Sind Menschen frustriert oder unglücklich, richten sie ihre Aggression oft auf Personen oder Gruppen, die unbeliebt, leicht identifizierbar und machtlos sind: Man sucht - und findet - Sündenböcke. Die haben zwar oft gar nichts mit der konkreten Bedrohung zu tun, stärken aber scheinbar die Gemeinschaft. Von Frank Halbach
Sind Menschen frustriert oder unglücklich, richten sie ihre Aggression oft auf Personen oder Gruppen, die unbeliebt, leicht identifizierbar und machtlos sind: Man sucht - und findet - Sündenböcke. Die haben zwar oft gar nichts mit der konkreten Bedrohung zu tun, stärken aber scheinbar die Gemeinschaft. Von Frank Halbach
Credits
Autor und Regie dieser Folge: Frank Halbach
Es sprach: Katja Bürkle
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Dr. Helga Schachinger, Sozialpsychologin
Prof. Dr. Claus Leggewie, Politikwissenschaftler
Literatur:
-Christian Bartolf: Das Opfer und der Sündenbock: Gedanken zur Ethik der Gewaltfreiheit. Eine kulturanthropologische Untersuchung zweier Opfertheorien (unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenhangs von Opfermythos und Sündenbockmechanismus). Berlin 2020.Umfangreiche Abhandlung über den Sündenbock in der Kulturtheorie.
Helga Elisabeth Schachinger: Wie Frieden schaffen? Eine Sozialpsychologie von Trauer- und Versöhnungsarbeit. In: Psychologie in Österreich 3 2023, S. 207-213. Geht der Frage nach, welche Identitätsentwicklung ohne Feindbilder möglich erscheint
Claus Leggewie: Anti-Europäer. Breivik, Dugin, al-Suri & Co. Berlin 2016. Präzise Analyse, wie Populisten die mythischen Muster von Sündenbock und Opfer-Kult für ihre Zwecke nutzen.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK „Mad Rush“; ZEIT: 01:19
Wieder zu spät? Ja, natürlich, Sie sind nicht schuld, sondern - wie immer!- die Bahn! Dann eben mit dem Auto. Schon wieder zu spät? Wegen der rücksichtslos und ohne Umsicht fahrenden Machos? Oder wegen dieser bummelnden Frauen am Steuer?
Wieso müssen wir überhaupt so hetzen? Warum sind wir so im Stress? Wir müssen immer mehr leisten. Die Jugend kümmert sich nur noch um Work-Life-Balance, anpacken will von denen keinen mehr. Nein? Schuld sind doch die viel zu vielen Alten, deren Rente wir bezahlen müssen, während wir wahrscheinlich gar keine mehr kriegen?
Wir sind echt arm dran. Und wir können nichts dafür. Schuld sind die anderen: der hochbezahlte, aber unfähige Trainer, die Ausländer, die ignoranten Lehrer, die die Begabung meines Kindes nicht erkennen, die Sozialschmarotzer, die Politiker, die Klimakleber – Schuld sind: die anderen!
Bevorzugt natürlich die, gegen die wir Vorurteile hegen. Und die traurige Wahrheit ist:
Alle Menschen – und zwar wirklich ALLE - haben Vorurteile, doch nur 40% erkennen sie bei sich.
MUSIK ENDE
O-Ton 1 Schachinger (15:11)
Schon kleine Kinder. Wenn die irgendetwas machen, was sie nicht machen dürfen, können die schon, sobald Sie reden können im Kindergarten, wenn sie irgendetwas machen, sagen sie: „Nein. Nein, ich bin nicht schuld. Die hat angefangen, oder der hat angefangen.“ Also Schuld bei anderen zu suchen, ist sozusagen etwas Urmenschliches, das kennen wahrscheinlich alle Menschen in der einen oder anderen Form.
SPRECHERIN
Sagt die Sozialpsychologin und Buchautorin Dr. Helga Schachinger.
O-Ton 2 Schachinger (15:38)
Und deswegen funktioniert das auch auf der Gruppenebene so gut, weil es für einen selber angenehmer ist, wenn man dann als braver und unschuldiger Mensch dasteht und man sagen kann: „Nein, er hat angefangen.“
MUSIK „In your head now“; ZEIT: 00:55
SPRECHERIN
Eine verlorene Ernte, an einer Krankheit eingegangenes Vieh: In der frühen Neuzeit war schnell klar, wer schuld war: Die, die abseits des Dorfes wohnte, die mit den roten Haaren: die Hexe.
Man möchte meinen die Hexenverfolgung sei ein Relikt der Vergangenheit. Aber die Jagd auf Minderheiten, auf Außenseiter oder Schwächere in unserer Gesellschaft ist keineswegs verschwunden. Sie
ist allgegenwärtig in der Politik, im Sport und im Privatleben: die Suche nach Sündenböcken.
Früher wurden die, die man für schuldig befand, öffentlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Heute fegt meist „ganz zivilisiert“ der Shitstorm der „sozialen“ Medien über die Sündenböcke hinweg.
Aber warum brauchen wir überhaupt Sündenböcke? Und wie werden sie erzeugt?
MUSIK ENDE
O-Ton 3 Schachinger (01:06)
Wir haben in der experimentellen Sozialpsychologie die Begrifflichkeiten „Fremdgruppen“ im Gegensatz zu „Eigengruppen“ beziehungsweise Fremdbilder im Gegensatz zu Selbstbildern. Und aus diesem Fremdgruppen und Fremdbildern werben eben auch unter Umständen, wenn bestimmte Bedingungen eintreten, Feindgruppen und Feindbilder.
SPRECHERIN
Zunächst aber ist die Einteilung in Fremdbilder und Selbstbilder ein Prozess, der einfach nur dazu dient, die vielschichte Wirklichkeit so zu vereinfachen, dass sie verarbeitet werden kann.
O-Ton 4 Schachinger (02:59)
Es werden Kategorien gebildet. Das sind abstrakte Gruppenbildungen. Umgangssprachlich könnte man sagen: Menschen verwenden gerne Schubladen, in die sie Menschen hineinstecken.
Und durch diese Kategorienbildung entstehen eben dann diese Eigen- und diese Fremdgruppen, wobei die Eigengruppe die Gruppe ist, der ich selber angehöre, und die Fremdgruppe ist die Gruppe, der ich nicht angehöre. Und die Kategorien können jetzt ganz unterschiedlich und komplett beliebig sein.
SPRECHERIN
Das Denken in Bildern und Kategorien ist ein grundlegender psychischer Prozess: Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Partei, Hobby, Religion… alles Kategorien, die Orientierung bieten und helfen sollen die eigene Identität in Abgrenzung von anderen zu bestimmen. Gruppenbildungen erfüllen das menschliche Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit. Eine positive soziale Zugehörigkeit schenkt ein positives Selbstwertgefühl. So weit so gut. Aber:
O-Ton 5 Schachinger (05:43)
Es gehen damit bestimmte Denkfehler einher, die in vielen, vielen Studien schon in den 50er, 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts nachgewiesen wurden. Diese Denkfehler sind zum Beispiel, dass eine Fremdgruppe, egal ob das jetzt für mich als Frau, die Männer sind, oder für mich als ältere Frau die jungen Menschen sind. Diese Fremdgruppe wird homogener und gleichartiger wahrgenommen, als sie tatsächlich ist.
SPRECHERIN
Es wird also verallgemeinert, über einen Kamm geschoren: Typisch Mann! Typisch Frau! Die Jugend! Die Ausländer! Die Muslime!
O-Ton 6 Schachinger (07:05)
Also der eine Fehler ist: Fremdgruppen werden homogener und gleichartiger wahrgenommen, als sie tatsächlich sind.
Und der zweite Denkfehler - auch bestens nachgewiesen seit Jahrzehnten in Studien - ist, dass die Unterschiede zwischen der eigenen Gruppe und der Fremdgruppe, egal ob das jetzt jung-alt, Mann-Frau, was auch immer ist, diese Unterschiede werden größer wahrgenommen, als sie tatsächlich sind.
SPRECHERIN
Zum Beispiel: Frauen können sich nicht durchsetzen. Männern fehlt das Einfühlungsvermögen. Oder: die Muslime passen einfach nicht zu „unserer“ Kultur.
SPRECHERIN
So entsteht Parteilichkeit in sozialen Beziehungen: Beispielsweise werden Menschen derselben Hautfarbe, Kultur oder Sprache bevorzugt.
Wer fühlt sich nicht in „vertrauter“ Gesellschaft am wohlsten?
Aus Parteilichkeit werden schnell Vorurteile: Gegen das vorab Verurteilen haben Fakten oder Argumente bereits kaum noch eine Chance.
Wird das Vorurteil zum Ausdruck gebracht, wird es zur Diskriminierung.
Dazu rückt man oft Merkmale in den Vordergrund, die man für typische Merkmale einer bestimmten Gruppe hält, zum Beispiel Haar- oder Barttracht.
O-Ton 7 Schachinger (12:44)
Das heißt es wird der Selbstwert der eigenen Anhängerschaft
gehoben, in dem eine andere Gruppe abgewertet wird, als minderwertig oder wie es die Nazis gemacht haben, als Untermenschen, als lebensunwertes Leben, das eigentlich gar nicht verdient zu leben. Also, es kommt zu extremen Abwertungen, und gleichzeitig wird die eigene Gruppe unrealistisch idealisiert und erhöht.
SPRECHERIN
Aus der Identitätsstiftung im Spannungsfeld von wir und die anderen wird: Wir gegen die anderen.
Am Ende der Spirale steht die Jagd nach Sündenböcken: verbale oder gar physische Angriffe. Und da bevorzugt Mitglieder von Minderheitsgruppen angegriffen werden, können sich die Opfer in der Regel schlecht bis gar nicht wehren.
MUSIK „In Doubt“; ZEIT: 01:05
Diese Wehrlosigkeit des Opfers entspricht einem uralten Muster: Magisches Denken, also die Annahme, man könne die Götter, das Schicksal, die Götter oder das Schicksal durch bestimme Handlungen oder Rituale beeinflussen, die Außenwelt zum Positiven verändern, Unheil abwenden.
Ein Blick in die Kulturgeschichte der Menschheit zeigt:
In Krisenzeiten befolgen Gemeinschaften seit Menschengedenken ein Patentrezept: das Ritual der Opferung.
In alten Kulturen waren die Opfer Menschenopfer. Sie wurden später durch Tieropfer ersetzt. Ein spezielles Opfer spielte im Judentum bis zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels, im Jahr 70 nach Christus, eine besondere Rolle: In der Liturgie des Großen Versöhnungstages wurde ein Bock symbolisch mit den Sünden des Volkes Israel beladen und in die Wüste getrieben. Danach galt die Gemeinschaft gereinigt und Gott und Mensch versöhnt.
MUSIK ENDE mit GONG MUSIK “The Temple of Doom”; ZEIT: 00:03
Diese Art von Opfer, das Sündenbockritual, nimmt auch eine zentrale Stellung in den Überlegungen des Kulturanthropologen, Religionsphilosophen und Literaturwissenschaftlers René Girard ein. Girards Thesen gelten als wegweisend hinsichtlich einer kulturgeschichtlichen Betrachtung des Sündenbockdenkens:
MUSIK 4 „Organics“; ZEIT: 00:57
Eine menschliche Gesellschaft, so René Girard, sei nur dann überlebensfähig, wenn sie in der Lage sei, die Ausbreitung von Gewalt innerhalb einer Gruppe erfolgreich entgegenzuwirken.
Indem die Gruppe ein Objekt oder Kollektiv als schuldig ausmacht, polarisiert sie die Gewalt einheitsstiftend.
Eigene Schuld und Aggression wird auf einen Sündenbock projiziert.
Das geschieht vermehrt in Krisenzeiten. Die Hexenverfolgung des 16. Jahrhunderts zum Beispiel, der 40.000 bis 60.000 Menschen, zumeist Frauen, zum Opfer fielen, sie lässt sich auf die klimatische Abkühlung der Kleinen Eiszeit zurückführen, die Ernteausfälle und Hunger zur Folge hatte.
MUSIK ENDE
O-Ton 8 Schachinger (14:07)
Krisen sind natürlich der perfekte Zeitpunkt, um Sündenböcke zu generieren. Sündenböcke haben den Vorteil: Das ist leicht zu kommunizieren, wenn man sagt: die sind die Bösen. Und komplexe Gemengelagen und komplizierte Ursachenfaktoren sind viel schwieriger zu kommunizieren, sind schwer verstehbar. Und meistens gibt es ja auch eigene Fehler und hausgemachte Probleme. Von diesen eigenen Fehlern und hausgemachten Problemen kann ich bestens ablenken, indem ich eben ein Feindbild und einen Sündenbock habe, auf den nicht alles Negative abschieben kann.
SPRECHERIN
Den Schuldigen auszustoßen, ihn zu opfern, stabilisiert die Gruppe. Das „Eigene“, das sich als eine Gruppe von Opfern interpretiert, macht den Sündenbock im „Fremden“ aus. Dem Sündenbock werden möglichst sichtbare Merkmale zugeordnet, beispielsweise Hakenasen, Schläfenlocken, dunkler Teint, lange Bärte oder Kopftücher.
Diese alten Muster prägen uns nicht nur bis heute, sondern bergen auch das Potential, uns zu manipulieren: Populisten machen sich zunutze, wie wir ticken: Sie erklären uns zu Opfern und sich selbst zu unseren Anwälten.
MUSIK „Mad Rush“; ZEIT: 00:29
O-Ton 9 Trump (06.25)
The forgotten men and women of our country will be forgotten no longer…
SPRECHERIN
Populisten teilen großzügig die Unschuld des Opfers. Denn Schuld sind – wie wir wissen – immer die anderen.
O-Ton 10 Weidel W0461466
Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse werden unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und vor allem den Sozialstaat nicht sichern.
MUSIK ENDE mit MUSIK “The Temple of Doom”; ZEIT: 00:03
O-Ton 11 Leggewie (01.22)
Im Grunde genommen appellieren die Populisten, die ich autoritäre Nationalisten nenne, an den Täterinstinkt derjenigen, die sie ansprechen.
SPRECHERIN
Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie beschäftigt sich seit langem eingehend mit den Narrativen des Populismus und der damit verbundenen Übertragung von Frust und Wut auf Sündenböcke.
O-Ton 12 Leggewie (01:33)
Das heißt, hier hat sich über Jahrzehnte hinweg ein großes Rachebedürfnis, ein großes Ressentiment, eine große Wut gegenüber der etablierten Politik, gegenüber anderen Eliten aufgestaut. Und was Trump, Putin, Erdoğan und europäische Nationalisten tun ist im Grunde genommen, den Täterinstinkt der Revanche gegen diese Eliten zu steigern. Das wird allerdings in der Tat mit einer Opferrhetorik unterlegt, kein Täter würde gerne Täter sein; es ist attraktiver ein Opfer zu sein und aus einer Art Notwehrsituation heraus zu reagieren.
SPRECHERIN
Der individuellen Sehnsucht des Einzelnen nach Identität wird also eine gemeinsame Identität als Opfer angeboten.
O-Ton 13 Leggewie (01:33)
Das Problematische an so einer Konstruktion ist natürlich, von vorneherein, dass Täter und Opfer immer Einzelpersonen sind, immer Individuen. D.h., sobald eine Gruppe sich als Gruppe in den Opferstatus hinein fantasiert, einen Opfermythos entwickelt, der gewissermaßen diese Gruppe begründet, wird es schon problematisch.
SPRECHERIN
Präsentiert wird dieser gemeinschaftsstifte Opfermythos allzu gerne von einem auserwählten Anführer. Angeblich ist der einer von uns – und der Retter der Unzufriedenen, Wütenden und angeblich Abgehängten.
O-Ton 14 Leggewie (18.34)
Sie haben sich einen Volkstribun ausgesucht, sie haben sich eine Führerpersönlichkeit ausgesucht, die so ist wie sie selbst - das betrifft z.B. die Vulgarität der Sprache, das betrifft die Schlichtheit des Denkens, das betrifft die Unverschämtheit und Respektlosigkeit gegenüber Leuten, die was von der Sache verstehen. All diese Dinge erkennen sie in ihm, es ist einer von ihnen, aber es ist jemand der Macht hat, deswegen gerne ein Milliardär, wie Trump oder Berlusconi, deswegen gerne jemand aus dem Geheimdienst wie Putin, deswegen gerne jemand, der sich ein Vermögen zusammengeklaut hat wie Viktor Orban oder Erdoğan.
MUSIK „In your head now“; ZEIT: 00:32
SPRECHERN
Jemand, der offen die Schuldigen benennt und heilige Wahrheiten ausspricht, die nicht hinterfragbar sind.
O-Ton 15 Kellyanne Conway
We have Alternative Facts!
SPECHERIN
Endlich trifft die gefühlte Wahrheit zu. Mythische statt faktische Wahrheit. Vom Propheten, der uns Opfern beisteht gegen „die da oben“, die uns doch „nur verarschen“, wie es so oft heißt.
MUSIK ENDE
O-Ton 16 Leggewie (19.20)
Also der Widerspruch besteht nicht darin, dass Menschen glauben, ein Milliardär könnte die Armen retten, sondern der Widerspruch besteht darin, dass die Milliardäre sich einen Scheißdreck darum kümmern, was ihre Bevölkerung für Wünsche hat, sondern sie an der Nase herumführt. Es ist ganz eindeutig so, dass die genannten Autokraten alle ihr privates Interesse, das ihrer Familie, das ihres Clans, bedienen, und nicht im Mindesten irgendeine Hinwendung zu, Zuwendung, Fürsorge für das bedrückte Volk haben. Da hat Bertolt Brecht in den 30er Jahren gesagt: „Die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber.“ Das ist der Prozess, den wir im Moment haben, d.h., es gelingt diesen Superreichen, Supermächtigen tatsächlich, den Widerstand, den man eigentlich gegen die Macht erwartet von populistisch genährten Gruppen, also „gegen die da oben“, die können umgepolt werden, nicht auf sie selbst dort oben, sondern auf Minderheiten, Fremde, Einwanderer, Flüchtlinge, Schwächere. Das ist der Trick, der hier passiert.
SPRECHERIN
Es werden kollektive Sündenböcke angeboten: Feindbilder, gezielt entwickelt, um bestimmte Minderheiten zum Sündenbock für aktuelle Krisenerscheinungen zu machen oder von der eigenen mangelnden oder nachlassenden Legitimation abzulenken.
Eine solche Projektion auf einen Sündenbock kann für die Bevölkerungsmehrheit eine identitätsstiftende Funktion bekommen. Sagt der Politikwissenschaftler Claus Leggewie.
O-Ton 17 Leggewie (21:25)
Der entscheidende Begriff ist natürlich der der Identität, das ist ja der Catch-all-Begriff, das Passepartout dafür, aller rechten autoritären Nationalisten. Die Vorstellung ist aus der Ich-Psychologie entlehnt und zwar fälschlicherweise. Auch das geht wieder nicht. Ich kann von mir sagen, wer ich bin. Und ich kann mir sagen, dass ich bestimmte Identitätsmerkmale habe, die teilweise übereinstimmen, teilweise auch miteinander im Konflikt sein können. Ob es eine Wir-Identität gibt, ob es so etwas gibt, wie völkische, nationale oder wie auch immer Identität, wage ich stark zu bezweifeln. Ganz einfach deswegen, weil eine solche Menge von Individuen, mit so vielen unterschiedlichen Lebensentwürfen auf keinen Fall eine verbindliche kollektive Identität bekommen kann.
MUSIK „In Doubt“; ZEIT: 01:05
SPRECHERIN
Um die Welt zu verstehen, teilt unser Gehirn sie von Kindheit an in Begriffe, Kategorien und Bilder ein: Das ist ein Hund, der bellt „Wau wau“, das ist eine Katze, die maunzt „Miau“. So kategorisieren wir nicht nur andere, sondern sortieren uns auch selbst in dieser Welt ein:
„Ich bin ein Mädchen, blond, 7 Jahre alt, tanze gerne und möchte mal Schauspielerin werden.“
Dieser grundlegende psychische Prozess findet bei jedem automatisch und ständig statt. Denn diese Bilder haben für unser kognitives System entscheidende Vorteile, wie zum Beispiel schnelles Reagieren in kritischen Momenten. Sie reduzieren die Komplexität der sozialen Welt und tragen entscheidend dazu bei, unsere eigene Identität
zu formen.
MUSIK ENDE
Die Einteilung der Welt in Schubladen macht es einerseits möglich, mit ihr zurechtzukommen. Andrerseits sollten wir uns vor Augen halten, dass eine verbindliche kollektive Identität gar nicht wirklich existiert. Die Psychologin Helga Schachinger:
O-Ton 18 Schachinger (09:28)
Keine Gruppe, von diesen vielen Gruppen, in die wir Menschen einteilen können, ist eine einheitliche, homogene Masse. Sondern jede Gruppe ist, wenn sie hinreichend groß ist, zerfällt sie in der Regel viele Untergruppen, (...) Und nicht nur gibt es viele Untergruppen in der Regel, sondern jede Gruppe ist de facto ein bunter Haufen aus unterschiedlichsten Individuen mit unterschiedlichen Zielen, die diese Individuen verfolgen, mit unterschiedlichen Eigenschaften, Merkmalen Denkmustern, Meinungen.
SPRECHERIN
„Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.“ Dieses Zitat des Münchner Komikers Karl Valentin ist ein Leitmotiv für die Erfahrungen, die
Migranten machen, jedoch ebenso für uns selbst.
Eine Studie der Krankenkasse IKK classic hat ergeben, dass die Mehrheit der Menschen von Vorurteilen betroffen ist oder war.
Besonders oft sind LGBTIQ* und Menschen mit körperlichen Einschränkungen betroffen. Menschen mit Migrationshintergrund werden häufiger bei der Wohnungssuche benachteiligt, schlechter bewertet oder man unterstellt ihnen schlechtere Deutschkenntnisse. Die Studie hat außerdem festgestellt, dass ein sichtbarer Zusammenhang zwischen Diskriminierungserfahrungen und Erkrankungen besteht.
Wir alle können bei der Verschiebung negativer Gefühle oder Aufwertung einer Gruppe selbst zu Sündenböcken werden.
O-Ton 19 Schachinger (16:30)
Und daher ist es so einfach dann mit guter Propaganda sozusagen auch ganze Gruppen zu Sündenböcken und Feindbildern zu machen. Weil dann sind wir die Braven, die eh alles richtig machen, aber die anderen sind die Bösen und da werden wir uns ja bitte wohl verteidigen dürfen.
SPRECHERIN
Aber unsere Welt ist nicht einfach, sie ist nicht schwarz-weiß. Wenn wir Anderes, Neues, Abweichendes ausblenden, wenn wir unsere Bilder und Kategorien nicht weiterentwickeln können, werden unsere Auffassungen zu Vorurteilen gerinnen: Was nicht in unser Bild passt, „übersehen“ wir, andere einzelne Merkmale werden überbetont, aus vielen unterschiedlichen einzelnen Menschen kann ein kollektiver Sündenbock werden.
Das wirksamste Mittel gegen Vorurteile ist und bleibt: Kontakt. Wir sollten unsere Identität besser mit als gegen die Anderen entwickeln.
O-Ton 20 Schachinger (17:25)
Es ist für mich unglaublich: wir haben seit der Steinzeit als Menschheit einen unglaublichen Fortschritt gemacht (…) 17:54 Aber wir haben es nicht geschafft, diese grundlegenden psychologischen Mechanismen von Gut und Böse zu überwinden. Und da sind die Bösen, und wir sind die Guten - und dabei schlagen wir uns jetzt wechselseitig die Schädel ein.
MUSIK „Readytoconect“; ZEIT: 01:15
SPRECHERIN
Zur Entwicklung von Vielfalt und Veränderungsfähigkeit nennt Helga Schachinger drei Identitätsebenen:
1. Die individuelle Identität: Wer bin ich und was macht mich einzigartig?
2. Die soziale Identität: Wir sind soziale Wesen und gehören unterschiedlichsten Gruppen an, doch die subjektive Wichtigkeit von sozialen Zugehörigkeiten ist flexibel.
3. Die Globale oder universelle Identität: Wie wäre es, wenn Sie sich als Teil der Menschheitsfamilie sehen? Eine solche globale Identität fußt auf universellen Gemeinsamkeiten, die wir alle miteinander teilen, wie Gefühle oder Lernfähigkeit.
Umfassende Verbundenheit und Verantwortung statt Abgrenzung und Schuldabwälzung auf Sündenböcke?
Geeint sein in größter Vielfalt und Kooperation - eine unrealistische Utopie? Oder überlebensnotwendig für die Menschheit?