Er war weder gelernter Diplomat noch Mitglied einer Volkspartei. Trotzdem gilt Gustav Stresemann als herausragender Staatsmann der Weimarer Republik. 1923 wurde er Reichskanzler und AuĂenminister - in einem Jahr der Krise. Zwar dauerte Stresemanns Kanzlerzeit nur wenige Monate, doch schaffte er in dieser Zeit den Umschwung. Von Rainer Volk (BR 2023)
Er war weder gelernter Diplomat noch Mitglied einer Volkspartei. Trotzdem gilt Gustav Stresemann als herausragender Staatsmann der Weimarer Republik. 1923 wurde er Reichskanzler und AuĂenminister - in einem Jahr der Krise. Zwar dauerte Stresemanns Kanzlerzeit nur wenige Monate, doch schaffte er in dieser Zeit den Umschwung. Von Rainer Volk (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Rainer Volk
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Stefan Wilkening, Clemens Nicol
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Christina Stresemann, Enkelin von Gustav Stresemann.
Prof. Andreas Rödder, Co-Vorsitzender der Gustav-Stresemann-Gesellschaft, Professor fĂŒr Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-UniversitĂ€t Mainz
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ErzĂ€hler:Â
Berlin, 6.Oktober 1929. ReichsauĂenminister Gustav Stresemann wird mit einer Trauerprozession durch das Regierungsviertel zu Grabe getragen. Eine MilitĂ€rkapelle spielt; fast alle deutschen Spitzenpolitiker begleiten den Sarg. Und der Reichsrundfunk wagt seine erste âLiveâ-Reportage von einem GroĂereignis. Reporter ist Alfred Braun; er berichtet vom Sitz des AuswĂ€rtigen Amtes in der WilhelmstraĂe:
(O-Ton Reportage)Â Â
Der dĂŒstere Pomp ist mehr als nur ein âWahren der Formâ. Er zeigt: Das politische Berlin spĂŒrt, was der Tod Stresemanns fĂŒr die Weimarer Republik bedeutet â den Verlust einer ihren zentralen Figuren â eines Vollblut-Politikers, der mithilfe von Diplomatie und Verhandlungen die Isolierung Deutschlands nach der Niederlage im 1.Weltkrieg ĂŒberwinden wollte.Â
OT 2:Â
âEr hat ja versucht, die Lasten, die Deutschland durch den Versailler Vertrag auferlegt bekommen hatte, ertrĂ€glich zu gestalten. Und da war fĂŒr ihn das Mittel der Wahl, Minderung der Reparations-Zahlungen, Abkommen mit Frankreich.â
ErzÀhler:
 - erklĂ€rt Christina Stresemann, die Enkelin von Gustav Stresemann. Seine Politik sei einerseits pragmatisch gewesen - aber nicht nur:Â
OT 3:Â
âEr war auf der anderen Seite auch Idealist und wollte unbedingt, dass Deutschland in den Völkerbund aufgenommen wird. Das war ihm ganz wichtig, dieser Weg â und dieser friedliche weg.â Â
ErzĂ€hler:Â
Stresemann gilt heute als eine Art âUrahnâ der Aussöhnung Europas, symbolisiert durch das Abkommen von Locarno, sagt der Historiker Prof. Andreas Rödder, Co-Vorsitzender der Gustav-Stresemann-Gesellschaft.Â
OT 4:
âWeil das der groĂe Vertrag ist, unter Beteiligung der Briten, mit den Franzosen. Locarno markiert â und das ja keine sieben Jahre nach dem Ende des Krieges â die Wiederaufnahme Deutschlands auf gleicher Ebene in die Riege der europĂ€ischen GroĂmĂ€chte.â
MUSIK 1 Fiona Brice: Ascending 1â07
ErzĂ€hler:Â
Der Weg zum âgroĂen Staatsmannâ ist bei Gustav Stresemann indes lang: Er ist ein Kind des Kaiserreichs, hat sieben Geschwister. Sein Vater fĂŒllt in Berlin in einer kleinen Fabrik Bier ab und ist Gastwirt. Ein Aufsteiger-Milieu, das die Monarchie und PreuĂens MilitĂ€r bejubelt. Stresemann zeigt schon als SchĂŒler ungewöhnliche Intelligenz. Unmittelbar nach seinem Wirtschaftsstudium beginnt er, fĂŒr Industrie-VerbĂ€nde zu arbeiten â weil er so gutes Geld verdient. 1914, praktisch zeitgleich mit dem Ausbruch des 1.Weltkriegs, wird er Abgeordneter fĂŒr die Nationalliberale Partei im Reichstag und unterstĂŒtzt dort die Absicht Gebiete zu annektieren, die im Krieg erobert werden. Er erlebt im Reichstag aber auch 1918 das Ende der Weltmacht-Ambitionen des Reiches. Welche Unsicherheit dieser Epochen-Bruch auslöst, zeigt eine Rede von ReichstagsprĂ€sident Constantin Fehrenbach aus dem Oktober 1918, der Stresemann höchstwahrscheinlich vor Ort beiwohnt:
OT 5: (Tondokumente zur Deutschen Geschichte: Friedrich Ebert 4. Februar 1871 - 28. Februar 1925 Z1457 / Archiv Verlag ?? // Oder: Stimmen des 20. Jahrhunderts: Die Reichskanzler der Weimarer Republik in Originaltonaufnahmen / 14653 / DRA production ??)
Rede Fehrenbach) â âEine neue Zeit ist im politischen Leben des deutschen Volkes angebrochen. Es ist selbstverstĂ€ndlich, dass manche Kreise im Hinblick auf die GroĂtaten der Vergangenheit diesem Neuen kritisch, zweifelnd â ja sogar ablehnend gegenĂŒberstehen. Wir erhoffen von den Leistungen der neuen Zeiten eine versöhnende und klĂ€rende WirkungâŠâ
(langsam ausgeblendet unter ErzÀhler)
ErzĂ€hler:Â
Der Waffenstillstand vom November 1918, die Flucht Kaiser Wilhelms II. ins niederlĂ€ndische Exil und der Versailler Friedensvertrag fĂŒhren dazu, dass Gustav Stresemann seine bisherigen politischen Ăberzeugungen Ă€ndert. Er spĂŒrt: Die Monarchie hat ausgedient â und er wird zum politischen BrĂŒckenbauer im Dienst der Republik. Andreas Rödder:
OT 6:Â
âIn den Jahren nach dem 1. Weltkrieg, als sich weite Teile der Gesellschaft, und zwar sowohl nach links wie nach rechts radikalisieren, in dem Moment entwickelt sich Stresemann zu einem integrativen Mann der Mitte. Und er sieht, was diese Radikalisierung, insbesondere auf der rechten Seite, mit sich bringt. Und zum anderen: Stresemann ist in der Lage, und das zeichnete ihn auĂenpolitisch gegen fast allen anderen aus, sich in die Perspektive des anderen zu versetzen.â
ErzÀhler:
Anders als ĂŒber den Politiker ist ĂŒber den Privatmann Gustav Stresemann nur wenig bekannt. So ergibt eine Schnell-Recherche im Internet kaum mehr als die Tatsache, dass er im Jahr 1903 geheiratet und das Ehepaar zwei Söhne groĂgezogen hat. Wie erklĂ€rt sich das? War es Diskretion â Abschotten des Privaten vom Ăffentlichen? Enkelin Christina Stresemann erklĂ€rt es anders:
OT 7:Â
âVielleicht liegt das auch daran, dass er als Politiker, wie auch die heutigen Politiker, sehr eingespannt war und vielleicht hatte er auch gar nicht so ein richtiges Privatleben. Ein ausgedehntes Familienleben gabâs jedenfalls in der Zeit, fĂŒr die er steht, in der Weimarer Republik, in den 20er Jahren, nicht. Er war ja stĂ€ndig unterwegs und viel beschĂ€ftigt.âÂ
ErzĂ€hler:Â
Die Enkelin ist sich in einem Punkt sicher: Die Ehe von Gustav und der fĂŒnf Jahre jĂŒngeren KĂ€te Stresemann, die aus einer zum Protestantismus konvertierten jĂŒdischen Kaufmannsfamilie stammt, ist glĂŒcklich.Â
OT 8:Â
âMeine GroĂmutter war, glaubâ ich, auch ein wenig ausgleichend. Weil sie hat auch dann Gesellschaften gegeben - und so das gesellschaftliche Leben organisiert und galt als glĂ€nzende Gastgeberin - also das harmonierte, glaube ich, sehr gut, die beiden zusammen.âÂ
ErzĂ€hler:Â
Wichtig ist: Gustav Stresemanns Gesundheit ist von Jugend an schwach. Deshalb muss er im 1.Weltkrieg nicht als Soldat dienen. Doch auch das Leben eines Berufspolitikers verlangt seiner Physis viel ab. 1919, mit 31 Jahren, hat er einen ersten Herzinfarkt.Â
OT 9:Â
âEr hatte die so genannte âBasedowâsche Krankheitâ, das ist eine SchilddrĂŒsenerkrankung. Wenn man heute auch zum Beispiel weiĂ, wie wichtig Bewegung fĂŒr die Gesundheit ist, muss man feststellen: Er hat keine ausgedehnten Wanderungen oder so unternommen. Er war eigentlich immer nur unterwegs. Jedenfalls ab den 20er Jahren. Also da kann man sich vorstellen, dass das seiner Gesundheit natĂŒrlich ĂŒberhaupt nicht zutrĂ€glich war.â
OT 10 /MUSIK 2Â
(Couplet: C1074900 016 Otto Reutter â âO, Du liebes deutsches Gretchenâ 0â50)
ErzĂ€hler:Â
Dieses Couplet von Otto Reutter aus den 1920er Jahren amĂŒsiert sich darĂŒber, dass sich zwar die Nationalfarben geĂ€ndert haben - Schwarz-Rot-Gold und nicht mehr Schwarz-WeiĂ-Rot, wie im Kaiserreich â die Geisteshaltung der Deutschen aber nicht. Gustav Stresemann ist dem Zeitgeist in dieser Hinsicht weit voraus. Was selbst seine Freunde im liberalen Lager anfangs anzweifeln. Als sich Ende 1918 der politische Liberalismus in zwei Parteien spaltet, verweigert ihm die Deutsche Demokratische Partei DDP die Mitgliedschaft. Stresemann schlieĂt sich der Deutschen Volkspartei DVP an, die weiter rechts steht, wird ihr Vorsitzender â und Fraktionschef im Reichstag. Durch sein Talent als Redner und Verhandler wird die DVP zum wichtigen Akteur in Krisensituationen. Das beste Beispiel ist die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen im Januar 1923.Â
OT 11 / ATMO: (GerĂ€usch âInfanterie und Kavallerie gehen vorbeiâ) Â
ErzĂ€hler:Â
Es sind dramatische Szenen, die der Sonderkorrespondent des Berliner Tageblatts am 11.Januar 1923 aus Essen meldet:
Zitator:Â
âGegen 2 Uhr erfolgte der Einmarsch der Franzosen in die Stadt. Voran einige Radfahrer, ihnen folgend Infanterie und anschlieĂend einige tausend Mann Kavallerie im Trab. âŠSĂ€mtliche öffentliche GebĂ€ude und der Bahnhof wurden ebenso wie sĂ€mtliche StraĂenkreuzungen durch Posten mit aufgepflanztem Bajonett besetzt.â Â
ErzĂ€hler:Â
Anlass fĂŒr den Ruhreinmarsch sind Reparationen, die das Deutsche Reich laut Versailler Vertrag leisten muss â wegen der Wirtschaftskrise im Land aber schuldig geblieben ist. Die Besetzung der Region mit ihren Kohle-Bergwerken und ihrer Stahlindustrie soll ein âFaustpfandâ sein, um die Lieferung dieser Rohstoffe zu erzwingen. â Eine Fehlkalkulation. Denn die Regierung in Berlin ermuntert die Einheimischen zu passivem Widerstand durch einen Generalstreik. Es kommt zu Sabotage-AnschlĂ€gen â worauf die Kommandeure der Besatzungstruppe tausende GefĂ€ngnisstrafen verhĂ€ngen, Beamte und Angestellte ausweisen, die ihren Befehlen nicht gehorchen und auf Demonstranten schieĂen lassen. âÂ
MUSIK 3 Ulrike Haage: Universum II 0â57
Eine Sackgasse. Die Weimarer Republik zahlt den Streikenden und Ausgewiesenen ihre Löhne weiter â obwohl das teuer ist. Sie muss dafĂŒr die Notenpresse anwerfen â was eine Hyperinflation auslöst. Im Juli 1923 schreibt die âDeutsche Allgemeine Zeitungâ
Zitator:Â
âUnruhe und NervositĂ€t greifen Platz. Man stĂŒrzt sich auf die LĂ€den. Man kauft, was zu kaufen ist. Man hamstert notwendige und ĂŒberflĂŒssige Dinge. Die Teuerung wĂ€chst. Alle Millionen reichen nicht fĂŒr den dringendsten Magenbedarf .Â
ErzĂ€hler:Â
Die Geldentwertung hĂ€lt ĂŒber den Sommer und bis in den Herbst hinein an. Sie treibt Millionen Deutsche in gröĂte Not und lĂ€sst sie glauben, sie wĂŒrden von der Politik im Stich gelassen. Im August 1923 ist Reichskanzler Wilhelm Cuno so umstritten, dass er zurĂŒcktreten muss. Rasch kommt eine âGroĂe Koalitionâ zustande - mit Ministern aus SPD, katholisch-konservativem Zentrum und den beiden liberalen Parteien DDP und DVP. Stresemann wird in Personalunion Kanzler und AuĂenminister â ein wahres Himmelfahrtskommando. Denn die Ruhrbesetzung muss beendet UND die Hyperinflation gestoppt werden. Dazu kommen innenpolitische Krisen in Sachsen und ThĂŒringen. Hier wollen paramilitĂ€rische Hundertschaften der Kommunisten gewĂ€hlte Regierungen stĂŒrzen, wĂ€hrend in Bayern ultrarechte VerbĂ€nde drohen, das ganze Weimarer System auszuhebeln. Gustav Stresemann meistert die Situation bemerkenswert gut, sagt Andreas Rödder:Â
OT 12:Â
âEr schafft drei Dinge: Erstens diesen nicht mehr aufrechtzuerhaltenden passiven Widerstand zu beenden â ohne dass das ganze Reich zusammenbricht! Zweitens: Eine WĂ€hrungsreform vorzubereiten. Und drittens mit seiner Art der Einstellung des Ruhrkampfes, mit der WĂ€hrungsreform und mit dem Antrag auf die Einsetzung einer ĂberprĂŒfungskommission fĂŒr die Reparationen, schafft Stresemann im Grunde die Wende fĂŒr die Weimarer Republik.â
MUSIK 4Â Bela Dajos: Das Lila Lied 1â10
ErzĂ€hler:Â
âWendeâ bedeutet: Innerhalb weniger Wochen stabilisiert sich die Lage des Reiches. Stresemann verschafft ihm nicht nur eine Art âAtempauseâ, sondern sorgt so auch dafĂŒr, dass wenig spĂ€ter die BlĂŒtezeit der Weimarer Republik beginnt, oft als âGoldene Zwanziger Jahreâ bezeichnet: Mit stabiler WĂ€hrung, relativ niedriger Arbeitslosigkeit und einem kulturellen Aufbruch ungeahnter Dimension.
Da ist Gustav Stresemann jedoch lĂ€ngst nicht mehr Regierungschef. Ende November 1923 muss er als Reichskanzler nach nur 103 Tagen zurĂŒcktreten: Er hat im Parlament eine jener Vertrauensabstimmungen verloren, die fĂŒr die Weimarer Republik typisch sind.Â
Persönlich genieĂt er weiter so viel Respekt, dass er ReichsauĂenminister bleibt - bis 1929, egal ob der jeweilige Reichskanzler konservativ, sozialdemokratisch oder parteilos ist. Diese KontinuitĂ€t nutzt Stresemann fĂŒr sein groĂes Anliegen â das VerhĂ€ltnis Deutschlands zu Frankreich nach zwei blutigen Kriegen friedlich zu gestalten. Andreas Rödder:
OT 13:Â
âStresemann ist in der Lage, und das zeichnete ihn auĂenpolitisch gegen fast allen anderen aus, sich in die Perspektive des anderen zu versetzen. Stresemann hat einen Sinn dafĂŒr, dass dieses im 1.Weltkrieg zwar geschlagene, aber eben nicht vollstĂ€ndig niedergeschlagene Deutsche Reich fĂŒr die Franzosen die potenzielle Bedrohung bleibt, weil die Deutschen zwar geschlagen, aber potenziell ĂŒbermĂ€chtig sind. Und Stresemann ist jemand, der wirklich eine Vorstellung von einem Interessenausgleich hat.â
ErzĂ€hler:Â
Es ist ein glĂŒcklicher Zufall, dass zu dieser Zeit Aristide Briand Frankreichs AuĂenminister ist. Er fasst Vertrauen zu dem gut 15 Jahre jĂŒngeren Deutschen. Als Stresemann ihm vorschlĂ€gt, beide Staaten sollten sich wechselseitig ihre Grenzen garantieren, beruft Briand 1925 eine internationale Konferenz ein - nach Locarno in der Schweiz. Hier einigen sich die ehemaligen âErzfeindeâ auf die Anerkennung der Grenzen von 1918, die allmĂ€hliche Demilitarisierung des Rheinlands â und auf die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund. FĂŒr die Ăffentlichkeit, sagt der Stresemann-Experte Rödder, ist Locarno bis heute ein erster Meilenstein der deutsch-französischen Aussöhnung. Das ĂŒbersieht ein privates Treffen der beiden Politiker ein Jahr spĂ€ter in einem Gasthaus in Thoiry am Genfer See â wo sie viel weiterdenken:Â
OT 14:Â
âDa schimmert eine irrsinnige Perspektive auf, dass man sich gegenseitig verstĂ€ndigt, auf ein leben und leben lassen von zwei MĂ€chten, die seit Jahrhunderten rivalisieren und Krieg gegeneinander fĂŒhren. Thoiry ist auf der einen Seite das Wetterleuchten dessen, was möglich gewesen wĂ€re. Und auf der anderen Seite aber auch der Punkt, woâs wieder umkippt. Weil sowohl Briand als auch Stresemann merken mĂŒssen: Genau dafĂŒr, fĂŒr diese Haltung â die die Interessen meines eigenen Landes mit der RĂŒcksicht auf die Interessen der anderen verbindet, findet weder Briand eine Mehrheit in Frankreich noch Stresemann in Deutschland.â
MUSIK 5Â Ulrike Haage: At Cosmic Speeds 0â30
ErzĂ€hler:Â
Im Gegenteil: Der deutsche AuĂenminister wird fĂŒr seine Aussöhnungs-Politik mit Paris innenpolitisch scharf angegriffen. Auch der Friedensnobelpreis, den er 1926, gemeinsam mit Aristide Briand, erhĂ€lt, beeindruckt seine Gegner wenig. Denn die Auszeichnung hat damals noch nicht ein vergleichbar groĂes Prestige wie heute. Statt die Vorteile von Kompromissen anzuerkennen, die in Verhandlungen erzielt werden, bezeichnen ihn Kritiker als âErfĂŒllungspolitikerâ. Enkelin Christina Stresemann erklĂ€rt Grund und Wirkung:
OT 15:Â
âErfĂŒllungspolitikerâ â das war also die ErfĂŒllung der Versailler VertrĂ€ge. Das war fĂŒr die rechtsorientierten Nationalisten was ganz Schlimmes. Und da gabâs zum Beispiel so SprĂŒche auf Plakaten wie âStresemann â Verwese Mannâ. Und er war ja ein empfindsamer Mensch â das hat ihm natĂŒrlich auch zugesetzt.â
ErzÀhler:
Trotzdem ist im RĂŒckblick zu fragen: Welche Seiten von Stresemanns Politik sind zu kritisieren? Seriösen Historikern fĂ€llt in dieser Hinsicht ein Aspekt ein: Dass er - anders als Richtung Westeuropa â kaum Initiativen entwickelt, mit den Nachbarn im Osten, vor allem mit Polen, einen Ausgleich zu finden. Die Idee, auch ein âOst-Locarnoâ auszuhandeln bleibt sehr vage â sagt Professor Andreas Rödder:
OT 16:Â
âPolen wird 1918 neu gegrĂŒndet und hat mit keinem einzigen seiner Nachbarn eine unumstrittene Grenze. Im AuswĂ€rtigen Amt sind in den 20er Jahren dann so Ideen ventiliert worden â dass man gesagt hat: Sollen wir nicht sehen, dass man die ĂŒberwiegend deutschsprachigen Teile, die jetzt zu Polen gekommen sind, wieder zu Deutschland zurĂŒckbekommt. Es ist dazu nie gekommen. Aber die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich hoch, dass Stresemann bereit gewesen wĂ€re, eine Lösung zu suchen, mit der sowohl Polen als auch das Deutsche Reich hĂ€tte leben können.â
MUSIK 6Â Ulrike Haage: Battle Of The Angels II 0â43
ErzĂ€hler:Â
Dass seine Politik unvollendet bleibt, gehört zur persönlichen Tragik von Stresemann wie zu der von Weimar. Ein Grund dafĂŒr ist, das die erste deutsche Demokratie innenpolitisch nie zur Ruhe kommt - fast jedes Jahr finden wichtige Wahlen statt. Und Gustav Stresemann als bekanntester Politiker im liberalen Lager ist als Redner ein gefragter Mann. Deshalb ist er auch âim Einsatzâ, als fĂŒr die Reichstagswahl im FrĂŒhjahr 1928 eine Schallplatte mit Rednern aller wichtigen Parteien produziert wird. Der folgende Ausschnitt klingt fast wie ein VermĂ€chtnis:
OT 17: Stresemann 1928 historisch
In Zeiten groĂer bewegender Fragen, von denen unsere Zukunft abhĂ€ngt, gibt es fĂŒr uns den Parteien nur einen Leitstern: die AnsprĂŒche der Zeit zu befriedigen, frei von Illusionen in sachlicher nĂŒchterner Arbeit und jener Realpolitik, die in Wirklichkeit das Höchste an Idealismus ist und das heiĂe Herz da bĂ€ndigt, wo nur der kĂŒhle Verstand uns vorwĂ€rts zu bringen vermag.
ErzĂ€hler:Â
Als Folge der Ăberarbeitung erleidet Gustav Stresemann am 3.Oktober 1929 einen Schlaganfall und stirbt. Er sei der Inbegriff der Hoffnungen und Möglichkeiten der Weimarer Republik gewesen, bilanziert der Zeithistoriker Andreas Rödder:Â
OT 18:Â
âInsofern schrieb die âVossische Zeitungâ ja, als er gestorben war: âMehr als ein Verlust â ein UnglĂŒck.â Und da ist schon eine Menge dran. Also in Stresemann verkörpert sich sehr, sehr viel, was die Möglichkeiten von Weimar angeht â und auch die Tragik.â
OT 19: (Trauerzug â Reportage und Musik)Â
ErzĂ€hler:Â
Der Trauerzug durch Berlin, der Stresemanns Sarg zum Friedhof begleitet, wird live ĂŒbertragen. Beim Staatsakt im Reichstag spricht Reichskanzler Hermann MĂŒller von der SPD â in seiner Rede ist der Schockzustand spĂŒrbar, in dem sich die AnhĂ€nger der Demokratie befinden:
OT 20: Historisch
âWenn heute eine Welle tiefer Trauer durch unser Volk geht, wenn selbst die Gegner die Degen an seiner Bahre ehrend senken, so gilt diese Trauer aber nicht allein dem groĂen Staatsmann und FĂŒhrer. Sie gilt auch dem Menschen Stresemann, den wir alle liebten.âÂ
ErzĂ€hler:Â
Doch Gustav Stresemanns Verdienste geraten in Vergessenheit, als sich die Krise der Weimarer Republik zuspitzt. Die Enkelin berichtet, dass die Nationalsozialisten 1933 Stresemanns Witwe KĂ€te die Pension streichen. Mehr noch: FĂŒr sie und ihre Kinder besteht wegen ihrer jĂŒdischen Herkunft Lebensgefahr. Mitte der 1930er Jahre wandert die Familie nach New York aus. Und als sie zurĂŒckkehrt in die junge Bundesrepublik zögert diese mit der Wiedergutmachung, weiĂ Christina Stresemann â und erzĂ€hlt von einem Bittgang ihres Vaters:
OT 21:Â
âEr ist damals zum BundesprĂ€sidenten Theodor Heuss gegangen âŠund hat ihm die Situation meiner GroĂmutter geschildert und hatte gehofft, dass vielleicht dann doch wieder eine Pension wieder aufgenommen wird. Es ist dann ein kleiner, so genannter, âEhrensoldâ ausgesetzt worden â aber lĂ€ngst nicht das, was eigentlich eine Pension gewesen wĂ€re.â
ErzĂ€hler:Â
Heute gilt Gustav Stresemann als eine Art âUr-Vaterâ des Ausgleichs mit Frankreich und Vordenker fĂŒr ein einiges Europa. Doch ist der Name nicht nur in der Politik weiterhin bekannt, sondern auch in der Herrenmode.Â
MUSIK 7 Johnny Klimek & Tom Tykwer: Der Bahnhofscoup 0â56)
Der ewig unter Termindruck stehende Politiker ist nÀmlich auch Schöpfer einer Anzug-Kombination, die bei manchen AnlÀssen bis heute getragen wird. Christina Stresemann erzÀhlt diese Geschichte mit einem LÀcheln.
OT 22:Â
âMan trug damals ja noch im Parlament und zu EmpfĂ€ngen und so, trug man noch Frack. Und er wollte sich aber nicht mehrfach am Tag umziehen und wollte auch etwas Bequemeres haben. Und da hat er dann entschieden, dass er zwar diese grau-weiĂ gestreiften Hosen, wie man sie zum Frack trug, trĂ€gt â aber dazu ein schlichtes schwarzes Jackett. Und das war dann âder Stresemannâ. Ich glaubâ er geht grade mal als Hochzeitsanzug durch. Aber das kennen noch viele Leute, den Begriff â ja.â