radioWissen - Bayern 2   /     Die Befreiung vom Korsett - Frische Luft und neue Zwänge

Description

Das Korsett sorgte Jahrhunderte lang dafür, dass der Oberkörper zeitgemäß in Form gebracht wurde: mit Schnürungen, Holz oder Metallstäben wurde der Bauch gedrückt und die Brust angehoben. Das ist lange her - doch trotzdem scheint das Korsett auch heute nicht ganz verschwunden. Wie befreit sind unsere Körper wirklich? Von Caro Matzko

Subtitle
Duration
00:22:54
Publishing date
2024-08-08 03:30
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/die-befreiung-vom-korsett-frische-luft-und-neue-zwaenge/2096398
Contributors
  Caro Matzko
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2096398/c/feed/die-befreiung-vom-korsett-frische-luft-und-neue-zwaenge.mp3
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Shownotes

Das Korsett sorgte Jahrhunderte lang dafür, dass der Oberkörper zeitgemäß in Form gebracht wurde: mit Schnürungen, Holz oder Metallstäben wurde der Bauch gedrückt und die Brust angehoben. Das ist lange her - doch trotzdem scheint das Korsett auch heute nicht ganz verschwunden. Wie befreit sind unsere Körper wirklich? Von Caro Matzko

Credits
Autorin dieser Folge: Caro Matzko
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Dorothea Anzinger, Katja Schild, Sven Hussock, Susi Weichselbaumer, Jerzy May
Redaktion: Iska Schreglmann

Im Interview:
MAG. KERSTIN JESSE, LEOPOLDMUSEUM WIEN
DR. MELANIE HALLER, AMD AKADEMIE MODE&DESIGN HAMBURG

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Literaturtipps:

Sandra Lembke, „Scheuersand und Schnürkorsett. Wie Frauen lebten und litten: eine kleine Kulturgeschichte über Mode, Kochen, Körperpflege und Haushalt von 1850 – 1918“

Margret Greiner, „Auf Freiheit zugeschnitten. Emilie Flöge: Modeschöpferin und Gefährtin Gustav Klimts“, btb Verlag

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHERIN 2 

„Fester, fester“

ZSP 1 Atmo Korsett binden -  darüber

SPRECHERIN

Als Kaiserin Elisabeth von Österreich noch lebte, also Mitte des 19. Jahrhunderts, galt das Wiener Hofzeremoniell, das sich an der gestrengen spanischen Tradition orientierte. Kaiserin Sisi soll es zeitlebens als goldenen Käfig erlebt haben – auch weil sie sich durch ihre rein repräsentative Aufgabe als schillernde Schönheit an der Seite ihres Franz Josef sehr eingeengt gefühlt haben soll. 

SPRECHER

Wie sieht sie aus, was hat sie an, mit wem hat sie eine Affäre und ist sie dicker und älter geworden? 

SPRECHERIN 

So tratschte das Volk und klatschte die Presse. Die Kaiserin hungerte zeitlebens und turnte wie besessen, um ihr Gewicht auf gerade mal 45 Kilo zu halten. Mehr durfte sie nicht wiegen, damit sie sich die Taille jeden Tag von ihren Zofen mit einem Korsett auf 48 cm Umfang schnüren lassen konnte. 

SPRECHERIN 2:  

Fester! Fester!

SPRECHER

Das Korsett und das Ideal der Wespentaille hat die europäische Modegeschichte Jahrhunderte lang bis zum Beginn des ersten Weltkriegs geprägt, sagt Dr. Melanie Haller, Soziologin und Dozentin an der Akademie für Mode und Design in Hamburg. 

MUSIK Animals in nap  0.58 min.

SPRECHER

Und wie das gestrenge Hofzeremoniell beginnt auch die Karriere dieses Kleidungsstückes in Spanien. 

ZSP 2 Dr. Melanie Haller -  Die ersten Korsette

„Also die ersten Korsette gibt es mit der sogenannten spanischen Mode im 15. Jahrhundert als Kleidungsstück, das den Körper einzwängt. Wobei es die nicht nur für Frauen gab, sondern die gab es auch für Männer. Im 15. Jahrhundert waren es Bleiplatten, die den Busen plattdrücken, weil das Ideal der Zeit eine konische Körperfigur ist. Das heißt auch die Männerbrust wurde niedergedrückt, damit dieser Idealkörpertypus entsteht.“

SPRECHER

Das Korsett markiert die Entdeckung der Dreidimensionalität des Körpers: Waren im Mittelalter die Schnitte der Kleidung noch gar nicht an den Körper angepasst, fand man im Spanien des 15. Jahrhunderts große Freude an der Modellierung des Körpers mit Hilfe der Kleidung. 

ZSP 3 Haller -  Modellierung des Körpers

„…weil mit der Schnittkonstruktion es plötzlich möglich war den Arm zu isolieren, die Brust hervorzuheben oder zu negieren, wie in der spanischen Mode oder wir im Rokoko die Büste hervorzuheben und die Taille einzudrücken. Das heißt wir haben historisch gesehen unfassbar viele unterschiedliche Formen von Korsetten. Das ist nie das eine gleich oder ganz unterschiedliche Formen.“ 

MUSIK Animals playing catch  0.57 min.

SPRECHER

Bis Anfang des 20. Jahrhunderts stützt, formt oder zwängt das Korsett -  auch Mieder oder Schnürbrust genannt - den Körper und verleiht ihm Haltung und Würde: mit Walfischbein, indischem Büffelhorn oder Stahlfedern verstärkt war es ein wichtiges Kleidungsstück für Adelige beiderlei Geschlechts. Denn auch Männer trugen im Biedermeier zuweilen ein Korsett - häufig im Militär, damit die Uniform wie angegossen saß und sie so Breitschultrigkeit und Autorität verkörperten. Mit der Industrialisierung wurde das Ideal dann durch den Typus „Geschäftsmann“ – heute würde man Dandy sagen -  abgelöst. Mit einem Schnürgürtel banden die Herren ihren Bauch auf Taille und ließen die Schultern schmal hängen. 

Dieses neue Körperideal sollte zeigen: Ich bin so erfolgreich, dass ich für mein Geld nicht körperlich arbeiten muss.  

SPRECHERIN

Die Modegeschichtsschreibung hat nur leider einen Haken, findet Melanie Haller von der Akademie für Mode und Design Hamburg. Denn alles, was heute im Museum zu bewundern ist, sind hochwertige Stücke, die sich Adelige oder das gut betuchte Bürgertum leisten konnten. 

ZSP 4 Haller: Was trug der normale Mensch?

„Was wir hingegen wenig wissen, was hat die breite Bevölkerung getragen. Die breite Bevölkerung hat sich über Second Hand Kleidung bekleidet, über abgetragene Kleidung und da wird es dann schwierig, da wurden natürlich Korsette übernommen, weil sie aussortiert wurden von den oberen Schichten. Da ist die Forschung aber dünner als aber der Oberschichtskleidung, die in modehistorischen Büchern zu sehen ist, wo man sagt: 15 Jh hat man das getragen, im 16. das, im 17. Jahrhundert das… da kann man schon sagen, dass es unterschiedliche Arten und Weisen gab wie der Körper geformt wurde.“

MUSIK Mysterious animal play  1.50 min.

SPRECHERIN

Geschlechterformen wurden so stereotypisiert. Welche Form populär war, das prägten die zur jeweiligen Zeit tonangebenden Königshäuser. Im 15. Jahrhundert war das der spanische Hof mit der konischen Form, im 16. Jahrhundert der französische, der die Sanduhrsilhouette zelebriert, die lange en vogue bleibt - von Barock bis Rokoko.

ZSP 5    Haller -  Königshäuser als Stylereferenten

„…wo dann wirklich mit Marie Antoinette und solchen Figuren der Busen und die Taille betont wird in den Korsetten und das endet dann erst Anfang des 19. Jahrhundert mit dem Klassizismus wo dann die  Empirelinie kommt, aber auch die hatte Korsette allerdings, die waren nicht ganz so steif, die haben versucht den Busen ein bisschen zu betonen und der Rest ging grade nach unten. Das ändert sich mit dem Entstehen der Haute Couture also mit einer Produktionsweise mit deren Hilfe sich die oberen Schichten ganz klar abgrenzen wollten von der Masse. Man muss sich überlegen, dass im 19. Jahrhundert parallel dazu die Bekleidungsindustrie entstanden ist. Das heißt, es gab die Möglichkeit für viel mehr Menschen sich neue Kleidung zu kaufen.“

SPRECHER 

War das Korsett lange Zeit für die breite Bevölkerung noch ein teures Unterwäschestück, das den feinen Damen vorbehalten war, entstanden  Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa viele Korsett-Webereien, durch die die Schnürmieder erschwinglicher wurden. 

MUSIK Der fröhliche Landmann  0.42 min.

SPRECHER

Nun mussten sich alle Mädchen ab dem 7. Lebensjahr unter ihren Kleidchen an eine Schnürung gewöhnen, die die Taille schmal halten sollte. An wildes Spiel oder gar Sport war nicht zu denken, doch Mädchen hatten damals vor allem eine Zierde zu sein, um schließlich gut verheiratet werden zu können.  

SPRECHERIN

Eine längere Schulbildung konnten sich nur die höheren Töchter erlauben: Die Backfische lernten Klavier spielen, tanzen und Handarbeiten. Bücher waren nur etwas für Männer, wenn Frau doch zu eigener Lektüre kam, dann um besser parlieren zu können und die Herren in den Salons gut zu unterhalten. 

SPRECHERIN

Das Vorbild in der Belle èpoque war die Pariser „sans ventre“ Linie: Sans heißt ohne und Ventre Bauch, der Name war Programm, so Melanie Haller. 

ZSP  6 Melanie Haller -  sans ventre Korsett

„Das Sans Ventre Korsett wie das der Begriff schon sagt, geht es darum den Bauch wegzudrücken und eine S-Linie herzustellen. Der Busen wird sehr hochgedrückt, die Taille eingeschnürt und hinten kommt ein großer Aufbau aus Stoffmassen drauf, das wurde durch die Tournüre erzeugt, eine Art Teilreifrock, den man sich um die Taille gebunden hat.“

MUSIK Die Kaiserin der Herzen  0.30 min.

SPRECHERIN

Über das Korsett kamen Unterröcke, Polster oder bienenkorbartige Gestelle für Brust und Popo – darüber wölbte sich dann irgendwann das eigentliche Kleid mit Volants und Rüschen. Eine bürgerliche Frau schleppte um 1900 nach zeitgenössischen Berechnungen rund 4,5 Kilogramm an Unterwäsche mit sich herum - die schweren Überkleider kamen dann noch dazu. 

MUSIK Kaiserwalzer 0.54 min. 

SPRECHER

Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildete sich Widerstand: In Großbritannien und den Vereinigten Staaten demonstrierten die Suffragetten für das Wahlrecht und auch auf dem europäischen Kontinent schieden sich am Korsett plötzlich die Geister. Und für diese neue geistige Beweglichkeit brauchte es auch mehr körperliche Bewegungsfreiheit. Also weg mit der zentnerschweren Stofflast und den engen Korsetts. Großen Anteil daran hatte auch die Entwicklung des Breitensports.

SPRECHERIN

Doch bis sich die Idee durchsetzte, dass Sport auch für den Frauenkörper gesund sein könnte, dauerte es lange. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es Frauen offiziell gestattet, Sport zu treiben. Melanie Haller von der Akademie für Mode und Design Hamburg

ZSP 7 Haller -  Sport

„Es gab lange die These, dass Frauen nicht hüpfen sollen, damit ihre Gebärmutter nicht herausfällt. Es gab auch lange die Auffassung, dass der Frauenkörper sich gar nicht halten könnte, ohne Korsett. Darum gab es auch Kinderkorsette – weil es ganz lang die Überzeugung gab, dass die Frauen diese Stütze von außen brauchen. Und daran sieht man, dass Kleidungsgeschichte eben nie nur Modegeschichte, sondern immer auch die Geschichte der Medizin, der Gesundheit, der Überzeugung der Geschlechterbilder. “

SPRECHERIN

Es bildete sich eine Allianz aus drei illustren Lagern: Mediziner, Moralisten und Feministinnen. Sie alle hatten ihre ganz eigene Motivation, warum sie dem Schnürmieder den Kampf ansagten. 

SPRECHER

Die Mediziner sorgten sich um die Gesundheit der Frauen und forderten mehr Bewegungsmöglichkeiten für den gesunden Körper. 

SPRECHERIN

Den Moralisten war die Überbetonung der Taille mit herausgeputztem Hinterteil zu aufreizend. Einige hielten das Korsett sogar für einen verführerischen Köder der Prostituierten. 

SPRECHER

Die Frauenrechtlerinnen wiederum verdammten es, weil es ihrem Ideal der beruflich und politisch aktiven, sportlich-emanzipierten Frau im Wege stand.

MUSIK Animals playing catch  0.45 min.

SPRECHERIN

Zur letzten Gruppe gehörte auch Emilie Flöge aus Wien.

ZSP 8 Jesse über  Flöge 1

„Die Emilie Flöge ist eine moderne Frau gewesen aus meiner Sicht, eine selbständige Frau, eine Unternehmerin, eine Modedesignerin und ja eigentlich auch eine Geschäftsführerin.“

SPRECHERIN

Kerstin Jesse ist Expertin für die Wiener Kunstszene des 19. und Anfang 20. Jahrhunderts - zu der auch Emilie Flöge gehörte. Kerstin Jesse hat die Modeschule in Klagenfurt besucht und ist heute Kuratorin am Leopoldmuseum in Wien. Sie bedauert, dass Emilie Flöge häufig nur als „Lebensmensch“ von Gustav Klimt genannt wird, die der Malerfürst kurz vor seinem Tod ans Sterbebett zitierte: 

ZITATOR 1 (Klimt, ächzend)

Die Emilie soll kommen.

SPRECHERIN

Emilie war dabei als Klimt die Kunstbewegung Secession mitbegründete und kannte auch die Gründerväter der Wiener Werkstätten, die sich allesamt eine Reform des Kunstverständnisses auf die Fahne geschrieben hatten. Dazu gehörte auch die Mode: 

MUSIK Animals in nap 1.42 min.

SPRECHERIN

Die gelernte Schneiderin Emilie wollte Kleider nähen, die der Frau mehr Bewegungsfreiheit schenken sollte und die Trägerinnen nicht nur zur attraktiven Begleiterin, wenn nicht Beutetier für die Herren zusammenschnürte.

SPRECHER

In der Flöge-Biographie „Auf Freiheit zugeschnitten“ bei btb erschienen, beschreibt die Autorin Margret Greiner die Entwürfe Emilies:

ZITATORIN (gern junge Frauenstimme)

„Sie alle waren ja von den Reformideen angesteckt, die im Zuge der Wiener Werkstätten seit einigen Jahren aus England und Belgien nach Wien herübergeschwappt waren, aber niemand war so begeistert auf die neue Welle aufgesprungen wie Emilie. Zumindest was die Mode anging. Emilie war wirklich radikal – zumindest für sich selbst machte sie keine Kompromisse. Nicht nur die Hand, ihr ganzer Körper vibrierte, wenn sie zum Bleistift griff und ein Modell entwarf, das am Hals hochgeschlossen war mit einem Kragen wie ein textiles Kropfband, und vom Hals aus in weitem Fluss wie eine Tunika über den Körper fiel. Auch die Ärmel waren weit, öffneten sich sichelförmig. Nichts engte den Körper mehr ein, nichts stellte Körperteile als Signalmasten aus, nichts korrigierte mehr die Natur. Und wenn Emilie die Schere an den Stoff anlegte, sagte sie: Jetzt schneiden wir mal auf Freiheit zu! (S. 100)))

SPRECHERIN

Und Emilie wollte mehr: Sie wollte frei, kinderlos, unverheiratet und finanziell unabhängig sein und bleiben. Sie wollte einen eigenen Modesalon – für sich und ihre Schwestern. Beinahe undenkbar in der damaligen Zeit!

MUSIK Wild mammoth reduced  1.17 min.

ZSP 9 Jesse über Flöge 2

„Man musste ja damals wenn man verheiratet war, den Mann um Erlaubnis bitten, wenn man arbeiten gehen wollte. Man durfte nicht über das eigene Geld verfügen, den Wohnort bestimmen auch nicht. Also eigentlich war alles von der Einwilligung des Mannes abhängig. Sehr schwierige Zeiten für die Frauen. Und wenn dann eine Frau wie Emilie Flöge ihren eigenen Salon eröffnet, sich auch entscheidet nicht verheiratet zu sein, ihren Zielen und Wünschen nachgeht und sicher auch mit viel Neid und mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt hat, trotzdem hier mit Mut und Entschlossenheit vorangegangen ist und ihren Salon erfolgreich geführt hat.“

SPRECHERIN

1904 war es soweit: Der Salon „Schwestern Flöge“ öffnet seine Flügeltüren - eingerichtet in schlichtem schwarz-weiß im strengen Stil der Wiener Werkstätten, mit grauem Teppich über dem Fischgrät, einem langen Tisch mit schmalen Stühlen, auf die man sich mit Korsett und ausgestopftem Entenpopo gar nicht hätte setzen können. Hier sollten die modernen und gut betuchten Damen Wiens Haute Couture gewürzt mit einer Prise Widerstand einkaufen. Wer sich bei Flöges ankleiden ließ, der zeigte sich danach auch gern im Café Casa Piccola, las ein Magazin und rauchte demonstrativ tagsüber und dann auch noch in der Öffentlichkeit. Was damals für Frauen noch skandalös war. Bis zu 80 Näherinnen arbeiten für die Flöge Schwestern – teilweise im Homeoffice, wie man heute sagen würde. 

MUSIK Cute rodent  0.54 min.

SPRECHERIN

Und Emilie freut sich, dass sich ihre privaten Französischstunden rentierten: Dank ihnen konnte sie souverän die Pariser Modenschauen besuchen und mit renommierten Stoffhändlern verhandeln. 

SPRECHER

Inspiriert war sie natürlich auch von den korsettfreien Entwürfen von Designer Paul Poiret, der zu Beginn des 20. Jahrhundert das Schnürmieder aus der Haute Couture verbannt hatte. Seine Kreationen waren farbenfroh, mit großen Mustern, Pailletten und Federhüten. Poiret, der Party Boy der damaligen Fashionszene, erfand eine neue Silhouette – kleiner Busen, schmale Schultern, wallende Stoffkaskaden und orientalische Haremshosen. Die Hosen kamen bei den Käuferinnen nicht allzu gut an, aber die Silhouette setzte sich durch. Barbara Vinken, Romanistin und Modeexpertin an der LMU weiß aber um die Kehrseite der Medaille. 

ZSP 11 Prof. Barbara Vinken, Literaturwissenschaftlerin und Modetheoretikerin: Paul Poiret (00:25 Sekunden)

„Poiret hat die Korsage abgeschafft, da musste jetzt aber der Körper seine Gestaltbarkeit im Kleid das heißt sein anderes Sein im Raum eigentlich durch Gymnastik kompensieren. Weil dieser Körper musste jetzt geschmeidiger sein, der musste schlanker sein und er konnte sich nicht mehr durch den äußeren Zwang der Korsage verlassen. Er musste im Prinzip, das was sonst am Körper nicht in Muskeln angelagert war, jetzt in Muskeln verändern.“ 

MUSIK Tanz der Zuckerfee  0.55 min.

SPRECHERIN

Inspiriert vom Balletts Russe (Aussprache: Ballé Rüss) eines der einflussreichsten, exotisch-erotischen Ballettensembles des 20. Jahrhunderts, war Poirets Ideal nun die gertenschlanke Tänzerin, die in leichtfüßigen Arabesken durchs Leben balanciert. Jeder Theaterabend war ein ausverkauftes Ereignis und die Besucherinnen kleideten sich „à l’orientale“, mit Turban, Federn. Auch Emilie Flöges Entwürfe waren in diesem Sinn Französisch, also für Frauen, die so schlank und flachbrüstig waren wie die Tänzerinnen des Balletts Russe -  und auch wie sie selbst. Das so genannte Pariser Mode-Diktat erregte jedoch zuhause in Wien die Gemüter - als quecksilbrig und hüftlos wurden die Poiret- und Flöge-Mannequins tituliert. So wetterte der Maler Paul Sieger bei einem Vortrag in Richtung Emilie:

ZITATOR 2 (älter und gern Österreicher)

„Die welsche Mode passt nicht nach Wien. Arbeiten Sie daher mit uns zur Ehre des Vaterlandes, der Kunst und des Gewerbes, damit die Wienerin wieder als das erscheint, was sie ist und war, die Perle der Schöpfung, ein mudelsauberes, molliges und humorvolles Weib.

MUSIK Little Jumpers 1.20 min.

SPRECHERIN

Ob mudelsauber, sprich ordentlich oder nicht, ob vollbusig oder flach, ob Haute Couture oder Massenware – der erste Weltkrieg beendete schließlich viele Modediskussionen: Stoffknappheit, Arbeitskräftemangel sowie die neue Selbständigkeit der Frauen, die ihre Männer in der Fabrik und auf dem Acker ersetzen mussten, lockerten das Korsett des Kaiserreichs zunächst in Form des Reformkleides, um es schließlich hinwegzufegen -  ebenso die bodenlangen Röcke, die langen Unterhosen, zahlreichen Unterkleider und Unterröcke und die aufwendigen Frisuren für die frau lange Haare brauchte.  Ab dem 20. Jahrhundert nehmen die Unterkleider ab und die moderne Unterwäsche entsteht: Zwischen 1887 und 1914 meldeten allein sieben Tüftler aus fünf verschiedenen Ländern eine Art BH beziehungsweise „Brustverbesserer“ oder „Brustträger“ zum Patent an. Der Korsettfabrikant Sigmund Lindauer aus Stuttgart-Bad Cannstatt war der erste, der das revolutionäre Dessous in großem Stil industriell herstellte und professionell vermarktete. 

SPRECHER

Das neue Ideal war die "Garçonne" – ein androgyner Frauentyp, propagiert von Modemacherin Coco Chanel, die die orientalischen Entwürfe ihres Konkurrenten Paul Poiret als „barbarisch“ tituliert hatte. Doch ohne Poirets Verbannung des Korsetts wären Chanels knabenhafte Mode, also schlichte Kostüme, günstige Stoffe und Matrosenhemden nicht möglich gewesen. Chanels Mode spielte mit den Geschlechtern - ihre Frauen wurden männlicher kostümiert, um sich im Business behaupten zu können. Was wiederum der Nährboden für Christian Diors femininen Nachkriegs-New Look war, den Chanel verabscheute und gar die Rückkehr der Korsage witterte.

SPRECHERIN

Und so variiert das Ideal, je nach Zeitgeist, zwischen mütterlich gerundet, androgyn flach oder barock und üppig. Jeder Trend evozierte einen Gegentrend. Die Hippiemädchen rissen sich die Büstenhalter vom Leib und feierten die neue radikale Natürlichkeit. Bis die Industrie dank Push Up-BHs die Rückkehr des virtuosen Dekolletés feierte. Je sichtbarer der Körper wurde, desto mehr stellt sich die Frage: Wie gestalten wir ihn? Melanie Haller von der Akademie für Mode und Design findet: Das Korsett ist in Wahrheit nie wirklich verschwunden.

MUSIK Plan of Animals 0.45 min.

ZSP 13   Haller -  heute und Ideal

„Also das berühmte Lycra in den 60er Jahren ist dann ein ganz starkes Phänomen, oder eben das, was wir heutzutage die Shapewear nennen, ein hochelastisches Material oder was ich immer gern sage der Thrombosestrumpf für den Körper. Und eine Bewegung wäre dann in den letzten Jahren die Athleisuremode, dass wir alle Sportkleidung tragen, die sehr genau zeigen, ob ein Körper definiert ist oder nicht. Und diese Art der Ästhetiken reproduzieren sich auf Social Media, wenn es darum geht: ich habe durch die und die Bewegungsart meinen Körper in die und die Form gebracht und das ist ein neues Narrativ und eine neue Norm für Menschen, an denen sie sich immer abarbeiten müssen und sich denken, bei mir ist das wieder nicht optimiert oder jenes nicht. Wir haben einen unglaublich zugespitzten normativen Blick auf unsere eigenen Körper. 

SPRECHERIN

Heute wissen wir, dass unsere Körper bewegt werden müssen, um gesund zu sein. Doch diese Erzählung hat sich zugespitzt - und so trainieren viele Frauen von heute wie einst Elisabeth von Österreich, um der schlanken Ästhetik der Jetzt-Zeit zu entsprechen. 

ZSP 14  Haller -  Schlussworte

Die Gestaltung des Körpers ist immer Kultur. Aber wir sollten schauen, welche Normen wir setzen und welche Einschränkungen, welche Diskurse, Umgangsweisen und Anmaßungen über andere Körper entscheiden zu können, in dieser Kultur immer noch präsent sind. 

MUSIK Cute rodent  0.24 min.

ZSP 14  Haller -  Schlussworte

Und ich würde sagen: Wir müssen dagegen kämpfen. Gerade für eine junge Generation. Was macht das eigentlich mit Menschen, wenn sie glauben, ihr Körper ist der falsche Körper? Dann ist es sehr schwer durchs Leben zu gehen. Ich fände es gut, wenn wir da ein bisschen offener werden würden.