHERIN:

Vor allem geht es nicht darum, möglichst glatt und selbstoptimiert durch den Alltag zu kommen, sagt die Psychoanalytikerin Kathryn Eichhorn. Wer die ehrliche, oft mühsame Auseinandersetzung mit sich selbst wagt, hat aber gute Chancen, dass das Leben eines Tages tatsächlich runder läuft. Eine Psychotherapie kann dabei helfen, die eigene Richtschnur zu finden.

O-TON 22: (Roediger)

„Die Therapie versucht, Menschen zu unterstützen, im ersten Schritt wahrzunehmen, welche Gefühle in ihnen auftauchen, welche Gedanken auftauchen, im zweiten Schritt zu gucken: wie willst du dein Leben gestalten? Was sind deine Werte? Was sind deine Grundbedürfnisse, die du befriedigt haben möchte? Und dann: was sind die Schritte, die du jetzt gehen kannst, um diesen Bedürfnissen und diesen Werten, wie dein Leben sein soll, zu entsprechen.“

SPRECHERIN:

Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, bedeutet, Entscheidungen zu treffen: Eine Ausbildung zu beginnen, erfordert Einsatz und Durchhaltevermögen. Aus dem Job auszusteigen, birgt Risiken, eröffnet aber neue Wege. Wenn der innere Kritiker nicht mehr nur blockierend wirkt oder automatisiertes Rödeln auslöst, kann man eher selbstgewählten Zwecken und Zielen folgen. Trotzdem gilt es, wachsam zu bleiben. Denn das Spektrum der kritischen inneren Stimmen reicht nun einmal von fordernd bis fertig machend. 

O-TON 23: (Eichhorn)

„Es kann auch mal ins Extrem gehen, wenn man es dann wieder zurückschafft, also dieses Oszillieren auf den Polen, also dieses hin und her. Wie eine Patientin letztes Mal zu mir gesagt hat: es geht immer um diesen Sweet Point, dieser süße Punkt, den man finden muss, also die Mitte irgendwo, also wann kippt es in was zu strenges, dass es verfolgend wird, dass es irgendwie dann diese Ängste und Schuldgefühle auslöst und an welcher Stelle führt es zu einer Selbstreflektion, die dazu führt, dass wir uns weiterentwickeln.“ 

MUSIK:  Questions upon questions (b) 0‘20

STIMME:

Na also, geht doch. Jetzt aber ab Marsch in die wohlverdiente Pause!