radioWissen - Bayern 2   /     Frauen und ihre Taschen - Eine desolate Lage

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Dass Frauenkleidung ĂŒberhaupt Taschen hat, in die SchlĂŒssel und Smartphone passen, ist heute Grund fĂŒr FreudentĂ€nze. Dabei war die Taschenlage fĂŒr Frauen lĂ€ngst nicht immer so dĂŒster: Vor wenigen Jahrhunderten konnten Frauen in ihren Rockfalten und GĂŒrteltaschen noch ganze EinkĂ€ufe verstauen. Vom Kampf um Taschen- und Geschlechtergerechtigkeit. Autorin: Vanessa Schneider

Subtitle
Duration
00:22:57
Publishing date
2024-09-17 03:30
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/frauen-und-ihre-taschen-eine-desolate-lage/2097609
Contributors
  Vanessa Schneider
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2097609/c/feed/frauen-und-ihre-taschen-eine-desolate-lage.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Dass Frauenkleidung ĂŒberhaupt Taschen hat, in die SchlĂŒssel und Smartphone passen, ist heute Grund fĂŒr FreudentĂ€nze. Dabei war die Taschenlage fĂŒr Frauen lĂ€ngst nicht immer so dĂŒster: Vor wenigen Jahrhunderten konnten Frauen in ihren Rockfalten und GĂŒrteltaschen noch ganze EinkĂ€ufe verstauen. Vom Kampf um Taschen- und Geschlechtergerechtigkeit. Autorin: Vanessa Schneider

Credits
Autorin dieser Folge: Vanessa Schneider
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Berenike Beschle, Julia Fischer, Silke von Walkhoff, Peter Weiß
Technik: Laura Picerno
Redaktion: Yvonne Maier

Im Interview:
Barbara Burman, Textilhistorikerin
Bernadette Banner, Youtuberin und KostĂŒmhistorikerin
Hannah Carlson, Modehistorikerin

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Und: wir empfehlen den Hörspiel-Podcast "Die Grandauers und ihre Zeit". Eine bayerische Familiensaga von Willy Purucker, die zwischen 1893 bis 1945 spielt. HIER ENTDECKEN

Linktipps:

Alice Duer Miller: Why We Oppose Pockets for Women, 1914 HIER

Bernadette Banner: Women's Pockets Weren't Always a Complete Disgrace - A Brief History: England, 15th c - 21st c  HIER ENTDECKEN

Ein historischer Überblick ĂŒber die Umbindetasche vom Victoria and Albert Museum HIER

Janet C. Myers, “Picking the New Woman's Pockets”, in: 19th Century Gender Studies, 10.1, 2014.  HIER

Rebecca Unsworth, “Hands Deep in History: Pockets in Men and Women's Dress in Western Europe, c. 1480–1630”, in: Costume, 51.2, 2017. HIER

Jutta Zander-Seidel, “Die Lesbarkeit frĂŒhneuzeitlicher Kleidung”, arthistoricum, 2018 HIER

Someone clever once said: Women were not allowed pockets – Datenanalyse zu TaschengrĂ¶ĂŸen und FunktionalitĂ€t in aktueller Frauen- und MĂ€nnerbekleidung HIER

Die weltweite Nutzung von Taschen, New York Times, 1899 HIER

Literaturtipps:

Barbara Burman & Ariane Fennetaux, “The Pocket – A Hidden History of Women’s Lives”, 2019, das Standardwerk ĂŒber die historische Bedeutung der Umbindetaschen fĂŒr Frauenleben. Leider bisher nur auf Englisch erschienen.

Hannah Carlson, “Pockets – An Intimate History of How We Keep Things Close”, 2023, eine erhellende Kultur- und Geschlchtergeschichte der Taschen in MĂ€nner und Frauenbekleidung. Auf Englisch.

Claire Wilcox, “Handtaschen. Moden & Designs im 20. Jahrhundert”, 1998. Ein Bildband ĂŒber die Entwicklung der Taschen und Handtaschen – von der Umbindetasche bis zur It-Bag.


Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

Voice Over 01 

Ich entschuldige mich im Voraus fĂŒr das Maß an reiner, destillierter, passiver Wut in diesem Video. Aber eigentlich auch nicht, weil die schiere Ungerechtigkeit dieser Sache... (PIEP) Wir sind inzwischen allzu vertraut mit der blasphemischen Schmach der Taschen in Frauenkleidung...

ERZÄHLERIN

Bernadette Banner ist wĂŒtend. Die KostĂŒmbildnerin und Historikerin filmt normalerweise launige ErklĂ€r-Videos bei Youtube – zum Beispiel ĂŒber die desolate Lage von Taschen in Frauenkleidung. 1,7 Mio. Follower schauen ihr dabei zu. Und die sind diesmal genauso aufgebracht, wie Banner:

Musik:  Source code 0‘27

ZITATORIN 

Die Tatsache, dass Frauenoberbekleidung, MĂ€ntel, Jacken usw. nie eine Innentasche haben, wĂ€hrend MĂ€nnerkleidung IMMER eine hat, macht mich so wĂŒtend, dass ein Vulkanausbruch daneben harmlos erscheint.

ZITATORIN 2

„Preach, Girl, Preach!“

ZITATORIN 

Ich brauche Taschen, so tief wie meine Seele, dass meine Dolche hineinpassen. Ich meine, Stifte..

ZITATORIN 2

“Viva la pocket revolution!“

Musik:  Nr.2 D-Dur Andante 0‘31

ERZÄHLERIN

Bernadette Banner schneidert und designt historisch korrekte KostĂŒme und Alltagskleidung und lebt zumindest modisch auch selbst im spĂ€ten 19. Jahrhundert. Die langen braunen Haare locker, aber elegant hochgesteckt. Eine hochgeschlossene Bluse, dazu ein weiter, langer Rock, SchnĂŒrstiefel, Handschuhe. GegenĂŒber Jeans, Yoga-Leggings und schmalen Sommerkleidern hat ihr anachronistisches Outfit einen unsichtbaren – aber entscheidenden Vorteil:

[PAUSE/Musik weg]

Tiefe Taschen in den Rockfalten.

ZSP 02 Bernadette Banner Everything

Voice Over 02

Frauen trugen diese riesigen Kleider, es gab also viel Platz fĂŒr Taschen. Ich habe viktorianische Taschen in meinen Rekonstruktionen eingenĂ€ht und nutze sie auch in meiner eigenen Kleidung, weil sie riesig sind. Ganze BĂŒcher, Wasserflaschen, Snacks – eigentlich alles was man den Tag ĂŒber braucht, passt in eine viktorianische Tasche.

ERZÄHLERIN

Kleidertaschen in denen ein ganzes Picknick Platz findet – das klingt wie eine Utopie. Und tatsĂ€chlich: Der Taschenreichtum im Viktorianischen Zeitalter Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Ausnahme von der Regel. Die lĂ€ngste Zeit ĂŒber hatte Frauenkleidung nĂ€mlich gar keine eingenĂ€hten Taschen!

Musik:  Servants and farmhands B 0‘52

ERZÄHLERIN:

Bis ins 16. Jahrhundert tragen Frauen und MĂ€nner in Europa ihre kleinen BesitztĂŒmer in Beuteln am GĂŒrtel. Als sich die Schneidertechniken weiterentwickeln, entstehen aus Tunika und Beinlingen der MĂ€nner Hemden und Kniebundhosen. Und in die werden ab etwa 1550 die ledernen Beutel, die zuvor an ihren GĂŒrteln ĂŒber der Tunika baumelten, einfach als Taschen in den Hosenbund eingenĂ€ht. Das Gewand der Frauen verĂ€ndert sich nicht so drastisch. UnabhĂ€ngig vom gesellschaftlichen Stand und sich wandelnden Moden tragen sie Unterkleider, Röcke und ein Mieder. Und am GĂŒrtel Beutel. Doch die verschwinden Mitte des 17. Jahrhunderts... (PAUSE)


 scheinbar. 

Denn nun binden sie sich große, birnenförmige Taschen aus Leinen, Seide, Leder oder Baumwolle mit einem Band um die HĂŒfte – und unter die Röcke – statt darĂŒber. Das liegt am besonderen Design der Röcke dieser Zeit, sagt Bernadette Banner:

ZSP 03 Bernadette Banner Umbindetaschen

Voice Over 03

Die Röcke sind zweigeteilt und werden wie zwei SchĂŒrzen vorn und hinten gebunden, so dass sie sich an den Seiten ĂŒberlappen. Dadurch ist es einfacher sich anzuziehen, aber es hat auch den Vorteil, dass so ein Schlitz an der Seite entsteht, durch den man mit den HĂ€nden in die Tasche greifen kann. Ja, das ist super sicher! Und darum haben Frauen ihre Taschen lange Zeit unter den Kleidern getragen, weil das am sichersten war.

Musik: Old mill 0‘28

ERZÄHLERIN

Die Umbindetaschen sind gerĂ€umig – und praktisch: Die HĂ€nde frei, trotzdem jederzeit alles Nötige und Wichtige nah bei sich. Auf dem Feld und in der Werkstatt, genau wie auf dem Markt und im Haushalt.

Barbara Burman ist Textilhistorikerin und hat der Umbindetasche ein ganzes Buch gewidmet: Die verborgene Geschichte vom Leben der Frauen. Denn die Umbindetasche verband Frauen ĂŒber Standesgrenzen hinweg. Eine verblĂŒffende Entdeckung:

ZSP 04 Barbara Burman Gemeinsamkeiten

Voice Over 04

Eine Herzogin machte dieselbe Erfahrung wie eine Prostituierte oder die Frau des Metzgers. Wir erkannten, dass die Umbindetasche eine gemeinsame materielle Kultur war, die alle Klassen und regionalen Unterschiede ĂŒberwand. Es war eine Offenbarung, denn die Modegeschichte erzĂ€hlt von all diesen Unterschieden, aber das stimmt eigentlich nicht.

ERZÄHLERIN

Ob reich bestickt und aus wertvollen Stoffen gefertigt oder aus ein paar alten Flicken recyclet: Frauen nutzten ihre Umbindetasche auf Àhnliche Weise, mit den gleichen Gesten, lernten sie zu tragen und wie sie hergestellt wurden. Aber auch:

ZSP 05 Barbara Burman Gemeinsamkeiten 2

Voice Over 05

UnabhĂ€ngig von Ihrem sozialen Rang hatten Sie diese gemeinsame Erfahrung und die gemeinsame Angst, dass Ihnen auf der Straße etwas weggenommen werden könnte. 

Musik:  At the crime scene 0‘58

EZÄHLERIN

Eine begrĂŒndete Angst! Denn die Geschichte der Taschen ist auch ein StĂŒck Kriminalgeschichte. In den deutschen NachrichtenblĂ€ttern und Zeitungen hĂ€ufen sich ab dem 18. Jahrhundert die Anzeigen wegen Taschendiebstahls. Am 25. Juli 1774 meldet der Hamburger Relations Courier zum Beispiel einen Diebstahl in Preßburg:

ZITATOR Hamburger Relations Courier

Eine GalanteriehĂ€ndlerin steckte hier dieser Tage auf offenem Markte etwa 50 Gulden wohl eingewickelt in ihre Tasche. Ein wohlgekleidetes Weibsbild sahe solche, und nĂ€herte sich sogleich dem Standort, um Perlen zu kaufen. Sie ließ sich solche um den Hals von der HĂ€ndlerin anprobieren, und zog ihr indessen unvermerkt die 50 Gulden aus der Tasche und gieng davon.

ERZÄHLERIN

Arbeitende Frauen und HĂ€ndlerinnen tragen ihre Taschen im 18. Jahrhundert nicht versteckt unter den Röcken, sondern sichtbar neben ihrer SchĂŒrze auf dem Kleid, ihre Waren und Geld schnell griffbereit. Darauf haben es Beutelschneider und Taschendiebe abgesehen. Tausende Verfahren befassen sich allein am Londoner Old Bailey Court zwischen 1674 und 1913 mit TaschenkriminalitĂ€t

Musik: Z8046179105 Limitation of lifetime 0‘58

Die Gerichtsprotokolle lassen uns tief in die verlorenen und gestohlenen Taschen der TrĂ€gerinnen blicken. Wir sehen darin, was ihren Besitzerinnen vor hunderten Jahren so wichtig ist, dass sie es den ganzen Tag lang – auch bei der Arbeit nah bei sich tragen. Mit Kamm, Schleifenband und weiteren KleidungsstĂŒcken bei sich, können Frauen ihr Aussehen schnell verĂ€ndern – und rund um die Uhr angemessen gekleidet von der WaschkĂŒche zum Markt und auf BotengĂ€nge gehen. 

Dazu NĂ€hzeug, ein kleines Messer, Werkzeuge fĂŒr die Arbeit, SchlĂŒssel, Obst und Brot. Manche Frauen verstauen Andenken in ihren Taschen, Briefe, wertvolle SchmuckstĂŒcke oder MĂŒnzen, eingewickelt in Papier, TĂŒcher oder in Tabakdosen.

ZSP 07 Barbara Burman Gericht

VOICE OVER 07

Manchmal glaubten die Magistrate nicht, was die Frauen ĂŒber den Diebstahl erzĂ€hlten. Einer von ihnen sagte berĂŒchtigterweise zu einer Frau im Gericht: „Es heißt, dass die Taschen der Frauen keinen Boden hĂ€tten.“ Oft nahmen sie auch an, dass es darin chaotisch zuging, ein gieriges Durcheinander, in das man so viel wie möglich stopfen konnte. Diese Vorstellung des Überkonsums und die sehr negativen Bilder weiblichen Verhaltens prĂ€gten die Wahrnehmung.

ERZÄHLERIN

Anders als in der Fantasie der Magistrate und Satiriker dieser Zeit, sind die Taschen alles andere als chaotisch –hat alles seinen Ort. Oft befinden sich innerhalb einer Tasche weitere FĂ€cher und Ösen, um den Inhalt zu organisieren und bedeutsame Dinge zu schĂŒtzen. 

Musik: C1608590105 I can’t express my deep love 0‘25

ERZÄHLERIN

Weil die Taschen so nah am Körper getragen werden, geben sie den Frauen ein GefĂŒhl von Eigentum und PrivatsphĂ€re – was ihnen, besonders in niedrigeren StĂ€nden und nach der Heirat – die Gesellschaft rechtlich bis ins spĂ€te 19. Jahrhundert nicht zugesteht

ZSP 09 Barbara Burman Privat

VOICE OVER 09

Es gibt eine Vermischung von Geheimhaltung und PrivatsphĂ€re. Im Zeitraum, den wir untersuchen, beginnt sich die Idee der PrivatsphĂ€re auszubreiten – es wird langsam als legitim angesehen, dass eine Frau in ihrem eigenen Zuhause PrivatsphĂ€re hat. Das Konzept der Geheimhaltung bleibt jedoch bestehen, und die Tasche befindet sich gewissermaßen in einem Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen.

ERZÄHLERIN

Frauen – besonders aus niedrigeren StĂ€nden – werden hĂ€ufig verdĂ€chtigt gegen Sitten und Gesetze zu verstoßen. 

[Pause]

Und das tun sie tatsÀchlich auch oft. Mal mehr und mal weniger geschickt:

Musik: Z8038426125 Nasty Ambush 0‘39

ZSP 10 Barbara Burman Enten

VOICE OVER 10

Aber man konnte eine Menge transportieren. In Warwickshire, im lĂ€ndlichen Raum zum Beispiel, hat eine Frau mit zwielichtigem Ruf zwei lebende Enten vom Bauern gestohlen. Sie steckte sie in ihre Tasche und rannte ĂŒber die Felder... 

[etwas hörspielig produzieren, mit GerÀuschen]


 Der Bauer hinterher. Er wollte die Enten unbedingt zurĂŒck und verfolgte sie ĂŒber die Felder, bis er sie einholte... 

[Stille]

...Sie wurde wegen Diebstahls der Enten angeklagt.

[MUSIK WECHSEL/PAUSE]

ERZÄHLERIN 

Die Umbindetasche ist so nĂŒtzlich, dass sie auch nicht dauerhaft abgelegt wird, als sich nach der französischen Revolution die Frauenmode radikal verĂ€ndert.

Musik:  Champ de ble 0‘34

Modern sind nun feine, weiße Musselinstoffe, die sich an die Körper der Frau schmiegen, wie die Kleider antiker Statuen. Unter den oft durchscheinenden Kleidern trĂ€gt die Umbindetasche auf, darum haben viele Frauen in der Öffentlichkeit nun kleine SĂ€ckchen als Handtaschen bei sich – sogenannte RĂ©ticules (Aussprache: Französisch). Sie sind eher SchmuckstĂŒck, als Transportmittel. 

Diese Empire-Mode vergeht schon um 1820 wieder und ausladende Röcke mit Crinolinen und Korsetts sorgen fĂŒr die ideale Sanduhrsilhouette. In den ĂŒppigen Rockschichten ist jetzt auch wieder Platz fĂŒr Taschen. Kurzzeitig werden diese sogar in die großen Röcke eingenĂ€ht. So, wie in die Hosen, Jacken und MĂ€ntel der MĂ€nner, die von Taschen fĂŒr alle möglichen Zwecke inzwischen regelrecht ĂŒbersĂ€ht sind:

ZSP 11 Barbara Burman Herrentasche

VOICE OVER 11

Wenn man die Taschen an einem dreiteiligen Herrenanzug zĂ€hlt und dazu die Manteltaschen, dann erreicht man schnell eine zweistellige Anzahl: verschiedene Taschen, Taschen fĂŒr Tickets, grĂ¶ĂŸere Taschen (...) Tasche fĂŒr Sandwiches, fĂŒr Flaschen, fĂŒr Geld... 

Musik: Simple life 0‘29

ERZÄHLERIN

. Mit ihren vielen Taschen sind die MĂ€nner fĂŒr jede Situation unterwegs ausgestattet. Das wĂŒnschen sich die höheren Damen fĂŒr ihre Reisen mit Kutschen und der neuen Eisenbahn auch. Die eingenĂ€hten Kleidertaschen werden zum Ausdruck von ModernitĂ€t und ab Mitte des 19. Jahrhunderts breiten sie sich auch auf der gesamten Frauenkleidung aus: Die große deutsche Modezeitung Bazar zeigt Ende der 1870er Jahre dekorative Taschen auf den Röcken und Jacken. Analog zu den vielen spezialisierten Taschen des Herrenanzugs hat die modische Frau nun Taschen fĂŒr FĂ€cher und sogar Schirme auf dem Rock – scheinbar. Denn die sind zwar hĂŒbsch verziert, aber leider ganz und gar nicht brauchbar.

ZSP 12 Hannah Carlson Handtasche

VOICE OVER 12

Dann kommt die Handtasche auf und es entsteht die Vorstellung, dass Frauen keine Taschen brauchen, weil sie ja eine Handtasche haben. Und warum sollten Frauen sich darĂŒber ĂŒberhaupt beschweren?

ERZÄHLERIN

In fast jeder Ausgabe des Bazars sind nun neue, modische Varianten des Arbeitsbeutels zu sehen – kleine KĂ€stchen und Handtaschen, die ursprĂŒnglich fĂŒr die Aufbewahrung von NĂ€hutensilien gedacht waren. 

Denn die Röcke sind jetzt so schmal geschnitten, dass eingenÀhte Taschen höchstens noch in der voluminös gebauschten Rocköffnung am Po versteckt werden können. Bernadette Banner:

ZSP 13 Bernadette Banner RĂŒckentasche

VOICE OVER 13

Aber sie bestanden auf ihre Taschen! Dort, wo das Kleid sich öffnete, ĂŒberlappt sich der Stoff. Und dort befand sich eine Tasche. Es ist so einfallsreich. (...) Und es ist auch unnatĂŒrlich und ein bisschen seltsam, aber zumindest hatten sie eine Tasche. Und das war besser als keine Tasche zu haben.

Musik:  Hobbling down 0‘29

ERZÄHLERIN

Aber: Die Frauen mĂŒssen sich jetzt regelrecht verrenken, um an ihre Tasche zu kommen

Der Grund fĂŒr die merkwĂŒrdige Positionierung: Sie soll die Silhouette der Frau – die durch strenge Röcke und steife Korsetts diszipliniert und in Form gebracht wird – nicht durch unansehnliche Beulen und Ausbuchtungen stören. Manche Schneiderinnen und Schneider verweigern ihren Kundinnen die Taschen sogar gĂ€nzlich:

ZSP 14 Hannah Carlson Suffragetten

VOICE OVER 14

Die Suffragette Elizabeth Cady Stanton berichtete in den 1890er Jahren amĂŒsant ĂŒber eine Diskussion mit ihrem Schneider. Sie bestand auf Taschen und der Schneider erwidert: Nein, Nein! Die wĂŒrden sie ausbeulen. Einfach furchtbar! Wissen Sie was, ich werde ihnen keine Taschen einnĂ€hen.

ERZÄHLERIN

Das zeige sich bis heute in der Frauenmode und den mangelnden Taschen darin, sagt die Modehistorikerin Hannah Carlson. Sie hat eine Kulturgeschichte der Tasche verfasst:

ZSP 15 Hannah Carlson Problem

VOICE OVER 15

Die Vorstellung, dass Taschen nicht in Frauenbekleidung passen, beginnt genau in diesem Moment. Es ist der Übergang von viktorianischer Kleidung mit Korsetts und großen Röcken in die moderne Ära. Und das Problem, dass Frauenbekleidung keinen festen Platz fĂŒr Taschen hat, ist geblieben und hat sich bis ins 20. und 21. Jahrhundert fortgesetzt.

Musik:  Think and follow 1  0‘22

ERZÄHLERIN

Statt eine Tasche zu konstruieren, mit der Form und Schnitt des KleidungsstĂŒckes intakt bleiben, nehmen Schneider und öffentliche Kritiker an, dass Frauen diese Taschen ja eigentlich gar nicht benötigen. Diese Haltung wird im Laufe der Jahrhunderte auch in Karikaturen und Satiren deutlich.

ZSP 16 Barbara Burman Opfer

VOICE OVER 16

Die Frauen wurden Opfer der Idee, dass sie nicht zu viel besitzen sollten. Und wenn sie SchlĂŒssel und Geld besaßen, dann war das ein wenig verwerflich – denn es bedeutete, dass die Frau mobil ist. Und das wiederum hieß, dass sie ein gewisses Maß an UnabhĂ€ngigkeit besaß.

ERZÄHLERIN

Taschen gelten als Privatsache, als Teil der Unterbekleidung und haben lange Zeit etwas anrĂŒchiges an sich. In Satiren und Parodien ziehen MĂ€nner ĂŒber die chaotischen Taschen der Frauen her. In Deutschland entwickelte sich das Wort „Tasche“ zum Schimpfwort fĂŒr die Frau. Und auch RĂ©ticules und Arbeitsbeutel ziehen die HĂ€me zeitgenössischer Kritiker auf sich, die sich an den zur Schau gestellten Habseligkeiten der Frauen stören.

Musik:  Organic technology 0‘31

Ende des 19. Jahrhunderts machen die Frauenrechtlerinnen die Tasche zum Politikum.

Die Feministin Alice Duer Miller bringt die ungerechte politische Situation der Frauen 1914 auf den Punkt – Frauen dĂŒrfen nicht wĂ€hlen, zahlen aber Steuern. In ihrer Polemik „Warum wir gegen Taschen fĂŒr Frauen sind“ mĂŒnzt sie die absurden Argumente gegen das Frauenwahlrecht auf die desolate Taschenlage um. Darunter:

ZITATORIN Alice Duer Miller Pockets for Women (†1942)

Weil Taschen kein Naturrecht sind.

Weil die meisten Frauen keine Taschen wollen – wĂ€re es anders, hĂ€tten sie sie.

Weil MĂ€nner MĂ€nner und Frauen Frauen sind. Wir dĂŒrfen uns nicht gegen die Natur stellen.

ERZÄHLERIN

und schließlich:

ZITATORIN Alice Duer Miller Pockets for Women (†1942)

Weil MĂ€nnern in ihren Taschen Tabak, Pfeifen, Whiskyflaschen, Kaugummi und kompromittierende Briefe tragen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Frauen die Taschen klĂŒger verwenden wĂŒrden.

ERZÄHLERIN

Die britischen und US-amerikanischen Suffragetten machen aus den fehlenden Kleidertaschen ein Sinnbild fĂŒr andere fehlende Rechte im Kampf um Gleichberechtigung, sagt Hannah Carlson.

ZSP 18 Hannah Carlson Karikaturen

VOICE OVER 18

Erstaunlicherweise thematisieren Suffragetten die Taschen ziemlich oft, und ihre Gegner verspotten sie deswegen. Die konservative Presse schreibt damals Dinge wie: „Warum geben wir Frauen nicht einfach Taschen statt des Wahlrechts? Dann sind sie glĂŒcklich und hören auf zu meckern.“

 Hommage an Kurt Weill 2  0‘18

ERZÄHLERIN

Es kommt anders: Das Wahlrecht erstreiten sich Frauen in Europa und den USA Anfang des 20. Jahrhunderts. Doch Taschen in der Frauenkleidung bleiben weiterhin Mangelware.

Und vor einhundert Jahren macht die Modejournalistin Julie Elias 1924 im Karlsruher Tageblatt eine Beobachtung, die auch heute noch gilt:

ZITATORIN Julie Elias – Die Tasche, 1924

“ Was der Herrenschneider fĂŒr natĂŒrlich und selbstverstĂ€ndlich hĂ€lt, den Taschenreichtum, das ist fĂŒr den Damenschneider im allgemeinen Luxus und Modesache.”

ERZÄHLERIN

Im 20. Jahrhundert kommt und geht die Tasche in der High Fashion, wie es dem Zeitgeist beliebt. Aber so große und nĂŒtzliche Taschen wie in den beiden Jahrhunderten zuvor haben Frauen nie wieder in ihrer Kleidung. In der Fast Fashion von heute ist keine Zeit fĂŒr das aufwendige Einsetzen und Gestalten von funktionalen und formwahrenden Taschen in die oft figurbetonte Frauenkleidung.

ZSP 19 Hannah Carlson Fast Fashion

VOICE OVER 19

Es ist leicht darauf zu verzichten in der Fast Fashion aber auch im mittleren Preissgegment. Eine Tasche einzufĂŒgen ist teuer und außerdem: Frauen haben Handtaschen. Ich glaube, dass ist der Hauptgrund, dass Taschen in der Frauenbekleidung fehlen.

Musik:  Opportunity 0‘25

ERZÄHLERIN

Die Handtasche hat sich in den vergangenen hundert Jahren als weiblicher Transportgegenstand durchgesetzt – und zu einem wichtigen Umsatzfaktor in der Modeindustrie entwickelt. 

1924 glaubt die Modejournalistin Julie Elias, den hartnĂ€ckigsten und langlebigsten Grund gegen die Kleidertaschen endlich ĂŒberwunden zu haben:

ZITATORIN Karlsruher Tageblatt Julie Elias 1924

“Als die engen und engsten Röcke noch rigoros herrschten, wie oft mußte man da nicht bei schĂŒchternen Anspielungen die Antwort hören:„Eine Tasche? Aber das trĂ€gt ja viel zu stark auf." Manchmal gab es zwar Taschen, aber man durfte um des Himmels willen nichts hineintun.(...) Heute hat man andere Sorgen, (...) u. die MĂ€nnertasche erregt der Frau wirklich keine Bedenken mehr. Sie darf herzhaft auf ihre Tasche schlagen und mit jenem Philosophen sprechen: „Omnia mea mecum porto." 

ERZÄHLERIN

„All meinen Besitz trage ich bei mir.“ Doch Ciceros Ausspruch bleibt bis heute eine Wunschvorstellung – zumindest fĂŒr Frauen: Bei vergleichbaren Jeansmodellen sind die Taschen in Frauenhosen 48% kĂŒrzer als die der MĂ€nner und die Hand der TrĂ€gerin passt kaum hinein: nur in ein Zehntel der Taschen. Das hat eine Datenanalyse von The Pudding 2018 ergeben.

ZSP 20 Hannah Carlson Fazit

VOICE OVER 20

Die Kleidertasche zeigt, dass rĂŒckstĂ€ndige Vorstellungen von Geschlecht, von denen wir dachten, wir hĂ€tten sie ĂŒberwunden, immer noch bei uns sind. Auf subtile Weise tauchen sie sogar in unserer Kleidung auf.

Musik: We will still be social o’27

ERZÄHLERIN

Das jahrhundertelange Ringen um Stauraum in der Kleidung der Frauen – ist auch ein Ringen um ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Um PrivatsphĂ€re, Eigentum und MobilitĂ€t - und damit um weibliche Selbstbestimmung. Bis heute. 

Oder wie Youtuberin Bernadette Banner es in ihrem Video ĂŒber Kleidertaschen ausdrĂŒckt:

ZSP 21 Bernadette Banner Youtube Ende

VOICE OVER 21

Ihr seht, liebes Publikum, all die Zeit haben wir schweigend hingenommen, dass die Gesellschaft uns einredet, wir hĂ€tten im 21. Jahrhundert endgĂŒltig den patriarchalen Einfluss auf die weibliche Freiheit besiegt, wĂ€hrend uns in Wirklichkeit unsere materielle Freiheit schrittweise direkt vor unseren Augen geraubt wurde – in Form von teuren Jeans mit falschen Taschen, weswegen es teure Handtaschen braucht. Verwendet diese Information, wie ihr wollt.Â