Dass Frauenkleidung ĂŒberhaupt Taschen hat, in die SchlĂŒssel und Smartphone passen, ist heute Grund fĂŒr FreudentĂ€nze. Dabei war die Taschenlage fĂŒr Frauen lĂ€ngst nicht immer so dĂŒster: Vor wenigen Jahrhunderten konnten Frauen in ihren Rockfalten und GĂŒrteltaschen noch ganze EinkĂ€ufe verstauen. Vom Kampf um Taschen- und Geschlechtergerechtigkeit. Autorin: Vanessa Schneider
Dass Frauenkleidung ĂŒberhaupt Taschen hat, in die SchlĂŒssel und Smartphone passen, ist heute Grund fĂŒr FreudentĂ€nze. Dabei war die Taschenlage fĂŒr Frauen lĂ€ngst nicht immer so dĂŒster: Vor wenigen Jahrhunderten konnten Frauen in ihren Rockfalten und GĂŒrteltaschen noch ganze EinkĂ€ufe verstauen. Vom Kampf um Taschen- und Geschlechtergerechtigkeit. Autorin: Vanessa Schneider
Credits
Autorin dieser Folge: Vanessa Schneider
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Berenike Beschle, Julia Fischer, Silke von Walkhoff, Peter WeiĂ
Technik: Laura Picerno
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Barbara Burman, Textilhistorikerin
Bernadette Banner, Youtuberin und KostĂŒmhistorikerin
Hannah Carlson, Modehistorikerin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
 âICONIC â Modegeschichte mit Aminata Belliâ von ARD Kultur JETZT ENTDECKENÂ
Und: wir empfehlen den Hörspiel-Podcast "Die Grandauers und ihre Zeit". Eine bayerische Familiensaga von Willy Purucker, die zwischen 1893 bis 1945 spielt. HIER ENTDECKEN
Linktipps:
Alice Duer Miller: Why We Oppose Pockets for Women, 1914 HIER
Bernadette Banner: Women's Pockets Weren't Always a Complete Disgrace - A Brief History: England, 15th c - 21st c HIER ENTDECKEN
Ein historischer Ăberblick ĂŒber die Umbindetasche vom Victoria and Albert Museum HIER
Janet C. Myers, âPicking the New Woman's Pocketsâ, in: 19th Century Gender Studies, 10.1, 2014. HIER
Rebecca Unsworth, âHands Deep in History: Pockets in Men and Women's Dress in Western Europe, c. 1480â1630â, in: Costume, 51.2, 2017. HIER
Jutta Zander-Seidel, âDie Lesbarkeit frĂŒhneuzeitlicher Kleidungâ, arthistoricum, 2018 HIER
Someone clever once said: Women were not allowed pockets â Datenanalyse zu TaschengröĂen und FunktionalitĂ€t in aktueller Frauen- und MĂ€nnerbekleidung HIER
Die weltweite Nutzung von Taschen, New York Times, 1899 HIER
Literaturtipps:
Barbara Burman & Ariane Fennetaux, âThe Pocket â A Hidden History of Womenâs Livesâ, 2019, das Standardwerk ĂŒber die historische Bedeutung der Umbindetaschen fĂŒr Frauenleben. Leider bisher nur auf Englisch erschienen.
Hannah Carlson, âPockets â An Intimate History of How We Keep Things Closeâ, 2023, eine erhellende Kultur- und Geschlchtergeschichte der Taschen in MĂ€nner und Frauenbekleidung. Auf Englisch.
Claire Wilcox, âHandtaschen. Moden & Designs im 20. Jahrhundertâ, 1998. Ein Bildband ĂŒber die Entwicklung der Taschen und Handtaschen â von der Umbindetasche bis zur It-Bag.
Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Voice Over 01Â
Ich entschuldige mich im Voraus fĂŒr das MaĂ an reiner, destillierter, passiver Wut in diesem Video. Aber eigentlich auch nicht, weil die schiere Ungerechtigkeit dieser Sache... (PIEP) Wir sind inzwischen allzu vertraut mit der blasphemischen Schmach der Taschen in Frauenkleidung...
ERZĂHLERIN
Bernadette Banner ist wĂŒtend. Die KostĂŒmbildnerin und Historikerin filmt normalerweise launige ErklĂ€r-Videos bei Youtube â zum Beispiel ĂŒber die desolate Lage von Taschen in Frauenkleidung. 1,7 Mio. Follower schauen ihr dabei zu. Und die sind diesmal genauso aufgebracht, wie Banner:
Musik:Â Source code 0â27
ZITATORINÂ
Die Tatsache, dass Frauenoberbekleidung, MĂ€ntel, Jacken usw. nie eine Innentasche haben, wĂ€hrend MĂ€nnerkleidung IMMER eine hat, macht mich so wĂŒtend, dass ein Vulkanausbruch daneben harmlos erscheint.
ZITATORIN 2
âPreach, Girl, Preach!â
ZITATORINÂ
Ich brauche Taschen, so tief wie meine Seele, dass meine Dolche hineinpassen. Ich meine, Stifte..
ZITATORIN 2
âViva la pocket revolution!â
Musik:Â Nr.2 D-Dur Andante 0â31
ERZĂHLERIN
Bernadette Banner schneidert und designt historisch korrekte KostĂŒme und Alltagskleidung und lebt zumindest modisch auch selbst im spĂ€ten 19. Jahrhundert. Die langen braunen Haare locker, aber elegant hochgesteckt. Eine hochgeschlossene Bluse, dazu ein weiter, langer Rock, SchnĂŒrstiefel, Handschuhe. GegenĂŒber Jeans, Yoga-Leggings und schmalen Sommerkleidern hat ihr anachronistisches Outfit einen unsichtbaren â aber entscheidenden Vorteil:
[PAUSE/Musik weg]
Tiefe Taschen in den Rockfalten.
ZSP 02 Bernadette Banner Everything
Voice Over 02
Frauen trugen diese riesigen Kleider, es gab also viel Platz fĂŒr Taschen. Ich habe viktorianische Taschen in meinen Rekonstruktionen eingenĂ€ht und nutze sie auch in meiner eigenen Kleidung, weil sie riesig sind. Ganze BĂŒcher, Wasserflaschen, Snacks â eigentlich alles was man den Tag ĂŒber braucht, passt in eine viktorianische Tasche.
ERZĂHLERIN
Kleidertaschen in denen ein ganzes Picknick Platz findet â das klingt wie eine Utopie. Und tatsĂ€chlich: Der Taschenreichtum im Viktorianischen Zeitalter Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Ausnahme von der Regel. Die lĂ€ngste Zeit ĂŒber hatte Frauenkleidung nĂ€mlich gar keine eingenĂ€hten Taschen!
Musik:Â Servants and farmhands B 0â52
ERZĂHLERIN:
Bis ins 16. Jahrhundert tragen Frauen und MĂ€nner in Europa ihre kleinen BesitztĂŒmer in Beuteln am GĂŒrtel. Als sich die Schneidertechniken weiterentwickeln, entstehen aus Tunika und Beinlingen der MĂ€nner Hemden und Kniebundhosen. Und in die werden ab etwa 1550 die ledernen Beutel, die zuvor an ihren GĂŒrteln ĂŒber der Tunika baumelten, einfach als Taschen in den Hosenbund eingenĂ€ht. Das Gewand der Frauen verĂ€ndert sich nicht so drastisch. UnabhĂ€ngig vom gesellschaftlichen Stand und sich wandelnden Moden tragen sie Unterkleider, Röcke und ein Mieder. Und am GĂŒrtel Beutel. Doch die verschwinden Mitte des 17. Jahrhunderts... (PAUSE)
⊠scheinbar.Â
Denn nun binden sie sich groĂe, birnenförmige Taschen aus Leinen, Seide, Leder oder Baumwolle mit einem Band um die HĂŒfte â und unter die Röcke â statt darĂŒber. Das liegt am besonderen Design der Röcke dieser Zeit, sagt Bernadette Banner:
ZSP 03 Bernadette Banner Umbindetaschen
Voice Over 03
Die Röcke sind zweigeteilt und werden wie zwei SchĂŒrzen vorn und hinten gebunden, so dass sie sich an den Seiten ĂŒberlappen. Dadurch ist es einfacher sich anzuziehen, aber es hat auch den Vorteil, dass so ein Schlitz an der Seite entsteht, durch den man mit den HĂ€nden in die Tasche greifen kann. Ja, das ist super sicher! Und darum haben Frauen ihre Taschen lange Zeit unter den Kleidern getragen, weil das am sichersten war.
Musik: Old mill 0â28
ERZĂHLERIN
Die Umbindetaschen sind gerĂ€umig â und praktisch: Die HĂ€nde frei, trotzdem jederzeit alles Nötige und Wichtige nah bei sich. Auf dem Feld und in der Werkstatt, genau wie auf dem Markt und im Haushalt.
Barbara Burman ist Textilhistorikerin und hat der Umbindetasche ein ganzes Buch gewidmet: Die verborgene Geschichte vom Leben der Frauen. Denn die Umbindetasche verband Frauen ĂŒber Standesgrenzen hinweg. Eine verblĂŒffende Entdeckung:
ZSP 04 Barbara Burman Gemeinsamkeiten
Voice Over 04
Eine Herzogin machte dieselbe Erfahrung wie eine Prostituierte oder die Frau des Metzgers. Wir erkannten, dass die Umbindetasche eine gemeinsame materielle Kultur war, die alle Klassen und regionalen Unterschiede ĂŒberwand. Es war eine Offenbarung, denn die Modegeschichte erzĂ€hlt von all diesen Unterschieden, aber das stimmt eigentlich nicht.
ERZĂHLERIN
Ob reich bestickt und aus wertvollen Stoffen gefertigt oder aus ein paar alten Flicken recyclet: Frauen nutzten ihre Umbindetasche auf Àhnliche Weise, mit den gleichen Gesten, lernten sie zu tragen und wie sie hergestellt wurden. Aber auch:
ZSP 05 Barbara Burman Gemeinsamkeiten 2
Voice Over 05
UnabhĂ€ngig von Ihrem sozialen Rang hatten Sie diese gemeinsame Erfahrung und die gemeinsame Angst, dass Ihnen auf der StraĂe etwas weggenommen werden könnte.Â
Musik:Â At the crime scene 0â58
EZĂHLERIN
Eine begrĂŒndete Angst! Denn die Geschichte der Taschen ist auch ein StĂŒck Kriminalgeschichte. In den deutschen NachrichtenblĂ€ttern und Zeitungen hĂ€ufen sich ab dem 18. Jahrhundert die Anzeigen wegen Taschendiebstahls. Am 25. Juli 1774 meldet der Hamburger Relations Courier zum Beispiel einen Diebstahl in PreĂburg:
ZITATOR Hamburger Relations Courier
Eine GalanteriehÀndlerin steckte hier dieser Tage auf offenem Markte etwa 50 Gulden wohl eingewickelt in ihre Tasche. Ein wohlgekleidetes Weibsbild sahe solche, und nÀherte sich sogleich dem Standort, um Perlen zu kaufen. Sie lieà sich solche um den Hals von der HÀndlerin anprobieren, und zog ihr indessen unvermerkt die 50 Gulden aus der Tasche und gieng davon.
ERZĂHLERIN
Arbeitende Frauen und HĂ€ndlerinnen tragen ihre Taschen im 18. Jahrhundert nicht versteckt unter den Röcken, sondern sichtbar neben ihrer SchĂŒrze auf dem Kleid, ihre Waren und Geld schnell griffbereit. Darauf haben es Beutelschneider und Taschendiebe abgesehen. Tausende Verfahren befassen sich allein am Londoner Old Bailey Court zwischen 1674 und 1913 mit TaschenkriminalitĂ€t
Musik: Z8046179105 Limitation of lifetime 0â58
Die Gerichtsprotokolle lassen uns tief in die verlorenen und gestohlenen Taschen der TrĂ€gerinnen blicken. Wir sehen darin, was ihren Besitzerinnen vor hunderten Jahren so wichtig ist, dass sie es den ganzen Tag lang â auch bei der Arbeit nah bei sich tragen. Mit Kamm, Schleifenband und weiteren KleidungsstĂŒcken bei sich, können Frauen ihr Aussehen schnell verĂ€ndern â und rund um die Uhr angemessen gekleidet von der WaschkĂŒche zum Markt und auf BotengĂ€nge gehen.Â
Dazu NĂ€hzeug, ein kleines Messer, Werkzeuge fĂŒr die Arbeit, SchlĂŒssel, Obst und Brot. Manche Frauen verstauen Andenken in ihren Taschen, Briefe, wertvolle SchmuckstĂŒcke oder MĂŒnzen, eingewickelt in Papier, TĂŒcher oder in Tabakdosen.
ZSP 07 Barbara Burman Gericht
VOICE OVER 07
Manchmal glaubten die Magistrate nicht, was die Frauen ĂŒber den Diebstahl erzĂ€hlten. Einer von ihnen sagte berĂŒchtigterweise zu einer Frau im Gericht: âEs heiĂt, dass die Taschen der Frauen keinen Boden hĂ€tten.â Oft nahmen sie auch an, dass es darin chaotisch zuging, ein gieriges Durcheinander, in das man so viel wie möglich stopfen konnte. Diese Vorstellung des Ăberkonsums und die sehr negativen Bilder weiblichen Verhaltens prĂ€gten die Wahrnehmung.
ERZĂHLERIN
Anders als in der Fantasie der Magistrate und Satiriker dieser Zeit, sind die Taschen alles andere als chaotisch âhat alles seinen Ort. Oft befinden sich innerhalb einer Tasche weitere FĂ€cher und Ăsen, um den Inhalt zu organisieren und bedeutsame Dinge zu schĂŒtzen.Â
Musik: C1608590105 I canât express my deep love 0â25
ERZĂHLERIN
Weil die Taschen so nah am Körper getragen werden, geben sie den Frauen ein GefĂŒhl von Eigentum und PrivatsphĂ€re â was ihnen, besonders in niedrigeren StĂ€nden und nach der Heirat â die Gesellschaft rechtlich bis ins spĂ€te 19. Jahrhundert nicht zugesteht
ZSP 09 Barbara Burman Privat
VOICE OVER 09
Es gibt eine Vermischung von Geheimhaltung und PrivatsphĂ€re. Im Zeitraum, den wir untersuchen, beginnt sich die Idee der PrivatsphĂ€re auszubreiten â es wird langsam als legitim angesehen, dass eine Frau in ihrem eigenen Zuhause PrivatsphĂ€re hat. Das Konzept der Geheimhaltung bleibt jedoch bestehen, und die Tasche befindet sich gewissermaĂen in einem Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen.
ERZĂHLERIN
Frauen â besonders aus niedrigeren StĂ€nden â werden hĂ€ufig verdĂ€chtigt gegen Sitten und Gesetze zu verstoĂen.Â
[Pause]
Und das tun sie tatsÀchlich auch oft. Mal mehr und mal weniger geschickt:
Musik: Z8038426125 Nasty Ambush 0â39
ZSP 10 Barbara Burman Enten
VOICE OVER 10
Aber man konnte eine Menge transportieren. In Warwickshire, im lĂ€ndlichen Raum zum Beispiel, hat eine Frau mit zwielichtigem Ruf zwei lebende Enten vom Bauern gestohlen. Sie steckte sie in ihre Tasche und rannte ĂŒber die Felder...Â
[etwas hörspielig produzieren, mit GerÀuschen]
⊠Der Bauer hinterher. Er wollte die Enten unbedingt zurĂŒck und verfolgte sie ĂŒber die Felder, bis er sie einholte...Â
[Stille]
...Sie wurde wegen Diebstahls der Enten angeklagt.
[MUSIK WECHSEL/PAUSE]
ERZĂHLERINÂ
Die Umbindetasche ist so nĂŒtzlich, dass sie auch nicht dauerhaft abgelegt wird, als sich nach der französischen Revolution die Frauenmode radikal verĂ€ndert.
Musik:Â Champ de ble 0â34
Modern sind nun feine, weiĂe Musselinstoffe, die sich an die Körper der Frau schmiegen, wie die Kleider antiker Statuen. Unter den oft durchscheinenden Kleidern trĂ€gt die Umbindetasche auf, darum haben viele Frauen in der Ăffentlichkeit nun kleine SĂ€ckchen als Handtaschen bei sich â sogenannte RĂ©ticules (Aussprache: Französisch). Sie sind eher SchmuckstĂŒck, als Transportmittel.Â
Diese Empire-Mode vergeht schon um 1820 wieder und ausladende Röcke mit Crinolinen und Korsetts sorgen fĂŒr die ideale Sanduhrsilhouette. In den ĂŒppigen Rockschichten ist jetzt auch wieder Platz fĂŒr Taschen. Kurzzeitig werden diese sogar in die groĂen Röcke eingenĂ€ht. So, wie in die Hosen, Jacken und MĂ€ntel der MĂ€nner, die von Taschen fĂŒr alle möglichen Zwecke inzwischen regelrecht ĂŒbersĂ€ht sind:
ZSP 11 Barbara Burman Herrentasche
VOICE OVER 11
Wenn man die Taschen an einem dreiteiligen Herrenanzug zĂ€hlt und dazu die Manteltaschen, dann erreicht man schnell eine zweistellige Anzahl: verschiedene Taschen, Taschen fĂŒr Tickets, gröĂere Taschen (...) Tasche fĂŒr Sandwiches, fĂŒr Flaschen, fĂŒr Geld...Â
Musik: Simple life 0â29
ERZĂHLERIN
. Mit ihren vielen Taschen sind die MĂ€nner fĂŒr jede Situation unterwegs ausgestattet. Das wĂŒnschen sich die höheren Damen fĂŒr ihre Reisen mit Kutschen und der neuen Eisenbahn auch. Die eingenĂ€hten Kleidertaschen werden zum Ausdruck von ModernitĂ€t und ab Mitte des 19. Jahrhunderts breiten sie sich auch auf der gesamten Frauenkleidung aus: Die groĂe deutsche Modezeitung Bazar zeigt Ende der 1870er Jahre dekorative Taschen auf den Röcken und Jacken. Analog zu den vielen spezialisierten Taschen des Herrenanzugs hat die modische Frau nun Taschen fĂŒr FĂ€cher und sogar Schirme auf dem Rock â scheinbar. Denn die sind zwar hĂŒbsch verziert, aber leider ganz und gar nicht brauchbar.
ZSP 12 Hannah Carlson Handtasche
VOICE OVER 12
Dann kommt die Handtasche auf und es entsteht die Vorstellung, dass Frauen keine Taschen brauchen, weil sie ja eine Handtasche haben. Und warum sollten Frauen sich darĂŒber ĂŒberhaupt beschweren?
ERZĂHLERIN
In fast jeder Ausgabe des Bazars sind nun neue, modische Varianten des Arbeitsbeutels zu sehen â kleine KĂ€stchen und Handtaschen, die ursprĂŒnglich fĂŒr die Aufbewahrung von NĂ€hutensilien gedacht waren.Â
Denn die Röcke sind jetzt so schmal geschnitten, dass eingenÀhte Taschen höchstens noch in der voluminös gebauschten Rocköffnung am Po versteckt werden können. Bernadette Banner:
ZSP 13 Bernadette Banner RĂŒckentasche
VOICE OVER 13
Aber sie bestanden auf ihre Taschen! Dort, wo das Kleid sich öffnete, ĂŒberlappt sich der Stoff. Und dort befand sich eine Tasche. Es ist so einfallsreich. (...) Und es ist auch unnatĂŒrlich und ein bisschen seltsam, aber zumindest hatten sie eine Tasche. Und das war besser als keine Tasche zu haben.
Musik:Â Hobbling down 0â29
ERZĂHLERIN
Aber: Die Frauen mĂŒssen sich jetzt regelrecht verrenken, um an ihre Tasche zu kommen
Der Grund fĂŒr die merkwĂŒrdige Positionierung: Sie soll die Silhouette der Frau â die durch strenge Röcke und steife Korsetts diszipliniert und in Form gebracht wird â nicht durch unansehnliche Beulen und Ausbuchtungen stören. Manche Schneiderinnen und Schneider verweigern ihren Kundinnen die Taschen sogar gĂ€nzlich:
ZSP 14 Hannah Carlson Suffragetten
VOICE OVER 14
Die Suffragette Elizabeth Cady Stanton berichtete in den 1890er Jahren amĂŒsant ĂŒber eine Diskussion mit ihrem Schneider. Sie bestand auf Taschen und der Schneider erwidert: Nein, Nein! Die wĂŒrden sie ausbeulen. Einfach furchtbar! Wissen Sie was, ich werde ihnen keine Taschen einnĂ€hen.
ERZĂHLERIN
Das zeige sich bis heute in der Frauenmode und den mangelnden Taschen darin, sagt die Modehistorikerin Hannah Carlson. Sie hat eine Kulturgeschichte der Tasche verfasst:
ZSP 15 Hannah Carlson Problem
VOICE OVER 15
Die Vorstellung, dass Taschen nicht in Frauenbekleidung passen, beginnt genau in diesem Moment. Es ist der Ăbergang von viktorianischer Kleidung mit Korsetts und groĂen Röcken in die moderne Ăra. Und das Problem, dass Frauenbekleidung keinen festen Platz fĂŒr Taschen hat, ist geblieben und hat sich bis ins 20. und 21. Jahrhundert fortgesetzt.
Musik:Â Think and follow 1Â 0â22
ERZĂHLERIN
Statt eine Tasche zu konstruieren, mit der Form und Schnitt des KleidungsstĂŒckes intakt bleiben, nehmen Schneider und öffentliche Kritiker an, dass Frauen diese Taschen ja eigentlich gar nicht benötigen. Diese Haltung wird im Laufe der Jahrhunderte auch in Karikaturen und Satiren deutlich.
ZSP 16 Barbara Burman Opfer
VOICE OVER 16
Die Frauen wurden Opfer der Idee, dass sie nicht zu viel besitzen sollten. Und wenn sie SchlĂŒssel und Geld besaĂen, dann war das ein wenig verwerflich â denn es bedeutete, dass die Frau mobil ist. Und das wiederum hieĂ, dass sie ein gewisses MaĂ an UnabhĂ€ngigkeit besaĂ.
ERZĂHLERIN
Taschen gelten als Privatsache, als Teil der Unterbekleidung und haben lange Zeit etwas anrĂŒchiges an sich. In Satiren und Parodien ziehen MĂ€nner ĂŒber die chaotischen Taschen der Frauen her. In Deutschland entwickelte sich das Wort âTascheâ zum Schimpfwort fĂŒr die Frau. Und auch RĂ©ticules und Arbeitsbeutel ziehen die HĂ€me zeitgenössischer Kritiker auf sich, die sich an den zur Schau gestellten Habseligkeiten der Frauen stören.
Musik:Â Organic technology 0â31
Ende des 19. Jahrhunderts machen die Frauenrechtlerinnen die Tasche zum Politikum.
Die Feministin Alice Duer Miller bringt die ungerechte politische Situation der Frauen 1914 auf den Punkt â Frauen dĂŒrfen nicht wĂ€hlen, zahlen aber Steuern. In ihrer Polemik âWarum wir gegen Taschen fĂŒr Frauen sindâ mĂŒnzt sie die absurden Argumente gegen das Frauenwahlrecht auf die desolate Taschenlage um. Darunter:
ZITATORIN Alice Duer Miller Pockets for Women (â 1942)
Weil Taschen kein Naturrecht sind.
Weil die meisten Frauen keine Taschen wollen â wĂ€re es anders, hĂ€tten sie sie.
Weil MĂ€nner MĂ€nner und Frauen Frauen sind. Wir dĂŒrfen uns nicht gegen die Natur stellen.
ERZĂHLERIN
und schlieĂlich:
ZITATORIN Alice Duer Miller Pockets for Women (â 1942)
Weil MĂ€nnern in ihren Taschen Tabak, Pfeifen, Whiskyflaschen, Kaugummi und kompromittierende Briefe tragen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Frauen die Taschen klĂŒger verwenden wĂŒrden.
ERZĂHLERIN
Die britischen und US-amerikanischen Suffragetten machen aus den fehlenden Kleidertaschen ein Sinnbild fĂŒr andere fehlende Rechte im Kampf um Gleichberechtigung, sagt Hannah Carlson.
ZSP 18 Hannah Carlson Karikaturen
VOICE OVER 18
Erstaunlicherweise thematisieren Suffragetten die Taschen ziemlich oft, und ihre Gegner verspotten sie deswegen. Die konservative Presse schreibt damals Dinge wie: âWarum geben wir Frauen nicht einfach Taschen statt des Wahlrechts? Dann sind sie glĂŒcklich und hören auf zu meckern.â
 Hommage an Kurt Weill 2 0â18
ERZĂHLERIN
Es kommt anders: Das Wahlrecht erstreiten sich Frauen in Europa und den USA Anfang des 20. Jahrhunderts. Doch Taschen in der Frauenkleidung bleiben weiterhin Mangelware.
Und vor einhundert Jahren macht die Modejournalistin Julie Elias 1924 im Karlsruher Tageblatt eine Beobachtung, die auch heute noch gilt:
ZITATORIN Julie Elias â Die Tasche, 1924
â Was der Herrenschneider fĂŒr natĂŒrlich und selbstverstĂ€ndlich hĂ€lt, den Taschenreichtum, das ist fĂŒr den Damenschneider im allgemeinen Luxus und Modesache.â
ERZĂHLERIN
Im 20. Jahrhundert kommt und geht die Tasche in der High Fashion, wie es dem Zeitgeist beliebt. Aber so groĂe und nĂŒtzliche Taschen wie in den beiden Jahrhunderten zuvor haben Frauen nie wieder in ihrer Kleidung. In der Fast Fashion von heute ist keine Zeit fĂŒr das aufwendige Einsetzen und Gestalten von funktionalen und formwahrenden Taschen in die oft figurbetonte Frauenkleidung.
ZSP 19 Hannah Carlson Fast Fashion
VOICE OVER 19
Es ist leicht darauf zu verzichten in der Fast Fashion aber auch im mittleren Preissgegment. Eine Tasche einzufĂŒgen ist teuer und auĂerdem: Frauen haben Handtaschen. Ich glaube, dass ist der Hauptgrund, dass Taschen in der Frauenbekleidung fehlen.
Musik:Â Opportunity 0â25
ERZĂHLERIN
Die Handtasche hat sich in den vergangenen hundert Jahren als weiblicher Transportgegenstand durchgesetzt â und zu einem wichtigen Umsatzfaktor in der Modeindustrie entwickelt.Â
1924 glaubt die Modejournalistin Julie Elias, den hartnĂ€ckigsten und langlebigsten Grund gegen die Kleidertaschen endlich ĂŒberwunden zu haben:
ZITATORIN Karlsruher Tageblatt Julie Elias 1924
âAls die engen und engsten Röcke noch rigoros herrschten, wie oft muĂte man da nicht bei schĂŒchternen Anspielungen die Antwort hören:âEine Tasche? Aber das trĂ€gt ja viel zu stark auf." Manchmal gab es zwar Taschen, aber man durfte um des Himmels willen nichts hineintun.(...) Heute hat man andere Sorgen, (...) u. die MĂ€nnertasche erregt der Frau wirklich keine Bedenken mehr. Sie darf herzhaft auf ihre Tasche schlagen und mit jenem Philosophen sprechen: âOmnia mea mecum porto."Â
ERZĂHLERIN
âAll meinen Besitz trage ich bei mir.â Doch Ciceros Ausspruch bleibt bis heute eine Wunschvorstellung â zumindest fĂŒr Frauen: Bei vergleichbaren Jeansmodellen sind die Taschen in Frauenhosen 48% kĂŒrzer als die der MĂ€nner und die Hand der TrĂ€gerin passt kaum hinein: nur in ein Zehntel der Taschen. Das hat eine Datenanalyse von The Pudding 2018 ergeben.
ZSP 20 Hannah Carlson Fazit
VOICE OVER 20
Die Kleidertasche zeigt, dass rĂŒckstĂ€ndige Vorstellungen von Geschlecht, von denen wir dachten, wir hĂ€tten sie ĂŒberwunden, immer noch bei uns sind. Auf subtile Weise tauchen sie sogar in unserer Kleidung auf.
Musik: We will still be social oâ27
ERZĂHLERIN
Das jahrhundertelange Ringen um Stauraum in der Kleidung der Frauen â ist auch ein Ringen um ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Um PrivatsphĂ€re, Eigentum und MobilitĂ€t - und damit um weibliche Selbstbestimmung. Bis heute.Â
Oder wie Youtuberin Bernadette Banner es in ihrem Video ĂŒber Kleidertaschen ausdrĂŒckt:
ZSP 21 Bernadette Banner Youtube Ende
VOICE OVER 21
Ihr seht, liebes Publikum, all die Zeit haben wir schweigend hingenommen, dass die Gesellschaft uns einredet, wir hĂ€tten im 21. Jahrhundert endgĂŒltig den patriarchalen Einfluss auf die weibliche Freiheit besiegt, wĂ€hrend uns in Wirklichkeit unsere materielle Freiheit schrittweise direkt vor unseren Augen geraubt wurde â in Form von teuren Jeans mit falschen Taschen, weswegen es teure Handtaschen braucht. Verwendet diese Information, wie ihr wollt.Â