radioWissen - Bayern 2   /     Der Schulweg - frĂŒher und heute, hier und anderswo

Description

Elterntaxi, Schulbus oder stundenlanger Fußmarsch - allmorgendlich machen sich zig Kinder auf den Weg zur Schule. Wie hat sich dieser Weg im Laufe der Jahrhunderte verĂ€ndert? Und wie sieht er in anderen LĂ€ndern aus? Radiowissen mit einer Reise durch die Zeit, entlang der Schulwege dieser Welt. Von Susanne Hofmann

Subtitle
Duration
00:22:16
Publishing date
2024-09-10 09:20
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/der-schulweg-frueher-und-heute-hier-und-anderswo/2097362
Contributors
  Susanne Hofmann
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2097362/c/feed/der-schulweg-frueher-und-heute-hier-und-anderswo.mp3
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Shownotes

Elterntaxi, Schulbus oder stundenlanger Fußmarsch - allmorgendlich machen sich zig Kinder auf den Weg zur Schule. Wie hat sich dieser Weg im Laufe der Jahrhunderte verĂ€ndert? Und wie sieht er in anderen LĂ€ndern aus? Radiowissen mit einer Reise durch die Zeit, entlang der Schulwege dieser Welt. Von Susanne Hofmann

Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Frank Halbach
Es sprach: Stefan Wilkening
Redaktion: Maike Brzoska

Im Interview:
Prof. Dr. Rudolf Egger, Professor fĂŒr PĂ€dagogik am Institut fĂŒr Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Karl-Franzens-UniversitĂ€t Graz, Fachbereichsleiter Empirische Lernweltforschung 
Saskia Haspel, GrĂŒnderin und Leiterin der österreichischen Montessori-Akademie in Wien
Malte Pfau, Campaigner fĂŒr Bildung der Kindernothilfe

Linktipp:

- Malte Pfau: Zur Schule ohne Hindernisse – Was Schulwege weltweit mit dem Kinderrecht auf Bildung zu tun haben, 2023: https://www.bildungskampagne.org/zur-schule-ohne-hindernisse-was-schulwege-weltweit-mit-dem-kinderrecht-auf-bildung-zu-tun-haben HIER gehts zur Website

Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ERZÄHLER

Wenn Frieda Specker, geboren 1932 in Augsburg, von ihrem Schulweg erzĂ€hlt, blitzen ihre Augen vergnĂŒgt. Sie erinnert sich noch genau an ihre Erlebnisse, damals vor mehr als 80 Jahren:

MUSIK ENDE

1. ZUSPIELUNG Frieda Specker

„Also wir sind mit Freundinnen und mit meiner Schwester immer gemeinsam in Schule gegangen, haben Blödsinn gemacht. Und es war immer schön. Im Winter haben wir Schneeballen in die Kirch nei geschmissen oben, und wenn meine Mutter kein Brot mehr hatte, dann haben wir zehn Pfennig gekriegt. Und dann hat sie gesagt: Aber nicht mit Kuchen vertun, sondern wir sollten uns zwei Brezen kaufen. Ja, was haben wir uns gekauft? Boxer! Boxer waren Amerikaner, die unten mit Schokolade bepinselt waren oder mit Zuckerguss. Ja, und da war man natĂŒrlich als Kind ganz wild drauf. Und dann sind wir weiter die Karmelitengasse hoch und da war links das GefĂ€ngnis. Und da sind wir immer mit Ehrfurcht vorbei gegangen und haben Mitleid gehabt und Angst gehabt, was da fĂŒr RĂ€uber drin sind. Und am RĂŒckweg da war dann ein Schuster, der immer so blöd geschaut hat, da haben wir immer an die Scheibe hingehauen, und da habe ich mal zu fest hingehauen, das war eine Katastrophe! Ja, da kann ich mich gut erinnern. Ja, freilich ja, ja, meine Eltern mussten das ersetzen, und: So ein freches Kind!

MUSIK  „Sophies Thema“; ZEIT: 00:31

ERZÄHLER

Kleine Abenteuer erleben, Streiche spielen, auch einmal ĂŒber die StrĂ€nge schlagen – das ist es, was auch Waltraud Fischer, geboren 1943 im AllgĂ€u, von ihrem Schulweg in Erinnerung geblieben ist. Noch heute weiß sie, wie sie die Kinder beneidet hat, die in den Einödhöfen hoch oben auf dem Berg lebten – denn deren Schulweg war besonders lang.  

MUSIK ENDE

2. ZUSPIELUNG Waldtraud Fischer 

Und drum sind wir öfter mal mitgegangen mit denne, das war einfach toll. Freiheit! Du bist nicht so schnell heimgekommen. Im Winter sind sie mit dem Schlitten gekommen. Und man hat gestritten miteinander, und man hat auch die Buben geÀrgert. Das hat dazu gehört, und es war einfach schön. 

MUSIK privat Take 009 „Realise“; Album: Eyes of a Beginner; Label: 2013 Thomas Marland; Interpret: Thomas Marland; Komponist: Thomas Marland; ZEIT: 00:34

ERZÄHLER

Den Schulweg umgibt ein Hauch von Freiheit, nicht nur in der Erinnerung der beiden Ă€lteren Damen. Er bietet von je her fĂŒr viele Kinder und Jugendliche einen Freiraum zwischen den Anforderungen der Schule und den Anforderungen der Eltern, eine Nische, in der sie sich weitgehend ohne Erwachsene bewegen können – jedenfalls wenn sie es dĂŒrfen, sagt die Montessori-PĂ€dagogin Saskia Haspel, GrĂŒnderin und Leiterin der österreichischen Montessori-Akademie in Wien:

MUSIK ENDE

3. ZUSPIELUNG Saskia Haspel

Der Schulweg ist in mehrfacher Hinsicht etwas ganz Besonderes fĂŒr Kinder. Einerseits kann er eine sehr gute BrĂŒcke darstellen zwischen dem Zuhause und umgekehrt. Das heißt, das Kind hat Zeit, EindrĂŒcke zu verarbeiten, sich auch einzustellen darauf, was jetzt Neues kommt. Menschen brauchen ja Zeit fĂŒr viele ÜbergĂ€nge aus einer Situation in die andere. Und das leistet der Schulweg schon einmal sehr, sehr gut, da Zeit zu geben. Das zweite, und fĂŒr uns als PĂ€dagoginnen vielleicht immer das Wichtigste ist, dass Kinder durch die selbstĂ€ndige BewĂ€ltigung des Schulwegs einfach eine ganz andere Möglichkeit haben, sich draußen in der Welt zu bewĂ€hren. Also nicht nur einfach in die Schule zu gehen, sondern natĂŒrlich auch Situationen vorzufinden, mit denen sie vielleicht nicht gerechnet haben oder die vielleicht auch an einer Stelle mal ein bisschen herausfordernder sind, und dann auch dieses GefĂŒhl haben zu können: Ich habe etwas selbstĂ€ndig bewĂ€ltigt – sei es jetzt leicht gewesen oder auch einmal bisschen schwieriger.

ERZÄHLER

Eine Straße ĂŒberqueren, sich vielleicht an einem finsteren Eck oder einem klĂ€ffenden Hund vorbeitrauen, mit anderen ins GesprĂ€ch kommen, in der Schule Erlebtes besprechen, sich mit dem Taschengeld eine Kleinigkeit kaufen – Kinder, die solche Situationen ohne Eltern meistern, bekommen die Chance, sich als selbstĂ€ndig und erfolgreich zu empfinden. FĂŒr ihre Entwicklung ein wichtiger Schritt, ist die PĂ€dagogin Saskia Haspel ĂŒberzeugt. Das entscheidende Ziel nennt sich Selbstwirksamkeit:

4. ZUSPIELUNG Saskia Haspel

Also ich fĂŒhle mich mĂ€chtig, etwas in dieser Welt zu schaffen oder zu verĂ€ndern. Und je Ă€lter das Kind wird, desto grĂ¶ĂŸer ist natĂŒrlich der Spielraum. Je mehr wir es behindern, desto weniger kann es das GefĂŒhl aufbauen: Ich kann etwas schaffen. Vielleicht nicht beim ersten Mal, vielleicht beim zehnten Mal. Also es hat sehr viel zu tun mit Selbstvertrauen, ja, aber auch mit SelbstwertgefĂŒhl. ((Wenn ich mich als handelnde Person fĂŒhlen kann, die etwas bewirken kann in dieser Welt, ja, ich glaube, was wĂŒnschen wir uns mehr fĂŒr unsere Kinder als, dass sie sich zu solchen Menschen entwickeln?))

ERZÄHLER

Auf dem Schulweg sind das viele kleine unscheinbare Situationen, in denen sich Kinder selbstwirksam fĂŒhlen können, sagt Rudolf Egger, Professor fĂŒr PĂ€dagogik am Institut fĂŒr Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Karl-Franzens-UniversitĂ€t Graz. Und dennoch prĂ€gt sich diese Erfahrung ein, auch unbewusst:

5. ZUSPIELUNG Rudolf Egger

Ein kleines Beispiel: Ein MĂ€dchen kommt an eine Kreuzung, und dort ist ein FußgĂ€ngergang in Zebrastreifen. Sie schaut nach links, sie schaut nach rechts, so wie sie das gelernt hat, wieder nach links, und da kommt ein Riesen SUV daher, und sie schaut dem Fahrer in die Augen, und der Fahrer wird langsam, und nur durch den Augenkontakt merkt dieses MĂ€dchen, dass es einen riesengroßen Volvo abbremsen kann, wir nennen das Joint Attention, das sind die BegegnungsflĂ€chen, wo ich merke, ich brauche nicht immer eine Druckknopfampel oder SchĂŒlerlotsinnen und -lotsen. Ich kann selber, durch so etwas Bescheidenes wie den Augenkontakt, was eigentlich was Großartiges ist, in die Gesellschaft eingreifen und dort meinen Platz finden. 

ERZÄHLER

Doch der PÀdagogik-Professor Rudolf Egger beobachtet, dass Kindern die Möglichkeit, solche Erfahrungen zu machen, inzwischen oft genommen wird. Das habe mit der Motorisierung und mit der getakteten Arbeitswelt ihrer Eltern zu tun. 

6. ZUSPIELUNG Rudolf Egger 

Vielleicht haben Sie das auch schon festgestellt – so 20 Minuten vor Schulbeginn ist quasi Großkampf-Arena vor den Schulen. Die Eltern wĂŒrden ihre Kinder am liebsten mit dem SUV in die Klasse fĂŒhren, weil sie Angst vor dem Verkehr haben, den sie selber verursachen. Und das ist der Teil, wo wir uns gefragt haben: Was hĂ€ngt eigentlich am Schulweg, wenn immer weniger Kinder quasi einen selbstgestalteten Schulweg haben - wie hĂ€ngt es dann mit dem Erleben der Umwelt, mit dem Erlernen von Demokratie, mit dem Erlernen des Miteinander - wie hĂ€ngt das zusammen?

MUSIK  „“I need exile; ZEIT: 00:50

ERZÄHLER

Rudolf Egger forscht zu Lernprozessen, die außerhalb von Institutionen, beispielsweise der Schule, stattfinden und untersucht, was informelle Lernprozesse fördert. Auch der Schulweg ist so eine Lernwelt – oder könnte es sein, sagt Egger: Hier können sich Kinder, zumindest in einem gewissen Rahmen, ausprobieren, sich selbst ihren Weg bahnen, anderen Menschen begegnen, Unvorhergesehenes erleben und auch einmal Umwege machen. All das kennzeichnete ĂŒber Jahrzehnte den Schulweg, und machte ihn zu einer eigenen kleinen Lernwelt. Egger beobachtet jedoch, dass sich die SpielrĂ€ume von Kindern zunehmend verengen. Viele Eltern stehen aufgrund ihrer BerufstĂ€tigkeit unter Druck. Insbesondere morgens gilt es, alle Familienmitglieder auf die Spur zu bringen, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen und alle anstehenden Aufgaben zu bewĂ€ltigen. 

MUSIK ENDE

7. ZUSPIELUNG Rudolf Egger 

Man versucht, das sehr strikt zu handhaben, aber was dabei eben, wenn das so reglementiert ist, auf der Strecke bleibt, ist, dass es kaum mehr BegegnungsflĂ€chen zwischen den Menschen gibt, sondern es gibt in der FrĂŒh Stress bis alle im Auto sitzen, und dann sind sie quasi kleine Monaden, die zugestöpselt sind mit Kopfhörern - dieses PhĂ€nomen gibt es schon sehr lange und ist jetzt in den letzten 15 Jahren viel, viel stĂ€rker geworden.

MUSIK   „Familiar things disappear”; ZEIT: 00:46

ERZÄHLER

Im Vergleich zu frĂŒheren Jahrzehnten tobt heute in vielen StĂ€dten der Verkehr und stellt insbesondere fĂŒr junge SchĂŒler, die damit noch wenig Erfahrung haben, eine Gefahr dar und schrĂ€nkt ihre Bewegungsfreiheit ein. Der Tag von Kindern gleicht außerdem zunehmend dem von Erwachsenen. Er ist von frĂŒh bis spĂ€t durchorganisiert: Auf den regulierten Schulalltag folgt die durchgeplante Freizeit. Betreuungs- und Freizeiteinrichtungen sowie TÜV-geprĂŒfte SpielplĂ€tze und wohlgeordnete Parkanlagen sind an die Stelle von unbeaufsichtigten Hinterhöfen, Straßen, öffentlichen PlĂ€tzen, FabrikgelĂ€nden und WĂ€ldern getreten, in denen sich Kinder noch vor wenigen Jahrzehnten weitgehend nach ihrer eigenen Vorstellung bewegen konnten. Zeiten, in denen sie niemand unbeobachtet, sind rar geworden fĂŒr die Kinder von heute. 

MUSIK ENDE

Ein wichtiger Lernschritt auf dem Weg zum Erwachsenenalter ist aus Sicht der PĂ€dagogen auch, dass Kinder mit anderen Kindern zusammen sein können, und zwar ohne die Aufsicht von Erwachsenen. Dass sie sich als Mitglied einer Gruppe fĂŒhlen und Verantwortung ĂŒbernehmen, fĂŒr sich selbst und fĂŒr andere. Auch dafĂŒr eignet sich der Schulweg. ((Zugleich sei ihre Aufgabe, so Saskia Haspel,

9. ZUSPIELUNG Saskia Haspel

dass sie aufmerksam bleiben, dass sie fokussiert sind auf den Straßenverkehr, dass sie genug Selbstsicherheit haben, nicht mitzumachen, wenn andere Kinder auf Ideen kommen, die vielleicht gefĂ€hrlich sein könnten.))

ERZÄHLER

Aber im gleichen Maße, wie der Schulweg ein wichtiger Schritt eines Kindes zu mehr Autonomie ist, ist er eine Herausforderung fĂŒr die Eltern. Sie mĂŒssen eine Balance finden zwischen ihrem SicherheitsbedĂŒrfnis und dem SelbstĂ€ndigkeitsdrang des Kindes. Die Eltern haben dabei die Verantwortung, dem Kind zu zeigen, wie es sicher zur Schule kommt, mĂŒssen es dann aber schrittweise in die UnabhĂ€ngigkeit entlassen, findet die Montessori-PĂ€dagogin Saskia Haspel:

 10. ZUSPIELUNG Saskia Haspel

Also wichtig ist, wirklich aufs Kind zu schauen. Manche Kinder brauchen lĂ€nger, manche Kinder sind unsicherer, die brauchen danach wirklich lĂ€nger die Begleitung, und die mĂŒssen wir ihnen geben. NatĂŒrlich. Was wir nicht machen dĂŒrfen, ist aus falsch verstandener FĂŒrsorge vielleicht oder aus eigener Bequemlichkeit, wenn man lĂ€nger schlafen kann, wenn man das Kind mit dem Auto vor die Schule fĂŒhrt, ihm diesen Schulweg wegzunehmen. Das ist sehr, sehr schade und des verhindert die Entwicklung die SelbstĂ€ndigkeit in diesem Bereich. 

ERZÄHLER

Beim Loslassen können Eltern auf das bauen, was sie ihrem Nachwuchs in den ersten sechs Lebensjahren mitgegeben haben, so Saskia Haspel. Normalerweise unternehmen Kinder in dieser Zeit auch schon kurze Wege alleine, besuchen vielleicht Freunde um die Ecke oder gehen auch schon einmal alleine zum BĂ€cker. Dadurch können das kindliche Selbstvertrauen und das Vertrauen der Eltern in die Kinder gleichermaßen wachsen. Wenn Kinder dagegen viel Zeit im Auto sitzen, anstatt selbst zu laufen oder mit dem Fahrrad zu fahren, hat das sichtbare Folgen fĂŒr ihre motorische Entwicklung, beobachtet Saskia Haspel im Schulalltag: Beim Treppensteigen gingen viele SchulanfĂ€nger noch jede einzelne Stufe mit zwei FĂŒĂŸen oder auch seitwĂ€rts.

11. ZUSPIELUNG Saskia Haspel

Und ja, da wĂŒrden wir uns natĂŒrlich wĂŒnschen, dass sie mehr Gelegenheit gehabt hĂ€tten, sich zu bewegen, und jede Bewegung, die ein Mensch macht, ist gut, wenn sie strukturiert ist und somit natĂŒrlich auch ein Schulweg, der zu Fuß bewĂ€ltigt wird oder ein Teil davon zu Fuß bewĂ€ltigt werden kann, sehr hilfreich auch fĂŒr die weitere Entwicklung. Von einer Gehsteigkante hinuntersteigen, braucht Bewegungskoordination, oder links und rechts zu schauen und dann loszugehen. Also man muss gut in seinem Körper zu Hause sein, ein gutes Körperbild haben, seinen Körper gut kennen, auch wissen, was kann ich mir denn zutrauen an Bewegung, und ein wirklich stabiles reifes Gleichgewichtssystem entwickelt zu haben, sind wesentliche Voraussetzungen dafĂŒr, unter anderem den Schulweg sicher bewĂ€ltigen zu können.

ERZÄHLER

Die Eltern mĂŒssen sich zudem darauf verlassen können, dass sich ihr Nachwuchs an Regeln hĂ€lt. Sie brauchen aber auch das Vertrauen in die Kinder und insbesondere in die Jugendlichen, dass sie auch dann zurechtkommen, wenn sie einmal vom vorgegebenen Pfad abweichen, meint Saskia Haspel: 

12. ZUSPIELUNG Saskia Haspel 9.30 

Menschen probieren neue Dinge aus, auch Kinder probieren neue Dinge aus. Und manchmal ist es doch ein bisschen gefÀhrlich oder manchmal ist es keine besonders gute Idee. Aber auch das gehört dazu und auch daran wÀchst man. Wir hatten ja noch Samstagsschule, und ich ging an einer Kirche vorbei, und samstags wird hÀufig geheiratet. Ich hatte die Freiheit, ich hatte noch kein Handy, mir hat nicht nach 10 Minuten schon jemand nachtelefoniert: Wo bleibst du?, wenn ich mich ein bisschen verspÀtet hab, ich konnte dort Braut schauen, bei der Kirche stehen bleiben, wenn da gerade eine Hochzeit war. Niemand hat sich damals Sorgen gemacht, wenn ein Kind 10 Minuten spÀter dran war. Oder wenn man einen Bus spÀter gekommen ist. Also auch da wird Kindern sehr viel Freiheit genommen. Heutzutage diese Handy-Nabelschnur, dass sofort angerufen wird. Wo bleibst du denn? Was ist denn los?

ERZÄHLER

Saskia Haspel und Rudolf Egger erkennen einen Hang zur ÜberfĂŒrsorge bei heutigen Eltern – das spiegelt sich auch im Begriff Helikoptereltern. Daran, wie Kinder zur Schule kommen, lasse sich ablesen, wie sich die Gesellschaft und auch die Beziehung zwischen Eltern und Kind in den vergangenen Jahrzehnten verĂ€ndert hĂ€tten. Rudolf Egger:

13. ZUSPIELUNG Egger 

Kind ist natĂŒrlich Statussymbol Nummer eins, also fĂŒr den Großteil der Eltern – hĂ€ngt natĂŒrlich von der sozioökonomischen Situation ab – ist Kind Identifikationsmerkmal. Also Kinder werden immer wichtiger, Kinder sind ganz wesentliche Elemente der eigenen Lebensplanung, und auf der anderen Seite hat sich das auch eben durch die strukturelle BerufstĂ€tigkeit auch verĂ€ndert, diese Beziehung, wo wir eben vieles organisieren mĂŒssen. Und man ist froh, wenn die Kinder hinten im Auto eben zugestöpselt sind. Weil da kann man sich selber konzentrieren, was man alles zu tun hat.

 MUSIK privat Take 009 „Realise“; Album: Eyes of a Beginner; Label: 2013 Thomas Marland; Interpret: Thomas Marland; Komponist: Thomas Marland; ZEIT: 00:16

ERZÄHLER

Der Weg zur Schule unterscheidet sich nach der Beobachtung von Rudolf Egger deutlich vom Heimweg, vor allem, was die emotionale Verfassung der SchĂŒlerinnen und SchĂŒler angeht: 

MUSIK ENDE

14. ZUSPIELUNG Egger 

Der Weg von der Schule nach Hause dauert in der Regel ungefĂ€hr acht bis zehn Minuten lĂ€nger, weil sie langsamer gehen, nicht so zielbezogen gehen, vielleicht einmal einen Umweg auch noch machen und Möglichkeiten finden, quasi diesen Ballast der Schule auch abzulagern. Weil Schule ist - da darf man sich auch nichts vormachen - ist Druck auch schon fĂŒr die ganz Kleinen. Schule ist soziales Miteinander, kognitives Lernen, Forderung, und mit dem muss auch umgehen lernen, das Fading-Out von der Schule - auch dafĂŒr ist der Schulweg ganz, ganz wichtig. 

MUSIK privat Take 016 „Interlude II”; Album: Prince of Persia: The Forgotten Sands; Label: Ubisoft 2010; Interpret: Tom Salta; Komponist: Tom Salta; ZEIT: 00:51

ERZÄHLER 

In den Weiten der Savanne im SĂŒd-Westen Kenias: Wenn sich der 8-jĂ€hrige Musega auf den Weg zur Schule macht – die einzige im Umkreis von 20 Kilometern -, hat er einen stĂ€ndigen Begleiter: Die Angst vor wilden Tieren wie HyĂ€nen, Löwen und Elefanten. 

Exotisch anmutende Schulwege wie der von Musega werden gerne in Dokumentationen gezeigt, beobachtet Malte Pfau von der Kindernothilfe, einem der grĂ¶ĂŸten christlichen Hilfswerke in Deutschland. Der gelernte Lehrer setzt sich seit Jahren auf der politischen Ebene fĂŒr Kinderrechte ein. Sein Schwerpunkt-Thema: Das Recht auf Bildung und die Frage, wie man mehr Kindern eine Schulbildung ermöglichen kann.

MUSIK ENDE

15. ZUSPIELUNG Malte Pfau 

Dass Kinder mit einer Seilbahn ĂŒber Schluchten fahren oder mit einem Esel ĂŒber GebirgspĂ€sse gehen, das ist natĂŒrlich auch alles da, aber ich denke immer, das romantisiert das so ein bisschen, das stellt das so dar, als wĂ€ren das Abenteuer auf dem Weg zur Schule. Und ich glaube, fĂŒr 99,99 Prozent der Kinder gilt einfach nur, dass die Entfernung die EinschrĂ€nkung, Gefahren diese LĂ€nge des Weges mit sich bringt. 

ERZÄHLER

Malte Pfau war fĂŒr die Kindernothilfe selbst viel in fernen LĂ€ndern unterwegs, unter anderem in Indien und mehreren afrikanischen LĂ€ndern und hat dort erfahren: Ein großes Hindernis fĂŒr Kinder und ihr Recht auf Bildung ist die Distanz zur nĂ€chsten Schule. Insbesondere in Ă€rmeren, weniger entwickelten LĂ€ndern ist der weite, oftmals beschwerliche Weg zur Schule ein großes Problem.

16. ZUSPIELUNG Malte Pfau

Schulwege von einem bis zwei Stunden – also hin und zurĂŒck sind es dann eher drei bis vier – sind schon eher die Regel, aber das sind zumindest noch Schulwege, die ja bewĂ€ltigt werden können. Die weiterfĂŒhrende Schule ist dann ja hĂ€ufig eher in Oberzentren oder in StĂ€dten angesiedelt. Das heißt, wenn Kinder oder Jugendliche dann die Grundschule verlassen und auf eine weiterfĂŒhrende Schule gehen, bedeutet das hĂ€ufig, dass das Kapitel Schule zu Ende ist, einfach weil gar nicht mehr erreichbar ist, oder aber dass Kinder schon sehr frĂŒh das Elternhaus verlassen, um dann in StĂ€dten bei Verwandten zu leben oder aber auch teilweise auch allein zu leben, um die weiterfĂŒhrende Schule wahrnehmen zu können. 

MUSIK  „The game has changed”; ZEIT: 00:18

ERZÄHLER

Auch in den GroßstĂ€dten des globalen SĂŒdens machen sich unzĂ€hlige Kinder jeden Tag auf den Weg zur Schule. Erschwert wird ihnen der Weg dort vor allem durch den Verkehr und die unzureichenden Öffentlichen Verkehrsmittel, sagt Malte Pfau.

MUSIK ENDE

17. ZUSPIELUNG Malte Pfau

Also wenn man sich jetzt solche MillionenstĂ€dte wie Addis Abeba anguckt oder Nairobi, Kapstadt, Johannesburg, das sind ja alles StĂ€dte, wo wir ja in den Townships oder Slums arbeiten, wo es zwar natĂŒrlich hĂ€ufig auch Schulen gibt, aber auch da ist es ja so, dass Kinder innerhalb dieser StĂ€dte wahnsinnige Distanzen zurĂŒcklegen, die auch nicht vergleichbar sind mit Leben in der Großstadt bei uns, weil es halt einfach kein öffentliches Transportsystem gibt, was man so nutzen kann oder teilweise Schnellstraßen oder Hindernisse innerhalb einer Stadt darstellen, die bedeuten, dass man kilometerweit erst einmal gehen muss, um ĂŒberhaupt einen Weg zu finden, um diese fast schon FlĂŒsse ohne BrĂŒcken innerhalb der StĂ€dte ĂŒberwinden zu können.

ERZÄHLER

Weltweit sterben tĂ€glich 500 Kinder bei VerkehrsunfĂ€llen, die meisten von ihnen vermutlich auf ihrem Schulweg. Das heißt, fĂŒr junge Menschen auf der ganzen Welt ist der Straßenverkehr die Todesursache Nummer eins, noch vor Naturkatastrophen, Kriegen oder Seuchen. Dazu kommt insbesondere fĂŒr MĂ€dchen in vielen LĂ€ndern die Gefahr, auf ihrem Schulweg Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden. 

18. ZUSPIELUNG Malte Pfau 

Weil RaubĂŒberfĂ€lle aber auch sexueller Missbrauch an der Tagesordnung ist, und das weiß ich auch aus dem sĂŒdafrikanischen Kontext, dass da der Missbrauch von MĂ€dchen massiv steigt, wenn die Ferienzeit vorbei ist, weil Schule und Schulweg fĂŒr MĂ€dchen einfach grundsĂ€tzlich sehr gefĂ€hrlicher Ort ist, wo Übergriffe tagtĂ€glich leider sind. 

ERZÄHLER

Nicht wenige Eltern behalten ihre Kinder auch deshalb lieber zuhause, wo sie dann von jeglicher Schulbildung abgeschnitten sind. 

MUSIK privat Take 009 „Realise“; Album: Eyes of a Beginner; Label: 2013 Thomas Marland; Interpret: Thomas Marland; Komponist: Thomas Marland; ZEIT: 00:27

ERZÄHLER

Aber trotz aller Gefahren, die auf dem Schulweg insbesondere in den LĂ€ndern des globalen SĂŒdens lauern: FĂŒr Kinder weltweit ist der Schulweg nicht nur ein Weg zu einer BildungsstĂ€tte. Er ist auch ein wichtiger Schritt auf ihrem Weg ins selbstĂ€ndige Leben und bietet die Chance auf eine ganz eigene wertvolle Erfahrung. Davon ist Malte Pfau ĂŒberzeugt.

MUSIK ENDE

19. ZUSPIELUNG Malte Pfau

FĂŒr viele Kinder ist das ja auch nur der einzige unbeobachtete Moment, den sie am Tag haben – die Schule ist wahnsinnig streng, das Elternhaus ist wahnsinnig streng. Im Elternhaus sind die auch voll eingebunden. Das ist ja nicht so, dass sie da irgendwie ihr eigenes Zimmer haben, sondern auch hĂ€ufig ist das irgendeine LehmhĂŒtte, wo man irgendwie zu acht in einem Raum wohnt. Das heißt, dieser Schulweg ist ja fĂŒr die so der einzige Moment am Tag, wo sie vielleicht auch fĂŒr sich mal mit anderen Kindern Quatsch machen können oder so ein bisschen, ja, Kind sein können. 

MUSIK privat Take 009 „Realise“; Album: Eyes of a Beginner; Label: 2013 Thomas Marland; Interpret: Thomas Marland; Komponist: Thomas Marland; ZEIT: 00:47

ERZÄHLER

Kind sein, Quatsch machen, ein kleines StĂŒckchen Freiheit genießen zwischen Schule und Elternhaus – das haben wohl die meisten Schulwege dieser Welt gemeinsam, auch wenn sie sonst sehr verschieden sind. Und auch die beiden Ă€lteren Damen Frieda Specker und Waldtraud Fischer sind sich einig: 

20. ZUSPIELUNG

Es war schön, es war lustig, ich möchte‘s nicht missen.

Ein Kind braucht den Kontakt mit anderen Kindern, kann ĂŒber Lehrer schimpfen und, ja, kann einfach sich ausdrĂŒcken lernen. Und das finde ich sehr wichtig.


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