radioWissen - Bayern 2   /     Ganz schön zwanghaft: Von Ticks, Spleens und echten Zwängen

Description

Pflastersteine zählen, die Bettdecke richtig ausrichten, den Herd mehrfach prüfen. Harmlose Eigenarten oder bedenkliche Zwänge? Fast jeder Mensch hat Spleens, Ticks oder Marotten. Manche sind den Betroffenen nicht mal bewusst. Wie bedenklich sind solche Spleens, und inwiefern lassen sie sich von Zwangsstörungen abgrenzen, die man behandeln sollte? Überraschend ist: Bis zu einem gewissen Grad kann Zwangshaftigkeit sogar positive Effekte haben. Von Susanne Brandl

Subtitle
Duration
00:24:34
Publishing date
2024-08-22 03:00
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/ganz-schoen-zwanghaft-von-ticks-spleens-und-echten-zwaengen/2096769
Contributors
  Susanne Brandl
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2096769/c/feed/ganz-schoen-zwanghaft-von-ticks-spleens-und-echten-zwaengen.mp3
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Shownotes

Pflastersteine zählen, die Bettdecke richtig ausrichten, den Herd mehrfach prüfen. Harmlose Eigenarten oder bedenkliche Zwänge? Fast jeder Mensch hat Spleens, Ticks oder Marotten. Manche sind den Betroffenen nicht mal bewusst. Wie bedenklich sind solche Spleens, und inwiefern lassen sie sich von Zwangsstörungen abgrenzen, die man behandeln sollte? Überraschend ist: Bis zu einem gewissen Grad kann Zwangshaftigkeit sogar positive Effekte haben. Von Susanne Brandl

Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Brandl
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Andreas Neumann, Peter Veit
Technik: Lorenz Kersten
Redaktion: Susanne Poelchau

Im Interview:
Fanny Jimenez, Psychologin und Journalistin,
Michael Kellner, Psychiater und Psychotherapeut, Universitätsklinikum Rechts der Isar,
Katharina Bey, Psychologin und Psychotherapeutin, Universitätsklinikum Bonn;

Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

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Psychologie fasziniert mit Einblick in unsere Innenwelt. Was passiert in unserem Kopf, welche Phänomene begleiten den Alltag? Und was, wenn etwas verkehrt läuft? Bei psychiatrischen Krankheiten ist Hinschauen ein erster wichtiger Schritt.

oder
Zeit für Bayern: Zwänge: Wie es sich anfühlt, mit Zwangsstörungen zu leben - Bayern2 Radio

Literatur:
Ich und mein Spleen. Was wir tun, wenn wir alleine sind. Die Autorin Fanny Jimenez erklärt psychologisch fundiert, dass kleien Zwänge, Spleens oder Marotten uns keine Sorgen machen müssen, im GegenteiL: sie sind gesund, weil sie dabei helfen dabei, uns zu regulieren.
Zwangsstörungen: Die Autorin Katharina Bey geht hier auf theoretische Grundlagen zu Erscheinungsformen, Diagnostik, Entstehung und Aufrechterhaltung der Zwangsstörung ein und stellt Psychotherapiemaßnahmen vor.

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHER:

Es beginnt schon früh morgens, noch vor dem Aufstehen. 

O-TON A

Ich stelle mir den Wecker oft ein, zwei Stunden früher als ich tatsächlich aufstehen muss. Einfach weil ich das Gefühl liebe, noch nicht aufstehen zu müssen. Dieser Moment, zu sehen, ah du kannst noch weiterschlafen, das genieße ich total. 

ATMO Teller + Besteck

SPRECHER:

Und wenn es dann so weit ist und der Tag beginnt, dann steht erst mal das Frühstück an. 

O-TON B

„Beim Essen muss der letzte Bissen der beste Bissen vom ganzen Essen sein und dann esse ich drum herum, um möglichst sicher zu stellen, dass ich nicht mit einem unzufriedenen Gefühl aus dem Essen rausgehe.“

Atmo Geschirr in die Spülmaschine sortieren

SPRECHER:

Dann folgt das Tischabräumen. 

O-TON C

„Die Geschirrspülmaschine muss immer ordentlich eingeräumt sein. Links die Messer, rechts das gebogene Besteck.“

ATMO Schranktür

SPRECHER:

Daraufhin steh ich vor dem Kleiderschrank und überlege. Oder auch nicht. Denn eigentlich ist klar:

O-TON D

„dass ich nur weiße Socken trag.“

Atmo Zähneputzen

SPRECHER:

Schnell noch Zähneputzen! 

O-TON E

„Ich putz immer in der gleichen Reihenfolge, in dem gleichen Tempo Zähne. Genau nach dem gleichen Prinzip, sonst fühlt sich das nicht richtig an.“

ATMO Schritte

SPRECHER:

Und auf dem Weg in die Arbeit sind da diese Pflastersteine:

O-TON F

 „Ich trete nicht auf die Linien von den Steinen auf den Boden, wenn es so große Steine sind, nicht auf die Linien. Warum nicht? Dann hat man irgendwie was zu tun.“

Musik aus

SPRECHER:

Manchmal sind wir seltsam. Wir folgen pedantisch ungeschriebenen Regeln oder Mustern. Wir kontrollieren Herd und Haustür oft mehrfach hintereinander. Wir zählen Autos, Straßenpfeiler oder Fenster. Kleine Zwänge, die uns komische Dinge machen lassen: 

O-TON 1 JIMENEZ:

Viele Menschen sind sich ihres Spleens gar nicht bewusst bis es ihnen jemand sagt. Weil die eben so automatisch kommen. Unser Gehirn stellt das sozusagen einfach so zur Verfügung und oft erscheint uns das überhaupt nicht so irrational oder überflüssig wie es anderen erscheint. Und solange uns das keiner sagt, ist es meistens auch nicht peinlich.“

SPRECHER:

Fanny Jimenez, Psychologin und Journalistin. In einer Kolumne befasste sie sich mit Marotten, Schrullen und Fimmeln, die man unter dem Begriff „Spleen“ zusammenfassen kann. Sie analysierte eigenartige Verhaltensmuster, trug Forschungserkenntnisse zusammen und veröffentlichte ihr Wissen in dem Buch. „Ich und mein Spleen.“ Darin bekräftigt sie: Kleine Zwänge müssen uns zunächst mal keine Sorgen machen. Im Gegenteil:

O-TON 2 JIMENEZ:

„Die helfen uns nämlich, unsere Ängste auszuhalten, sie helfen uns dabei, uns ein Gefühl von Kontrolle zu geben, vor allem wenn wir uns überfordert fühlen oder ohnmächtig. Und sie machen die unüberschaubare, unvorhersehbare Welt ein bisschen überschaubarer. Das ist zwar ne Illusion, aber unser Gehirn hat den Eindruck, dass alles ein bisschen sortierter und planbarer und vorhersehbarer funktioniert. Das heißt: Spleens und Marotten beruhigen und trösten uns und nehmen uns Angst und Unsicherheit. 

Musik 2: Goldberg-Variationen (Bach) – 35 Sek

SPRECHER:

Woher diese eigenartigen Bewältigungsstrategien kommen, das ist nicht so leicht zu entschlüsseln. Zunächst einmal zur Wortbedeutung: Der Begriff Spleen kommt aus dem Englischen und heißt übersetzt: Milz - ein Organ, das in der Bauchhöhle in der Nähe unseres Magens liegt. Die Milz galt bis ins 19. Jahrhundert als verantwortlich für schwermütige Gefühlslagen, für hypochondrische Verstimmungen und alles, was an komischen Marotten so vorlag. Heute versteht man unter einem Spleen ein harmloses zwanghaftes Verhalten und verortet das vor allem im Gehirn.

O-TON 3 JIMENEZ:

„Das ist ja unsere große Problemlösemaschine - jetzt mal aus evolutionärer Sicht gesprochen - und das Gehirn weiß um bestimmte Phänomene, die uns helfen, die wir manchmal gar nicht wissen. Einfaches Beispiel: Putzen beruhigt enorm.“

SPRECHER:

Das bestätigt eine Studie von der Universität Connecticut aus dem Jahr 2015. In Zeiten hohen Stresses greifen Menschen zu sich wiederholenden Verhaltensweisen wie Putzen, weil sie dadurch ein Gefühl der Kontrolle und Ruhe haben. 

O-TON 4 JIMENEZ:

Das heißt, unser Gehirn weiß, was uns hilft, wenn wir überfordert sind oder ängstlich und nutzt diese verschiedenen Wege je nach Persönlichkeit. Mal ist es Putzen, mal ist es irgendwie was essen. Also über Spleens, um uns zu helfen und uns zu unterstützen.

SPRECHER:

Umgangssprachlich sprechen wir auch gerne von Ticks, und meinen damit schrullige, leicht zwanghafte Attitüden, die wir als unbedenklich einstufen. 

In der Medizin hingegen steht der Tick für ein neuro-psychiatrisches Krankheitsbild, so der Psychiater und Psychotherapeut Michael Kellner. Er leitet die Spezialambulanz Angst und Zwang an der Münchner Klinik rechts der Isar.

O-TON 5 KELLNER

„Aus medizinischer Sicht ist ein Tick eine motorische oder verbale kurzfristige Entäußerung, zum Beispiel, dass man kurz ne Grimasse macht oder das Augenlid zuckt etcetera. Es gibt aber auch komplexere Ticks wie zum Beispiel Grunzen oder Schimpfwörter rausschreien und die Verknüpfung zur Zwangsstörung: es gibt eine seltene Erkrankung, das „Gilles de la Tourette's syndrome“, bei dem neben Ticks auch sehr häufig Zwangsphänomene zustande kommen. Mutmaßlich Funktionsstörungen an sogenannten Basalganglien, ein tieferes Hirngebiet, wo auch Koordination von Bewegungen mitvermittelt wird und das wäre ne Brücke zwischen Tick und Zwangsstörung.“

SPRECHER:

Zwangsstörungen sind von unproblematischen Zwängen klar zu unterscheiden. Was aber bedeutet unproblematisch? 

O-TON 6 KELLNER:

„Es gibt keine klare Trennung zwischen Zwangsphänomenen und wirklicher Zwangsstörung, das ist ein Kontinuum. D.h. man muss da mindestens eine Stunde jeden Tag mit Zwangsphänomenen sich beschäftigen. Und vor allem eine Erkrankung wird bei uns erst eine Erkrankung, wenn das psychosoziale Leistungsvermögen in verschiedenen Rollen bis in den Beruf, Partnerschaft, Familie durch den Zwang beeinträchtigt wird.“

Musik 3: Twelve Month  – 50 Sek

SPRECHER:

Herd und Haustür sind die wohl meist kontrollierten Gegenstände auf Erden. Fast jeder kennt das Innehalten und das Zweifeln. Manch einer kehrt noch einmal um. Zwangsneurotiker aber müssen mehrfach kontrollieren und glauben trotzdem noch nicht, dass der Herd aus ist und die Tür verschlossen. Dann sind sie gefangen in Gedanken- und Handlungsschleifen. Diese Art der Erkrankung betrifft circa zwei Prozent der Bevölkerung. Die Wahrscheinlichkeit, eine Zwangsstörung zu bekommen steigt, wenn in der eigenen Kernfamilie schon eine solche Erkrankung vorliegt. Wenn beispielsweise Vater oder Mutter betroffen sind, ist das Risiko für die Kinder, selbst auch zu erkranken, vier Mal so hoch wie das Risiko der Gesamtbevölkerung. 

O-TON 7 KELLNER: 

„Dann ist es so, dass man gehäuft schwere lebensgeschichtliche Ereignisse, Traumata, besondere Stressoren auch zusätzlich in Vorgeschichten der Patienten findet und manchmal ist es auch nur dummer Zufall, dass ein Zwangsphänomen nicht mehr aufhört, sondern Schleifen dreht.“

Musik 4: Twelve Month –  22 Sek

SPRECHER:

Das heißt, tatsächlich kann ein zunächst unbedenklicher Spleen irgendwann zur Zwangsstörung werden, vor allem, wenn Ängste größer werden. Hat man beispielsweise große Angst vor einem Tennisturnier, dann kann der Spleen, vor dem Spiel alle Spielfeldlinien betreten zu müssen, besonders stark ausgeprägt sein. Verzögert sich aber das Turnier immer öfter, da man bestimmte Linien noch nicht betreten hat, dann wird es problematisch. Der Übergang ist fließend. 

Ob Fimmel vererbbar sind, dazu gibt es bislang kaum Forschungsergebnisse. Es scheint aber auch bei harmlosen Zwängen eine genetische Komponente zu geben, so die Psychologin Fanny Jimenez.

O-TON 8 JIMENEZ:

„Was man weiß, ist, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, die eine Rolle spielen bei Spleens, dass die relativ hochgradig vererbbar sind wie z.B. Ängstlichkeit. Jeder Mensch hat ein Angstlevel, mit dem er oder sie auf die Welt kommt, das ändert sich auch oft nicht über die Lebensspanne. D.h. so eine Grundbereitschaft sich zu fürchten oder sich Sorgen zu machen. Und das ist tatsächlich zu einem sehr großen Teil vererbt.“

SPRECHER:

Ängstlichere, kontrollbedürftige Menschen tendieren wohl eher dazu, einen Spleen zu entwickeln, so Jimenez, wobei sie hier darauf hinweist, dass dies wissenschaftlich noch nicht bewiesen ist. Bestätigt aber ist: Es gibt eine Gruppe von Menschen, die besonders spleen-anfällig ist.

O-TON 9 JIMENEZ:

„Das sind zum Beispiel Menschen, die ganz allein leben. Der Grund dafür ist, dass Menschen, auch als Erwachsene, immer noch andere Menschen brauchen, die ihnen helfen, ihre Gefühle zu regulieren. Also zum Beispiel Angst und Unsicherheit auszuhalten oder eben zu beruhigen und zu trösten, also gegenzusteuern.“

Musik 5: Brautlied – 40 Sek

SPRECHER:

Auch Kinder bewältigen ihre Ängste häufig mit leicht zwanghaften Verhaltensweisen. Oft sind es Begrüßungs- oder Verabschiedungsrituale, die stattfinden müssen, bevor der nächste Schritt erfolgen kann. 

Musik weiter

O-TON JIMENEZ 10:

„Als Kind kann man sich noch erinnern, wie wichtig das war, dass die Abende denselben Ablauf hatten, dass es die Gutenachtgeschichte gab, dass immer der Teddy mit dabei war.“

SPRECHER:

In der noch magischen kindlichen Welt verschafft sich das Kind durch immer gleiche Abläufe Orientierung.

O-TON 11 KELLNER:

„In der Kindheit haben die allermeisten von uns meistens so im einstelligen Lebensalter eine kleine zwanghafte Phase hinter sich gehabt, wenn man durch gewisse Berührungsfolgen oder gewisse Rituale vielleicht die Welt oder das Schicksal scheinbar etwas berechenbarer macht. Das ist ein Übergangsstadion, und wenn es kurz ist, sollten sich Eltern da keine großen Sorgen machen.“

SPRECHER:

So der Psychiater Michael Kellner, der noch eine weitere Gruppe nennt, die mit Verunsicherung und Neuorientierung konfrontiert ist: 

O-TON 12 KELLNER:

„Interessanterweise sind insbesondere schwangere Frauen und Frauen im Wochenbett durchaus etwas gefährdeter, Zwangsphänomene zu entwickeln.“

SPRECHER:

Eine gewisse Sensibilität ist ebenfalls ein Persönlichkeitsmerkmal, das ein zwanghaftes Verhalten wahrscheinlicher macht, so die Psychologin Katharina Bey von der Universität Bonn: 

O-TON 13 BEY:

Sensibilität gegenüber Gefahren oder auch Überschätzungen der eigenen Verantwortlichkeit. Manchmal ist es auch so ein Anspruch, dass man die eigenen Gedanken kontrollieren muss, dass es über die eigene Persönlichkeit etwas aussagt, welche Gedanken man hat, das sind so ganz viele, ja verschiedene Bewertungsprozesse, die damit auch einhergehen.

Musik 6: Twelve Month – siehe vorn – 15 Sek

SPRECHER:

Ein Beispiel: Fast jeder, der ein Messer in der Hand hatte, kam schon mal auf den Gedanken, dass man mit diesem Messer jemanden erstechen könnte. 

O-TON 14 BEY:                               

„Aber die meisten denken ja, das mache ich ja sowieso nicht, das wird nicht passieren, ich bin ja kein gewalttätiger Mensch, also warum sollte ich das machen und dann gehen Sie direkt zum nächsten Gedanken. Aber Menschen, die eben sehr sensibel sind, deren Alarmsensor, wie man das vielleicht nennen möchte, im Gehirn besonders sensibel ist, die machen sich dann gleich Gedanken, vielleicht bin ich dann wirklich ein schlechter Mensch, vielleicht gibt’s da einen Anteil in mir, der das tun möchte, vielleicht verliere ich die Kontrolle und könnte sowas tun und das ist dann natürlich total bedrohlich.“

SPRECHER:

Im Falle einer Zwangsstörung kann sich der Betroffene nicht mehr von diesem Gedanken lösen, dass er oder sie jemanden erstechen könnte und entwickelt darüber hinaus extreme Schuldgefühle. Die Angst vor dem Messer kann allerdings auch als subklinischer, einfacher Spleen auftreten, den Fanny Jimenez an sich selbst entdeckt hat: 

O-TON 15 JIMENEZ:

„Womit ich so ein bisschen Schwierigkeiten habe, ist, wenn mir Menschen gegenübersitzen, zum Beispiel beim Mittagessen, und das Messer des Gegenübers zeigt auf mich. Es ist irgendwie unangenehm, ich würde es auch aushalten, also es ist jetzt nicht so, dass ich mich dann gar nicht mehr konzentrieren kann. Aber es ist unangenehm und ich schieb dann meistens ne Wasserflasche oder den Brotkorb oder so dazwischen und dann ist es wieder gut. Das ist auch eine ganz typische Vorsichtsmaßnahme, weil das Gehirn antizipiert, dass dieses Messer potenziell ein gefährlicher Gegenstand sein könnte und daher sicherstellen will, dass wir das im Blick haben.“

SPRECHER:

Damit benennt Jimenez eine von mehreren Kategorien, in die man Spleens unterteilen kann. Sie können potentiellen Gefahren einen Riegel vorschieben, auch wenn die Gefahr selbst heutzutage wenig realistisch erscheint. Unsere Vorfahren waren einst wirklich gezwungen, Messern mit Misstrauen zu begegnen. So kann der Zwang, einem Messer eine Barriere vorzuschieben vor tausenden von Jahren ganz vernünftig gewesen sein - heute scheint er übertrieben, eigenartig, seltsam. Eine weitere Kategorie: Das Zählen von Objekten.

Musik 7: Gimme that shimmy – 32 Sek

O-TON G

„Ich zähle Treppenstufen. Wenn man fünf, sechs Stockwerke hat, dann macht‘s das angenehmer, mitzuzählen im Kopf.“ 

SPRECHER:

Andere Menschen bilden Quersummen aus den Nummernschildern, wenn sie im Stau stehen. Oder sie zählen die vorbeifahrenden Autos. Das sind Beschäftigungsmechanismen, die unser Gehirn anschaltet, wenn es sich langweilt, so Jimenez. Das Gehirn hat zudem eine ganz große Vorliebe für Symmetrie. 

O-TON 16 JIMENEZ:

„Und das ist im Gehirn sehr eng verbunden mit Konzepten, nämlich mit dem Konzept von Gerechtigkeit oder Ausgewogenheit, weswegen es z.B. zu solchen Spleens kommt: wir hatten vorhin die Treppenstufen, die man hochgeht und dabei zählt. Wenn man dabei eine Treppenstufe auslässt, weil man darüber springt, dann gibt es Menschen, die sagen, ich bin noch mal zurückgegangen, weil es war die einzige Treppenstufe, auf die ich nicht getreten bin.“

SPRECHER:

Ein amüsantes, populäres Beispiel für den Zählzwang: 

Musik 1:

Und ich zähle: 1,2,3,4 Shrimps zum essen, 1 Regenschirm nicht zu vergessen, 1,2 Segelboote, wunderbar, 1,2 Pelikane fliegen da… ist das beste tief im Meer, schwimmen Fische hin und her,, die ich zählen kann, haha!“

SPRECHER:

Das ist Graf Zahl aus der Sesamstraße.

O-TON 17 JIMENEZ:

„der ja davon lebt, dass er zählt, das sagt er ja auch: Ich lebe wenn ich zähle und der ist halt super spleenig als Figur, aber trotzdem lebt er ganz gut in der Sesamstraße und hat Freunde und kann seinen Alltag bewältigen.“

Musik 8: Immerzu –  21 Sek

SPRECHER:

Nicht ganz so amüsant sind die Spleens, die mit dem Aufstehen und dem Schlafengehen verbunden sind. Sie entstehen oft aus einem Bedürfnis nach Struktur, Sicherheit und Stabilität. 

O-TON H

„Wenn ich schlafen gehe, muss das Rollo immer gleich sein, die gleiche Höhe, ja. Es gibt mir Sicherheit, dann schlafe ich ruhiger ein.“ 

SPRECHER:

Spleens können also durchaus zur Routine werden. Und sie helfen auch hier dabei, sich zu regulieren. 

O-TON 18 JIMENEZ: 

 „Um Handlungen einen verlässlichen Rahmen zu geben, der gerade abends - Einschlafen war für unsere Vorfahren oft ein sehr gefährliches Unterfangen – die uns helfen einzuschlafen und uns sicher zu fühlen. 

Musik 9: Greenhouse –  30 Sek

SPRECHER:

Viele Eigenheiten drehen sich besonders um den Bereich der Hygiene. Der Putzfimmel ist ein weit verbreiteter Begriff. Die Betroffenen brauchen das Reinigen, um zur Ruhe kommen oder bei sich anzukommen. Ein Beispiel hierfür ist der Bericht eines Lufthansa Piloten, der nach langen Reisen wieder in seine vier Wände kam:

   O-TON 19 JIMENEZ:

„Und der hat mir erzählt, dass er, wenn er nach Hause kommt und todmüde ist und eigentlich nur schlafen will, dass er, bevor er sich hinlegen kann, anfängt zu putzen. Der Mensch ist ja ein territoriales Wesen, wie auch viele andere Säugetiere und viele andere Tiere, also wie so ein Vogel, der, wenn er zurückkommt, sein Nest putzt, damit es wieder ihm gehört und alles wieder so ist, wie er es braucht. 

SPRECHER:

Ein Putzbedürfnis, das grenzwertig werden kann, wenn der Schlaf zu kurz kommt. Dann kann ein Putzzwang vorliegen, der sich auch dadurch äußert, dass der Betroffene ständig desinfizieren muss, aus der Angst heraus sich anzustecken. Aber es gibt noch mehr krankhafte Zwangsphänomene, die in der Spezialambulanz rechts der Isar erfasst werden:

O-TON 20 KELLNER:

„Die Fragebögen, die wir den Patienten hier geben, ist ne Unterteilung bezüglich einerseits: Furcht vor Keimen beziehungsweise Kontaminationen. Die zwanghafte Befürchtung, am Unglück anderer Schuld zu sein. Dann die für die Patienten inakzeptablen Gedanken oder Befürchtungen. Und zum vierten: die neudeutsch „Not just right“-Phänomene, wo man so das Gefühl hat, die Sachen sind nicht ganz in Ordnung, man muss sie zurechtrücken, Symmetrie oder eine andere Ordnung herstellen.“

SPRECHER:

Bis in die 80er Jahre hinein meinten Mediziner und Psychologen, dass Zwangsneurosen kaum zu heilen seien.  Inzwischen aber gibt es vielversprechende Therapieerfolge, so der Psychotherapeut Michael Kellner. 

O-TON 21 KELLNER

„Erste Wahl sind definitiv verhaltenstherapeutische Psychotherapien. Sowohl die sogenannte kognitive Verhaltenstherapie, wo es sehr viel um Bewertungen von Gedanken, von Situationen, von Handlungen geht, um Neubewertung, die eben gegen die Zwangsrichtung zu einer realistischeren, zwangsferneren Einschätzung führen können. Aber insbesondere auch die sogenannten Expositions- oder Konfrontationstherapien bei der Zwangsstörung, die aber ne sehr gute Vorbereitung brauchen, bis der Patient diese teilweise sehr belastenden Therapien auch mitmacht, also zum Beispiel bei einer Kontaminationsangst.

SPRECHER:

Bei einer solchen Exposition wird der Patient in therapeutischer Begleitung mit der belastenden Situation konfrontiert. Bei dem Zwang, exzessiv zu waschen und zu desinfizieren, kontaminiert der Therapeut den Patienten stückweise durch Türklinken, Geldscheine oder durch Kontakt zur Toilette, bis die Anspannung heruntergeht, und der Betroffene lernt, die Restunsicherheit besser zu ertragen. Bei harmlosen Zwangsgedanken gelingt die Distanzierung von ganz alleine. Vorausgesetzt, dem Betroffenen ist sein Spleen bewusst.  

O-TON 22 JIMEMEZ:

„Es ist nicht ganz leicht, weil man muss sich dabei ertappen und wahrscheinlich sucht sich die Psyche dann einen anderen Weg, um zu beruhigen oder die Funktion zu erreichen, die es damit eigentlich erreichen wollte. Aber ja, das geht schon und das ist vielleicht auch ein wichtiger Punkt: wenn das nicht mehr geht, also wenn man einen Spleen so gar nicht abstellen kann, dann wird es schwierig und dann sind wir so ein bisschen in dem Graubereich: Ab wann ist es vielleicht nicht nur ein Spleen, sondern tatsächlich ja eher ein Symptom einer psychischen Erkrankung?

SPRECHER:

Eine Frage, die sich auch 2020 gestellt hat, als die Corona-Pandemie ausbrach. Innerhalb kurzer Zeit fingen die Menschen damals an, wie wild einzukaufen. 

Katharina Bey und ihre Kollegen von der Universität Bonn wollten genauer wissen, wer besonders zu Hamsterkäufen neigt.

O-TON 23 KATHARINA BEY:

„zu Beginn der Pandemie haben wir da eine Online-Umfrage durchgeführt, um dieses Thema der in den Medien damals sehr ja heiß diskutierten Hamsterkäufe aufzugreifen. Und da hat sich tatsächlich gezeigt, dass ein Faktor, der das begünstigen kann oder der damit zumindest korreliert ist, subklinische Zwangssymptome sind, also eine Person, die eher dazu tendiert, Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen zu haben, die hat dann in unserer Umfrage auch eher zu Hamsterkäufen tendiert.“

Musik 10: Twelve Month – siehe vorn – 19 Sek

SPRECHER:

Können bestimmte gesellschaftliche Bedingungen, globale Bedrohungslagen, unsichere Zeiten oder eine unvorhersehbare Zukunft dazu führen, dass Menschen zunehmend Zwangsverhalten entwickeln?

O-TON 24 KATHARINA BEY:

„Nicht jeder Mensch nimmt ja dieselbe Situation gleich wahr. Es ist erst kürzlich eine Metaanalyse erschienen. Da gab es große Schwankungen zwischen unterschiedlichen Kulturen und Personen, insbesondere bei Schwangeren war die Quote deutlich erhöht, was ja auch sehr nachvollziehbar ist. Also so, dass man schon gesehen hat, dass während der Pandemie Zwangsverhalten ja doch deutlich verstärkt war. Was sich aber dann mit Abklingen der Pandemie auch wieder reduziert hat.

SPRECHER:

Ob das Coronavirus zu einer Zunahme von ernsthaften Zwangserkrankungen in der Gesamtbevölkerung geführt hat, ist eher umstritten, so Michael Kellner vom Klinikum rechts der Isar. Was die Pandemie aber deutlich gezeigt hat: dass Verhalten, das als krank gilt, in einem Ausnahmezustand plötzlich selbstverständlich wird. Häufiges Desinfizieren hat damals eine eklatante Umdeutung erfahren hin zu einem vernünftigen Verhalten in einer bedrohlichen Lage. 

Ob Pandemie oder nicht: Menschen, die von ihrem Zwang so stark beeinträchtigt sind, dass sie ihren Alltag nicht mehr bewältigen können und dadurch Leidensdruck verspüren, sollten sich in Behandlung begeben. 

Musik 11: Spaziergang –  20 Sek

Was aber ist mit denen, die einfach nur ihre Spleens haben? Schadet ihnen oder ihrem Umfeld ihr zwanghaftes Verhalten, sollten sie sich ihre Eigenarten abtrainieren? Und wer bestimmt, was noch normal ist und was nicht? 

Musik aus

O-TON 25 JIMENEZ:

Also normal ist immer das, was eine Gesellschaft für normal hält. Und das bedeutet, dass das im Grunde ne große Verhandlungssache ist. Und mir war eben ein ganz großes Anliegen, mit diesem Buch zu zeigen, dass nicht alle Verhaltensweisen, die sich uns nicht auf Anhieb erschließen oder die für uns nicht Sinn ergeben, nicht automatisch bedeuten, dass derjenige ein Problem hat oder eben psychisch erkrankt ist. Ich würde da immer sehr vorsichtig sein, da so zu überpathologisieren und erstmal zu schauen, gibt es nicht vielleicht doch was, das dieses Verhalten, was derjenige zeigt, leistet? Weil meistens tut es das.

SPRECHER: 

Das zeigt auch eine Studie, die der schottische Neuropsychologe David Weeks in den 90er Jahren durchgeführt hat. 

O-TON 26 JIMENEZ:

„Und zwar hat er sich über 1000 Exzentriker gesucht, in England und in den USA, und hat die mehr als 10 Jahre lang begleitet, und seine Schlussfolgerung war, dass Menschen, die ihre Spleens eben ausleben und vielleicht sogar ein bisschen kultivieren, - denen es also nicht so wichtig ist, konform zu sein - dass die weniger Druck verspüren, dass sie ihrer Psyche eben regelmäßig etwas Gutes tun und dass sich das am Ende auf ihre Gesundheit auszahlt. Das heißt, die waren nicht nur seltener psychisch krank als andere Menschen, sondern sie hatten auch ein sehr gutes Immunsystem und sind seltener zum Arzt gegangen.“

Musik 12: Spaziergang – siehe vorn – 43 Sek

SPRECHER: 

Alle, die hier und da ein bisschen verrückt sind, und keinen Leidensdruck verspüren, können also beruhigt weiter ihren Marotten, Fimmeln, Ticks oder Spleens frönen. Und womöglich liegt sogar ein wenig Schönheit darin. So jedenfalls sah es der Maler Vincent van Gogh. Ihm wird ein Zitat zugeschrieben, das den kleinen Zwängen einen wunderbar ästhetischen Wert beimisst:

ZITATOR:

„Die Normalität ist eine gepflasterte Straße; man kann gut darauf gehen – doch es wachsen keine Blumen auf ihr.“