Eben noch die groĂe Liebe und im nĂ€chsten Moment will der oder die andere keinen Kontakt mehr, ist aus dem eigenen Leben verschwunden wie ein Geist. "Ghosting" ist der Fachbegriff fĂŒr dieses PhĂ€nomen. Was passiert mit denen, die so plötzlich verlassen werden und nicht wissen warum? Und warum ghosten Menschen andere? Von Katharina HĂŒbel
Eben noch die groĂe Liebe und im nĂ€chsten Moment will der oder die andere keinen Kontakt mehr, ist aus dem eigenen Leben verschwunden wie ein Geist. "Ghosting" ist der Fachbegriff fĂŒr dieses PhĂ€nomen. Was passiert mit denen, die so plötzlich verlassen werden und nicht wissen warum? Und warum ghosten Menschen andere? Von Katharina HĂŒbel
Credits
Autorin dieser Folge: Katharina HĂŒbel
Regie: Christiane Klenz
Es sprach: Heiko Ruprecht
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Anja Wermann, Ghosting-Ambulanz Berlin
Pia Kabitzsch, Buchautorin und Psychologie-Podcasterin
Michaela Forrai, Kommunikationswissenschaftlerin, UniversitĂ€t WienÂ
Daniela Liebsch, Betroffene
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags ĂŒberall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
Literatur:
Pia Kabitzsch: Itâs a date. Tindern, ghosting, groĂe GefĂŒhle. Was die Psychologie ĂŒber Dating weiĂ. 2022. â Ein Sachbuch ĂŒbers Swipen, den Algorithmus von Dating-Apps, wie wir uns besser durch den Dating-Dschungel bewegen können, ohne aus Ăberforderung andere ghosten zu mĂŒssen und wie erste Dates gelingen können.
Timmermans, E., Hermans, A. M., & Opree, S. J. (2020). Gone with the wind: Exploring mobile datersâ ghosting experiences. Journal of Social and Personal Relationships, 1-19. Das ist die im Feature erwĂ€hnte Studie zu den Motiven von Ghostern. HIER
Linktipps:Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
OT01 Pia Kabitzsch
Ich wurde geghostet. TatsĂ€chlich. Was mich sehr aus der Bahn geworfen hat, weil es ein sehr schönes Date war. Wir haben uns gekĂŒsst, es war megaschön und dann hab ich nie wieder was von dem gehört.Â
MUSIK 2 Â Air - Night Hunter 0â50
Sprecher
Ein Mensch antwortet plötzlich nicht, meldet sich nicht mehr. Reagiert nicht auf Nachfragen oder Kontaktversuche. Ist unerklĂ€rlicherweise von einem Tag auf den anderen aus unserem Leben verschwunden.Â
OT2 Pia Kabitzsch
Und ich war einfach nur so: Was soll das? Warum ghosten Leute?Â
Sprecher
Ohne ein Wort des Abschieds, ohne eine BegrĂŒndung. Dabei gibt es sie noch. Man sieht sie auf Instagram Stories posten. Hört von Freunden, dass sie sich mit anderen getroffen haben. Ihr Beziehungsstatus Ă€ndert sich von Single auf verliebt. Manchmal sind es auch jahrelange Freunde, denen man vertraut â und die plötzlich nichts mehr mit einem zu tun haben wollen â ohne weitere ErklĂ€rung. Oder: Familienangehörige. Spurlos aus dem eigenen Leben verschwunden. Wie ein Geist.Â
MUSIKENDE
Sprecher
Pia Kabitzsch hat viel Erfahrung mit Online-Dating. Eine feste Beziehung ist das, was sie damals sucht. Sie schreibt sich ein, zwei Wochen mit einem Mann. Telefoniert mit ihm.Â
OT03 Pia KabitzschÂ
Und ja, dann haben wir uns in der Bar getroffen. Und ich habe die 36 Fragen zum Verlieben mitgebracht, weil ich so dachte, warum nicht, probiere ich mal aus, wie er reagiert. Ich muss auch dazu sagen, ich bin nicht so der Smalltalk-Mensch, das gibt mir nicht so viel. Ich gehe schnell auf tiefere Themen.Â
Sprecher
Pia Kabitzsch hat Psychologie studiert, ist Buchautorin und Psychologie-Podcasterin: die 36 Fragen zum Verlieben sind fĂŒr sie so eine Art Handwerkszeug. Sie wurden von dem amerikanischen Wissenschaftler Arthur Aron entwickelt. Das Experiment: Können sich zwei bis dato völlig fremde Personen in Rekordzeit miteinander verbunden fĂŒhlen? Ja, wenn sie bestimmte vorgegebene Fragen ehrlich beantworten â und sich so von einer verletzlichen Seite zeigen.
OT04 Pia Kabitzsch
Wir haben unter anderem darĂŒber gesprochen, dass mein Stiefvater verstorben war â die Frage war: mit wem wĂŒrdest Du gerne nochmal, wenn du alle Personen der Welt zum Essen einladen könntest, gern nochmal essen? Und da ist mir mein Stiefpapa in den Sinn gekommenâŠ. Er hat mir auch von seinen Eltern erzĂ€hlt, wir haben ĂŒber TrĂ€ume gesprochen, ĂŒber WĂŒnsche, ĂŒber Ăngste und dann haben wir uns gekĂŒsst. Dann hat er mich noch zur StraĂenbahn gebracht. Ja, und dann habe ich den nie wieder gehört, nie wieder gesehen.Â
MUSIK 3 ( Air â Jâai dormi sous Lâeau 1â17)
Sprecher
Pia Kabitzsch kann erstmal nicht glauben, dass er einfach nicht mehr antwortet.Â
OT 05 Pia Kabitzsch
Ich hab ihm nochmal geschrieben, direkt noch in der Tram. Vielen Dank fĂŒr den schönen Abend, ich wĂŒrde mich total freuen, wenn wir das wiederholen. Und dann hat er am nĂ€chsten Tag nicht geantwortet. Ich war schon so: Mensch, was soll das? Dann hab ich nochmal geschrieben. Hey, alles gut?
OT05 Pia Kabitzsch
Man wertet sich natĂŒrlich selbst ab, weil man die Ursache hĂ€ufig bei sich selbst sucht. Ich war einfach so enttĂ€uscht und verletzt und ich hab schon gedacht: Okay, was hast Du eigentlich erzĂ€hlt, vielleicht irgendwie komisch, dass Du mit diesen Fragen um die Ecke gekommen bist. War der Kuss zu frĂŒh? Dieses Gedankenkarussell geht dann los. (âŠ) Man kann damit nicht so ganz abschlieĂen. Damals war es schon so, dass ich die nĂ€chsten ein, zwei Wochen immer zum Handy gesprungen bin, wenn das vibriert hat, weil ich dachte, jetzt hat er sich doch gemeldet. Es gibt irgendeine ErklĂ€rung, weil es kann ja nicht sein, dass er sich nicht mehr gemeldet hat. Es war ja so schön. Aber ich hab tatsĂ€chlich nie wieder was von ihm gehört. Vielleicht war ihm das zu tiefgrĂŒndig. Vielleicht hat er sich geöffnet und danach gedacht: Oh Gott, das ist mir gerade viel zu schnell gegangen. Vielleicht hatte er Bindungsangst. (âŠ) Aber in dieser Ungewissheit zu bleiben⊠Hoffnung ist da halt schon so ein kleines Arschloch, sagen wir es mal so.
MUSIKENDE
Sprecher
Ghosting ist einfacher geworden. Vielen Menschen, denen wir online schreiben, begegnen wir einfach nicht beim BĂ€cker oder im Supermarkt, mĂŒssen ihnen auf der Arbeit nicht in die Augen schauen, und auch unsere engen Freunde kennen sie nicht. Wir wischen in der Dating-App Profile weg, blockieren Kontakte, ignorieren ChatverlĂ€ufe, bekommen lĂ€ngst wieder die nĂ€chste Nachricht, haben hunderte von Freunden, tausende von Followern.Â
OT06 Pia Kabitzsch
Online-Dating hat definitiv unser Dating- und Liebesleben verĂ€ndert. Es ist alles ein bisschen schnelllebiger, weil man einfach weiĂ, man hat eine groĂe Auswahl an potentiellen Partnern und Partnerinnen.Â
Sprecher
Pia Kabitzsch hat sich auch als Psychologin mit dem Daten via App beschĂ€ftigt und dabei ein relativ neues PhĂ€nomen beobachtet: âDating-Burnout.Â
OT07 Kabitzsch
Das ist dieses MĂŒdesein, Frustriertsein, Ăberfordertsein vom Onlinedating. Viele gehen halt ohne Plan in diesen Online-Dating-Dschungel und versuchen sich irgendwie durchzunavigieren und das Gehirn ist einfach komplett ĂŒberfordert. Innerhalb von 0,1 Sekunden machen wir uns ein Blitzurteil ĂŒber eine andere Person, ob wir sie vertrauenswĂŒrdig finden, sympathisch finden, attraktiv finden. Ob man jetzt nach rechts oder links wischt, ob man Interesse hat oder nicht. Viele denken ja auch, dass es da drauĂen das Perfect Match gibt, dass man nur so lange wie möglich oder so lange wie nötig irgendwie swipen muss, bis man diese perfekte Person findet. Die es aber gar nicht gibt.
Sprecher
Andere, die man bereits kontaktiert hat, zu ghosten, kann eine Folge dieser Illusion sein. Auf der Suche nach dem perfekten Match schreiben manche nicht nur einige wenige Menschen an, sondern viele. So viele, dass sie den Ăberblick verlieren â oder auch die nötige Aufmerksamkeit fĂŒr eine einzelne Person, um diese wirklich kennen und möglicherweise lieben zu lernen. Es ist auch die Angst, Mr oder Mrs Perfect zu verpassen, wenn man sich zu lange mit einer Person exklusiv schreibt. Der Effekt: Unverbindlichkeit. Statt Bindung.Â
MUSIK 4 ( Pete Yorn - Someday 0â15)
Sprecher
Doch manchmal hat es gar nichts mit dem Ăberangebot einer Dating-App zu tun. Manchmal sind es ausgerechnet die wichtigsten Personen im Leben eines Menschen, die keinen Kontakt mehr wollen.
MUSIK 5 ( Fiona Brice â Ascending 2â04)
OT08 Daniela Liebsch
Ich hatte mein ganzes Treppenhaus hier voll mit Familienbildern. Auch von meinen Kindern. Irgendwann habe ich gewusst, ich kanns nicht mehr sehen, weil das nicht mehr so ist. So sind sie nicht mehr. Sie wollen mich nicht mehr.Â
Sprecher
Daniela Liebsch ist Mutter von zwei Töchtern und Oma. Seit gut fĂŒnf Jahren haben ihre Kinder keinen Kontakt mehr zu ihr.Â
OT09 Daniela Liebsch
Ich habe eine Kiste genommen, hab die Bilder rein und habe die Kiste verschlossen. Ein einziges Bild von meinem Enkel habe ich in meinem Arbeitsraum stehen. Das ist das Einzige, was ich mir anschaue. Wo er und ich drauf sind, da springt so viel Verbundenheit raus. Da war er noch klein. Alles andere habe ich verbannt, ich kann es nicht mehr anschauen.
Sprecher
Wenn Familienangehörige ohne ErklĂ€rung den Kontakt abbrechen, dann ist das anders als ein Date, das sich nicht mehr meldet. Das kann man, wenn es gut geht, irgendwann abhaken. Aber die Beziehung zu den eigenen Kindern? Â
OT10 Daniela Liebsch
Es ist eine Lebensaufgabe.
So ein Ende von einer Beziehung Kind-Eltern, wenn mir das einer gesagt hĂ€tte, dass mir das mal passiert, hĂ€tte ich gesagt: niemals im Leben, das gibt es nicht, hĂ€tte ich gesagt. Ich weiĂ jetzt, dass es das gibt und mein Standardsatz ist: Ich komme damit nicht klar. Ich komme damit nicht klar. Der Zustand ist wie Trauer, ich kann das gut vergleichen, wie mein Mann gestorben war, es ist im Prinzip der gleiche Zustand, nur, dass sich das so verĂ€ndert, dass man damit umgehen kann. Mit dieser Trauer kann ich nicht umgehen. Ich komme aus dieser Trauerschleife nicht raus.Â
MUSIKENDE
Sprecher
Denn: Die Kinder leben. Sie wollen Daniela Liebsch nur nicht mehr sehen und nicht mehr mit ihr sprechen. Und die Mutter versteht nicht, wieso. Auslöser waren der Tod ihres Mannes und kurz darauf: stirbt auch noch Danielas Vater. Beide Familienangehörigen waren fĂŒr die Kinder sehr wichtige Personen â aber auch fĂŒr Daniela Liebsch selbst. Eigentlich betrauern Mutter und Töchter den gleichen groĂen Verlust. Aber die emotionale Extremsituation schafft keinen Zusammenhalt, im Gegenteil: die Töchter machen Daniela Liebsch VorwĂŒrfe. Sie hĂ€tte sich zu Lebzeiten gestritten mit dem Vater. Sie sei keine gute Mutter gewesen. Und vieles mehr ⊠Doch was genau ist los? Was konkret ist passiert? Was kann sie tun? Daniela Liebsch bekommt seit fĂŒnf Jahren keine Antworten auf ihre Fragen. Die Töchter sind fĂŒr sie nicht mehr erreichbar. Sie ist komplett abgeschnitten von ihrem Leben.
OT11 Daniela Liebsch
Das ist mit das Schlimmste gewesen, dass man abgelehnt wird. Es hat die Wertigkeit gezeigt, die man als Mutter plötzlich hat, auch als Mensch fĂŒhlst Du Dich als bist Du nichts mehr wert. In der Anfangszeit bin ich geschwankt, also wenn mich jetzt einer nicht kennt und hĂ€tte mich gesehen, wie ich schwankend laufe, der hĂ€tte gedacht, ich stehe unter Alkohol. Ich hatte meine Mitte nicht mehr. Ich war völlig auĂer mir. Der Fall nach unten ist so tief, das kann man sich ĂŒberhaupt nicht vorstellen und vor allen Dingen die Gedanken kreisen tĂ€glich. Es ist heut noch so: So wache ich auf, so schlafe ich ein, du wirst tĂ€glich getriggert durch irgendwelche Dinge, was einen an die Kinder erinnert. Oder wenn ich jetzt kleine Jungs sehe, denke ich mir: Du hast einen Enkel, darfst ihn nicht mehr sehen. Du nimmst als allererstes die komplette Schuld auf Dich. Du fĂŒhlst Dich so schuldig, dass Du nicht mehr richtig gehen kannst.
Sprecher
Das GegenĂŒber, mit dem die Mutter die belastenden Fragen klĂ€ren und besprechen will, gibt es fĂŒr sie nicht mehr.Â
OT12 Daniela Liebsch
Wie wenn ich vor einer Betonwand stehe und weiĂ, dahinter wĂ€re eine Möglichkeit. Dahinter sind die Personen, mit denen ich dringend sprechen möchte und nicht kann, nicht darf. Es wird mir einfach verwehrt.
Sprecher
Daniela Liebsch ist gefangen. In einer emotionalen Endlosschleife.Â
OT13 Daniela Liebsch
Ich sehe das heute noch so: Es sind meine MĂ€dchen und das werden sie immer bleiben. Meine Kinder waren fĂŒr mich das gröĂte Geschenk, was ich je in meinem Leben hatte. Und ich weiĂ nicht, wie oft ich meinen Kindern gesagt habe, ich kann mich noch gut entsinnen: Ihr seid das Beste, was mir je in meinem Leben passiert ist â da könnt ich jetzt weinen⊠und das ist auch so.Â
MUSIK 6 ( Sine â Colour Shades Air 1â01)
Sprecher
Dazu kommen MigrĂ€neattacken, körperliche Schmerzen, Gewichtsverlust⊠Psychosomatische Beschwerden, stellt ihre HausĂ€rztin fest. Daniela Liebsch kann die GefĂŒhle und Schmerzen nicht mehr alleine bewĂ€ltigen und beginnt eine Psychotherapie.
OT14 Daniela Liebsch
Da arbeite ich dran, dass ich mir das auch selber verzeihen kann. Es ist auch ein ganzes StĂŒck weit besser geworden. Aber ganz kann man es nicht verdrĂ€ngen.Â
Sprecher
Die Psychologie hat AnsĂ€tze dafĂŒr, wie Menschen besser mit Verlust und Trauer umgehen können, mit Wut und Ohnmacht, wie sie SchuldgefĂŒhle oder Resignation hinter sich lassen und ihr Leben wieder angehen können. Doch speziell zu Ghosting gibt es bislang sehr wenig Forschung. Das hat auch Anja Wermann festgestellt. Sie ist psychologische Beraterin und hat in Berlin eine Ghosting-Ambulanz aufgebaut, nachdem sie selbst von einem Mann geghostet wurde, in den sie sich verliebt hatte.Â
MUSIKENDE
OT15 Anja Wermann
Ich glaube, wenn Menschen klarer wissen, dass Ghosting eben nicht einfach nur eine normale Trennung ist, sondern nochmal was EigenstĂ€ndiges, wĂŒrden sie vielleicht achtsamer damit umgehen. Das Problem kenne ich auch aus meinen Beratungen: dass die Klientinnen und Klienten teilweise hören: Aber Du hast doch schon andere Trennungen gehabt. Warum nimmt dich das jetzt so mit? Weil der Freundeskreis das eben auch noch nicht weiĂ: Das ist eben was anderes als eine Trennung. Die sehen wir halt meistens kommen oder hat auch schon zehn GesprĂ€che oder hunderte mit seinem Partner, seiner Partnerin gefĂŒhrt. Warum das irgendwie nicht funktioniert und was wir jetzt Ă€ndern mĂŒssen und so weiter und so fort. Bei dem Ghosting ist es ja wirklich das absolute Abrupte plus noch, dass der andere nicht mehr zu erreichen ist. Man kann es auch nicht mehr klĂ€ren.
Sprecher
Und das genau ist fĂŒr die Psyche extrem schwierig.
OT16 Anja Wermann
Das ist schon ein bisschen wie ein Schock, wenn plötzlich eine Person von heute auf morgen verschwindet. (âŠ) Dass man dann durch diesen plötzlichen Abbruch so ein ganz starkes SehnsuchtsgefĂŒhl hat, den Eindruck, wir brauchen den anderen jetzt unbedingt. Und man braucht nochmal die BestĂ€tigung oder die Klarheit, was da eigentlich passiert ist.Â
MUSIK 7 ( Air â Highschool Lover 0â52)
Sprecher
Das Gehirn sucht Antworten, Hinweise, will verstehen. Und kommt nie an. Einfach weiterleben, die Gedanken und Fragen loslassen, funktioniert oft nicht.
OT17 Anja Wermann
UngefĂ€hr die HĂ€lfte, die zu mir kommt, da liegt die Ghosting-Erfahrung schon lĂ€nger zurĂŒck, also teilweise auch mehrere Jahre und ist aber noch nicht verarbeitet. Da ist auch ein sehr groĂer Leidensdruck aufgebaut ĂŒber die Jahre, weil man einfach diesen Ausweg nicht findet.Â
OT18 Anja Wermann
Dieses Wissen darum, dass Menschen dazu neigen, dass eine Gestalt geschlossen sein muss â also eine unvollstĂ€ndige Gestalt hinterlĂ€sst halt immer so ein GefĂŒhl von: man kann es nicht abschlieĂen. Und dann habe ich halt geschaut â okay, was sind Möglichkeiten, diese Gestalt abzuschlieĂen oder diese Frage zu beenden.Â
Sprecher
Anja Wermann hat eine Ăbung gefunden, die ihre Klientinnen und Klienten wieder in die Gegenwart holen kann: Die Ăbung mit dem Buch.
OT19 Anja Wermann
Da geht es im Grunde darum, dass ich mir vorstelle, ich lese ein Buch, das ist ein total schön geschriebenes Buch und ich lese das so gerne. Und dann bin ich schon bei der HĂ€lfte des Buchs und blĂ€ttere um und zack: Seite leer. Dann sind Sie so völlig verdattert vor diesem Buch â was ist denn jetzt los? Warum geht es hier nicht weiter? Ich will doch wissen, wie die Geschichte weitergeht. Aber die ist einfach radikal mittendrin zu Ende. Dann kann ich mir halt ĂŒberlegen: Möchte ich jetzt hier noch die nĂ€chsten zwei Jahre vor diesem Buch sitzen mit der Frage: Was ist eigentlich passiert? Wie gehtâs weiter? Wann gehtâs weiter? Oder kann ich das Buch erstmal zuklappen und ins Regal stellen und mich erstmal wieder umschauen in meinem Leben. Ja, ich habe diese unvollendete Geschichte. Aber wie kann mein Leben trotzdem weitergehen?Â
Sprecher
Jahre spÀter können sich die Betroffenen möglicherweise erneut mit dem imaginÀren Buch beschÀftigen.
OT20 Anja Wermann
Wenn man sich weiterentwickelt hat, andere Dinge erfahren hat, vielleicht fÀllt einem noch was ein zu diesem Buch und der Geschichte. Man kann es auch wieder rausnehmen aus dem Regal und noch mal seine ErgÀnzungen formulieren.
Sprecher
Manchen Klientinnen und Klienten hilft die Ăbung allerdings nur fĂŒr kurze Zeit.
MUSIK 8 ( Mark Allaway / Jeffrey Lardner: Winds Of Change (Underscore) 1â09)
OT21 Anja Wermann
Aber dann fĂ€ngt der Verstand wieder an zu kreisen. Da habe ich dann diese Ăbung mit dem SpĂŒrhund draus entwickelt. Im Grunde ist unser Verstand wie so ein SpĂŒrhund. Wir geben unserem SpĂŒrhund, unserem Verstand Aufgaben. Zum Beispiel: Such die Antwort auf die Frage, was da jetzt passiert ist. Dann rennt der SpĂŒrhund los und sucht. Der kann wirklich jahrelang laufen und suchen, der ist super ausdauernd. (âŠ) Es gibt SpĂŒrhunde, die sind einfach sehr energiegeladen. Und die möchten halt eine Aufgabe nach der nĂ€chsten haben. Dann ĂŒberlegen wir zusammen: Mit was könnten wir den SpĂŒrhund beschĂ€ftigen?
Sprecher
Zum Beispiel damit: Such den nĂ€chsten Weg da raus. Oder: Was war es, das mich an dem vermissten Menschen so fasziniert hat? Könnte ich das irgendwie auch anderweitig in mein Leben holen? AnsĂ€tze, die Ohnmacht hinter sich zu lassen. Doch die nagende Frage nach dem Warum lĂ€sst sich oft schwer abstellen â und vor allem das GefĂŒhl einer groĂen Verunsicherung: Kann ich mir selbst noch trauen?Â
OT22 Anja Wermann
Ist meine Menschenkenntnis wirklich so gut? Und gleichzeitig aber auch eine Unsicherheit, ob man einer neuen Person wieder trauen kann. Das kann teilweise schon zu einem RĂŒckzug fĂŒhren, dass man zum Beispiel weniger neue Kontakte knĂŒpft, weil man eben denkt, das hĂ€lt jetzt eh nicht lange oder die Person verschwindet wieder.
Sprecher
Mehr ĂŒber das Warum zu wissen, ĂŒber die andere Seite, wĂŒrde Betroffenen helfen, mit ihrer Situation besser fertig zu werden.Â
Eine niederlĂ€ndische Studie aus dem Jahr 2020 hat zumindest einige Antworten darauf gefunden, weshalb Menschen andere ghosten.Â
OT23 Anja Wermann
Es sind teilweise Menschen, die den Konflikt scheuen, die denken, das kann ich jetzt nicht bewĂ€ltigen oder ich hab jetzt gerade nicht die KapazitĂ€ten dafĂŒr oder manche sind noch von ihrem gesamten Leben aus irgendeinem Grund ĂŒberfordert. Und dadurch kommt es zu diesem Bruch. Es gibt aber tatsĂ€chlich auch den Fall, dass man denkt: ich will jetzt die andere Person halt nicht verletzen. Und ohne es zu wissen tatsĂ€chlich leider eine sehr viel verletzende Wirkung haben kann, weil: werden wir keine Antwort auf die Frage nach dem Warum haben, das kann einen viel lĂ€nger beschĂ€ftigen als wenn ich ganz klar weiĂ: Okay, die Person hat das und das gestört. Das ist zwar doof oder tut mir auch weh, aber ich kann es halt wenigstens verarbeiten und hinter mir lassen. (âŠ) Ich denke, es hat wahrscheinlich auch ein bisschen auch was mit einem vermeidenden Bindungsstil zu tun, wenn jemand ghostet.
Sprecher
Doch das muss nicht immer der Fall sein. In der niederlĂ€ndischen Studie haben Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch angegeben, dass sie jemanden geghostet haben, weil sie das Verhalten des anderen enttĂ€uschend, diskriminierend oder schlimm fanden â oder so gar keinen Draht zu der anderen Person hatten und sie einfach gar nicht sympathisch fanden.
MUSIK 9 ( Air - Night Hunter 0â40)
Sprecher
Die Kommunikationswissenschaftlerin Michaela Forrai hat 2023 an der UniversitĂ€t Wien zu den Motiven von Ghostern geforscht. Dabei geht sie schon dann von Ghosting aus, wenn sich Freunde einfach lĂ€nger nicht mehr melden â auch wenn sie gar nicht bewusst den Kontakt abbrechen wollen. FĂŒr ihre Studie hat sie junge Leute zwischen 16 und 21 befragt und zwar jeweils zweimal im Abstand von vier Monaten. Sie sollten zum einen angeben, ob und wen sie schon mal geghostet haben. Zum anderen ging es auch um folgende Fragen:Â
MUSIK 10 ( Air â Dark Messages 0â30)
OT24 Michaela Forrai
Communication overload, das ist das GefĂŒhl, dass man auf social media von einer Nachrichtenflut geradezu ĂŒberwĂ€ltigt wird, dann das SelbstwertgefĂŒhl der Personen und depressive Tendenzen. (âŠ) Und es sah dann so aus, dass Personen, die in der ersten Befragung angegeben haben, dass sie von Social Media von einer Nachrichtenflut ĂŒberwĂ€ltigt wurden, dass die dann beim zweiten Zeitpunkt angegeben haben, dass sie romantische Partner:innen geghostet haben.
Sprecher
Michaela Forrai nimmt an:Â
OT25 Michaela Forrai
Das hat sich auch in vergangener Forschung schon gezeigt, die Kommunikation mit romantischen Partner:innen ist oft etwas fordernder als mit Freund:innen. Also kann es sein, dass es sich so anfĂŒhlt, als wĂ€re Ghosting der einfachste Weg raus.Â
Sprecher:
Flirten und eine Person neu kennenzu lernen ist also anstrengender fĂŒr Menschen als die Kommunikation in bereits gefestigten Freundschaften. Freunde warten schonmal auch geduldig auf eine Antwort â und man fĂŒhlt sich in der Regel von Freunden akzeptiert. Bei einem Flirt haben Menschen oft das GefĂŒhl, sich erst beweisen zu mĂŒssen. Auch wird da in der Regel erwartet, dass man hĂ€ufiger und in kĂŒrzeren AbstĂ€nden hin und her schreibt. All das wird tendenziell als stressig bewertet. Wird es zu viel, scheint Ghosting fĂŒr manche der einfachste Ausweg zu sein. Vor allem, wenn man keine gemeinsamen Bekannten hat.
Michaela Forrai erfragt in ihrer Studie auch, welchen Effekt dieses Verhalten auf die Ghoster selbst hat.Â
OT26 Michaela Forrai
TatsĂ€chlich war es so, dass Leute, die romantische Partner:innen geghostet haben, da keinen Effekt auf ihr Wohlbefinden hatten, sowohl das SelbstwertgefĂŒhl als auch die depressiven Tendenzen sind weder gestiegen noch gesunken. Aber bei Freundschaften war es so, dass die Leute, die zu Beginn der Erhebung meinten, dass sie schon innerhalb von Freundschaften geghostet haben, dann höhere depressive Tendenzen hatten.
MUSIK 11 ( Pete Yorn - Someday 0â18)
Sprecher
Ghosting geht also auch an Menschen, die ihre Freunde ghosten, nicht immer spurlos vorĂŒber. In der Befragung von Michaela Forrai waren es immerhin knapp ĂŒber 70 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die schon einmal einen Freund geghostet haben. Und weit ĂŒber die HĂ€lfte ihren Partner, ihre Partnerin.Â
MUSIK 12 (Air â Retour sur terre 0â30)
Sprecher
Wer von Ghosting betroffen ist wie Daniela Liebsch, die seit fĂŒnf Jahren keinen Kontakt mehr zu ihren Töchtern und ihrem Enkel hat, dem bleibt vorerst nur, sich mit der Situation, so wie sie ist, zu arrangieren â und vielleicht einen ganz kleinen Funken Hoffnung zu bewahren.Â
Daniela hat nicht nur eine Therapie geholfen, sondern auch eine Selbsthilfegruppe und regelmĂ€Ăige Auszeiten im Kloster.Â
OT27 Daniela LiebschÂ
Da habe ich Gemeinschaft, da habe ich Menschen, die mit mir reden, die mich nicht als schlechten Menschen sehen. Das habe ich auch erst wieder lernen mĂŒssen, dass andere mich ganz anders wahrnehmen als meine Töchter.
MUSIK 13Â Air â Jâai dormi sous Lâeau 0â30
Sprecher
Pia Kabitzsch, die nach dem ersten Treffen mit ihrem Online- Date, nichts mehr von dem Mann gehört hat, hat sich damals selbst eine Deadline gesetzt. Zwei Wochen. Und dann den Kontakt aus ihrem Handy â und damit auch aus ihrem Kopf: gelöscht.Â
OT 28 Pia Kabitzsch
Ich bin dann in AnfĂŒhrungszeichen aus dieser Opferrolle rausgegangen. Dann werde ich selber aktiv und hab das Ganze wieder in der Hand. Und so war es dann auch. (âŠ) Ich dachte mir dann auch so: Okay, das ist dann halt wahrscheinlich nicht die Person fĂŒr mich.