radioWissen - Bayern 2   /     Mamas Liebling - Wenn Eltern unterschiedlich lieben

Description

Kaum jemand spricht offen darĂŒber. Doch in den meisten Familien ist es der Fall: Mama oder Papa bevorzugen eines ihrer Kinder. Die GrĂŒnde mögen unterschiedlich sein: Mal ist es der langersehnte NachzĂŒgler, mal ist es das Kind, das einem am meisten Ă€hnelt. In jedem Fall aber hinterlĂ€sst diese ungleiche Behandlung Spuren in der Psyche aller Geschwister - auch beim Lieblingskind. Von Veronika Wawatschek

Subtitle
Duration
00:23:14
Publishing date
2024-09-26 03:00
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/mamas-liebling-wenn-eltern-unterschiedlich-lieben/2098020
Contributors
  Veronika Wawatschek
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2098020/c/feed/mamas-liebling-wenn-eltern-unterschiedlich-lieben.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Kaum jemand spricht offen darĂŒber. Doch in den meisten Familien ist es der Fall: Mama oder Papa bevorzugen eines ihrer Kinder. Die GrĂŒnde mögen unterschiedlich sein: Mal ist es der langersehnte NachzĂŒgler, mal ist es das Kind, das einem am meisten Ă€hnelt. In jedem Fall aber hinterlĂ€sst diese ungleiche Behandlung Spuren in der Psyche aller Geschwister - auch beim Lieblingskind. Von Veronika Wawatschek

Credits
Autorin dieser Folge: Veronika Wawatschek
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Johannes Hitzelberger
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Bernhard Kastner

Im Interview:
Martina Stotz, Deutsches Kinder- und Jugendinstitut;
Martin Diewald, Soziologieprofessor Bielefeld

Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

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Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags ĂŒberall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST

Literatur:
Hartmut Kasten, Geschwister – Vorbilder, Vertraute, Rivalen. Ernst Reinhardt Verlag MĂŒnchen, 2020, 7. Auflage

Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

1. ZSP UMFRAGE Teil 1: Haben Sie ein Lieblingskind? 

Nein, ich hab beide gleich lieb. Klar, die Zeiten gibt es immer, wo der eine mehr nerviger ist als der andere. Aber vom Prinzip her hab ich sie beide auf ihre Art und Weise gleich lieb. // Ich gehöre zu einer Gruppe, ja wie soll ich sagen? Die von beiden Seiten gleich geliebt wurde. // Ne, kann ich nicht sagen: Lieblingskind? Nö, Lieblingskind gibt’s so nicht.

SPRECHERIN

Viele Eltern sind ĂŒberzeugt, sie haben kein Lieblingskind. Dabei ist das PhĂ€nomen fast so alt wie die Menschheit:

Musik:  Mystic tendency (a) 1‘01

ZITATOR (Altes Testament)

Israel liebte Josef unter allen seinen Söhnen am meisten, weil er ihm noch in hohem Alter geboren worden war. Er ließ ihm einen Ärmelrock machen. Als seine BrĂŒder sahen, daß ihr Vater ihn mehr liebte als alle seine BrĂŒder, haßten sie ihn und konnten mit ihm kein gutes Wort mehr reden.

SPRECHERIN

Josef, der von seinen eifersĂŒchtigen BrĂŒdern verkauft wird. Abel, der von Gott bevorzugt wird – das Alte Testament ist voll von Geschichten elterlicher Bevorzugung – die teilweise drastisch enden:

ZITATOR (Altes Testament)

Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn ein Opfer von den FrĂŒchten des Feldes dar; auch Abel brachte eines dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da ĂŒberlief es Kain ganz heiß, und sein Blick senkte sich.

SPRECHERIN

Das Ende ist hinlÀnglich bekannt: Kain erschlÀgt das vermeintliche Lieblingskind Gottes, seinen Bruder Abel, aus Eifersucht. 

Musik:  Loving memory (reduced 2) 0‘41

SPRECHERIN

Lieblingskinder gibt es nicht nur in der Bibel, auch viele VolksmĂ€rchen erzĂ€hlen davon: Da gibt es „La Belle“, also die „Schöne“ im französischen VolksmĂ€rchen „Die Schöne und das Biest“, die als die bescheidenste und freundlichste von drei Töchtern beschrieben wird und die sich vom Vater lediglich eine Rose wĂŒnscht, wĂ€hrend die Schwestern Schmuck und teure Kleider bestellen. Und da ist das arme Aschenputtel, das zu Hause putzen und Linsen lesen muss, wĂ€hrend seine Stiefschwestern in schönen Kleidern auf dem Ball tanzen. 

ZITATOR (Aschenputtel)

Da mußte es von Morgen bis Abend schwere Arbeit tun, frĂŒh vor Tag aufstehen, Wasser tragen, Feuer anmachen, kochen und waschen. Obendrein taten ihm die Schwestern alles ersinnliche Herzeleid an, verspotteten es und schĂŒtteten ihm die Erbsen und Linsen in die Asche, so daß es sitzen und sie wieder auslesen mußte. Abends, wenn es sich mĂŒde gearbeitet hatte, kam es in kein Bett, sondern mußte sich neben den Herd in die Asche legen. Und weil es darum immer staubig und schmutzig aussah, nannten sie es Aschenputtel.

SPRECHERIN

Was in der Fachsprache als „Favoritismus“ oder neutraler als „Parents differential treatment“ bezeichnet wird, bleibt fĂŒr die Betroffenen nicht ohne Folgen: Neid, Missgunst, Eifersucht unter den vermeintlich benachteiligten Geschwistern und Scham auf Seiten der Lieblingskinder werden sowohl in der Bibel als auch in den MĂ€rchen ausfĂŒhrlich beschrieben. Da zwĂ€ngen sich Aschenputtels Stiefschwestern unter Schmerzen in zu kleine Schuhe und die Schwestern der „Schönen“ reiben sich in der bekannteren und neueren Version von Jeanne-Marie Leprince de Beaumont von 1756 mit Zwiebeln die Augen, um bei der Abreise der verhassten Lieblingstochter des Vaters ein paar kĂŒnstliche TrĂ€nen zu verdrĂŒcken. 

Musik:  Hot news 0‘31

SPRECHERIN

Keine Frage, elterliche Bevorzugung mag ein Thema sein, ĂŒber das MĂŒtter und VĂ€ter ungern sprechen. FĂŒr die Kinder aber kann es Folgen bis ins Erwachsenenalter haben. Und manchmal schaffen es solche GeschwisterrivalitĂ€ten und GefĂŒhle von ZurĂŒckweisung sogar in die internationalen Schlagzeilen, wie dieser Nachrichtenausschnitt vom Januar 2023 zeigt:

2. ZSP AUSSCHNITT Nachrichten (ausfaden, darĂŒber Sprecherin? Bei Unter anderem berichtet 
 wieder freistehend?) )

London. In zwei Fernsehinterviews hat Prinz Harry VorwĂŒrfe gegen die britische Königsfamilie erhoben. Einen Tag vor der Veröffentlichung seines Buches, zu Deutsch „Reserve“ sagte Harry, Königsgemahlin, Camilla habe Details aus privaten GesprĂ€chen an die Medien weitergegeben. Seine Stiefmutter habe das getan, um ihren Ruf in der Klatschpresse zu verbessern. (
) Mit den TV-Interviews warb Harry fĂŒr seine Memoiren, die morgen erscheinen. Weil das Buch in Spanien versehentlich vorzeitig auf den Markt kam, sind bereits vorab Details bekannt geworden. Unter anderem berichtet Harry, dass ihn sein Bruder William bei einem Streit körperlich angegriffen hat. 

SPRECHERIN

Was Prinz Harry in seiner Autobiografie „Reserve“ macht, ist keine Seltenheit. Da wird der großen Schwester noch im Rentenalter vorgehalten, dass sie von den Eltern bevorzugt wurde, weil sie immer neue Kleider bekam und man selbst die der Großen auftragen musste. Da wirft man – selbst lĂ€ngst erwachsen - dem kleinen Bruder vor, dass die Eltern ihm immer viel mehr durchgehen ließen und man selbst sich jede Freiheit mĂŒhsam erkĂ€mpfen musste. Und da wird es dem Ältesten als Bevorzugung angelastet, wenn er den Betrieb oder den Hof der Eltern ĂŒbernommen hat und weiterfĂŒhrt. Dass emotionale oder tatsĂ€chliche körperliche Verletzungen unter Geschwistern – wie sie Harry seinem Bruder William öffentlich vorhĂ€lt - auch nach Jahrzehnten noch herausgekramt werden, hĂ€lt der Bielefelder Soziologieprofessor Martin Diewald nicht fĂŒr ungewöhnlich.

3. ZSP Diewald

Da ist der zentrale Begriff wohl die KrĂ€nkung. Ich glaube, alle können wir uns an KrĂ€nkungen erinnern, die wir mal erfahren haben. Die Frage ist, ob das, was Dramatisches gewesen ist, aber es trifft doch unser Selbstbewusstsein. Es gehört zu unseren GrundbedĂŒrfnissen, dass, wer soziale Anerkennung erfahren und eine KrĂ€nkung bedeutet, dass wir genau diese Anerkennung nicht erfahren, sondern stattdessen eine ZurĂŒcksetzung auch im Vergleich zu anderen, wo wir sagen das ist ungerecht. Also die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit. Und das frisst sich schon in die Psyche tief ein. Und Menschen erinnern sich an Erlebnisse, die eigentlich banal sind, wo sie noch nicht mal wissen, ob sie tatsĂ€chlich zurĂŒckgesetzt wurden. Und das nagt an ihnen, sehr lange.

SPRECHERIN

Und das hat Diewald zufolge vor allem mit diesem einen Aspekt zu tun, der Geschwisterbeziehungen von anderen unterscheidet: Sie sind mitunter die lÀngsten Beziehungen im Leben.

4. ZSP Diewald

Nicht unbedingt die engste Beziehung, aber die von der Dauer lĂ€ngste Beziehung und die durchaus bedeutsam ist. Und sie wird bedeutsam auch dadurch, dass in Geschwisterbeziehungen alles Mögliche passieren kann. Die Geschwister könnten sehr hilfreich sein, unterstĂŒtzend wirken sie, können aber auch konkurrenzhaft und konflikthaft erlebt werden. Und in einem solchen schon von vornherein etwas aufgeladenen Beziehungskontext ist dann die Erfahrung von Herabsetzung oder Bevorzugung ganz essenziell und prĂ€gt uns unter UmstĂ€nden unser ganzes Leben lang.

Musik:  Network access (red)

SPRECHERIN

Und zwar in unterschiedliche Richtungen: So kann elterliche Bevorzugung dazu fĂŒhren, dass das Lieblingskind mitunter stĂ€rker gefördert wird und dadurch ein grĂ¶ĂŸeres Selbstbewusstsein entwickelt. Möglicherweise leidet aber auch das Lieblingskind zeitlebens unter der ungleich verteilten Liebe der Eltern und vielleicht geht gerade das Kind gestĂ€rkt und selbstbewusst aus einer Familie hervor, das schon frĂŒh gelernt hat, sich durchzusetzen, weil es um Aufmerksamkeit und Zuneigung kĂ€mpfen musste. Wird ein Kind allerdings zum SĂŒndenbock degradiert, so hat das in der Regel sehr drastische Folgen, sagt die PĂ€dagogin und Familienberaterin Martina Stotz:

5. ZSP Stotz

Dieses Kind fĂŒhlt sich ja sein Leben lang abgelehnt nicht angenommen und entwickelt darĂŒber ganz starke SchamgefĂŒhle, SchuldgefĂŒhle. Und es wirkt eben sehr, sehr negativ. Langfristig leidet oft das SelbstwertgefĂŒhl, und darĂŒber können dann eben Depressionen entstehen. Ganz, ganz große Selbstwertprobleme. Viele benachteiligte Kinder, die SĂŒndenböcke sind oder waren, haben dann einfach auch spĂ€ter im frĂŒhen Erwachsenenalter oder ihr Leben lang Probleme, sich auch wirklich in der Gesellschaft zurecht zu finden.

SPRECHERIN

Etwa, wenn einem Kind innerlich die Schuld am Scheitern einer Beziehung gegeben wird. Oder wenn ein Kind aus einer ungewollten Schwangerschaft hervorgeht. Eine solche ZurĂŒckweisung hinterlĂ€sst in der Regel langfristig Spuren in der Seele, sagt Martina Stotz:

6. ZSP Stotz

Das heißt diese bedingungslose Liebe, auch dieses Urvertrauen, diese sichere Bindung, die am Anfang gefehlt hat, kann sich wirklich auf das ganze Leben dann auswirken.

SPRECHERIN

Und sich in einem niedrigen Selbstwert, in einem Verharren in einer vermeintlichen Opferrolle, in Depressionen und sogar in gefÀhrlichem Verhalten niederschlagen. 

Musik:  Absorbed in thought 0‘35

SPRECHERIN

Woran aber liegt es, wenn Eltern eines ihrer Kinder bevorzugen und ein anderes zurĂŒckweisen oder benachteiligen? Liegt es an der Position in der Geschwisterreihe? Sind die NesthĂ€kchen in der Regel die kleinen Prinzen, denen die geballte elterliche Liebe zukommt? Das Sandwich-Kind muss zurĂŒckstecken und die Ältesten sind die, die sich durchsetzen, die Verantwortung ĂŒbernehmen und ĂŒbernehmen mĂŒssen?

SPRECHERIN

Die Vorstellung, dass die Geschwisterposition Auswirkungen auf die persönliche Entwicklung hat, geht auf den österreichischen Psychotherapeuten Alfred Adler und seine Individualpsychologie der 1920er Jahre zurĂŒck. 

ZITATOR

Adler ging davon aus, dass der Charakter eines Menschen entscheidend geprĂ€gt wird durch die Position, die er in der Geschwisterreihe seiner Herkunftsfamilie besaß.

SPRECHERIN

Schreibt der Professor fĂŒr Entwicklungspsychologie Hartmut Kasten in seinem inzwischen in 7. Auflage erschienenen Werk „Geschwister – Vorbilder, Rivalen, Vertraute“ von 2020. Lange Zeit dominierte in der Forschung diese Idee, dass weniger das Verhalten der Eltern, als die Position innerhalb eines FamiliengefĂŒges entscheidend fĂŒr Verhalten und CharakterzĂŒge eines Kindes war. Daraus resultierende Bilder aber– etwa vom verhĂ€tschelten Einzelkind, von glĂŒcklichen Geschwisterscharen oder vom Erstgeborenen, der zeitlebens unter dem sogenannten Entthronungstrauma zu leiden hat und sich daher schwer tut in sozialen Beziehungen - sind durch gesellschaftliche VerĂ€nderungen lĂ€ngst ĂŒberholt.

ZITATOR

Die Vorurteile bezogen auf Einzelkinder stammen aus einer Zeit, in der große, kinderreiche Familien die Regel waren und Ein-Kind-Familien die seltene Ausnahme waren. Heutzutage dagegen ist ohne Geschwister aufwachsen kein seltenes Ereignis mehr.

SPRECHERIN

Etwa jedes vierte Kind in Deutschland ist heute Einzelkind – hat also die Chance auf die ungeteilte Liebe und Zuneigung der Eltern, kann also das absolute Lieblingskind sein. Die Forschung aber belegt keineswegs die Vorurteile vom verwöhnten Einzelkind. Im Gegenteil – so Hartmut Kasten – Kinder ohne Geschwister wĂŒrden sich charakterlich nicht von Kindern mit Geschwistern unterscheiden, wenn sie einen Ă€hnlichen sozio-ökonomischen Hintergrund hĂ€tten. Und auch andere Thesen rund um Geschwisterpositionen und Geburtsrang in der Familienkonstellation werden heute eher mit sozio-ökonomischen GrĂŒnden erklĂ€rt, als allein mit dem Platz innerhalb einer Geschwisterreihe. 

Musik:  The flow of time 0‘19

SPRECHERIN

Was also macht dann ein Lieblingskind zum Lieblingskind? Sind es Kinder, die den Eltern charakterlich Ă€hnlicher sind, diejenigen, die die Erwartungen der Eltern erfĂŒllen? Sind es die besonders angepassten Kinder oder die lauten, lustigen? So eindeutig lasse sich das nicht beantworten, sagt die PĂ€dagogin Martina Stotz, die ĂŒber Lieblingskinder promoviert hat.

7. ZSP Stotz

Das spannende ist, dass die Forschung ganz unterschiedliche Untersuchungen gemacht hat und je nachdem, wer in der Familie gefragt wird, gibt ne andere Antwort. Deswegen gibt’s keine klare Tendenz. Allerdings zeigen Umfragen von MĂŒttern, dass circa 20 Prozent aller MĂŒtter sich einem Kind nĂ€her fĂŒhlen. Also, dass es die sogenannten ‚seelenverwandten Kinder‘ gibt, die einem selbst vielleicht nĂ€her sind, Ă€hnlicher sind. Und das andere Kind kommt einem vielleicht fremd vor und das kann dann dazu fĂŒhren, dass einem diese NĂ€he zu einem Kind spĂŒrbarer ist.

8. ZSP Umfrage Teil 2: Welches Kind ist Ihnen nÀher?

Am nÀchsten ist mir grad meine kleine Tochter, weil die grad mal ein halbes Jahr alt ist und ich die jeden Tag sehe und mein Sohn, der schon acht Jahre Àlter ist und aufgrund anderen Wohnsitzes nicht tÀglich seh. Aber emotional sind mir beide eigentlich gleich nahe, also kann man auch nicht vergleichen aufgrund des Alters, aufgrund des Geschlechts auch. Ich merk halt klar und deutlich, dass die Beziehung von einem Vater zur Tochter noch eine ganz andere QualitÀt, tiefere QualitÀt hat. 

SPRECHERIN

Ein Lieblingskind zu haben – darĂŒber sprechen die wenigsten MĂŒtter und VĂ€ter offen. Wenn die Frage aber umformuliert wird, rĂ€umt ein Großteil der Eltern ein, dass ihnen eines ihrer Kinder nĂ€her ist. Das bestĂ€tigt etwa auch die US-amerikanische Langzeitstudie „Within-Family-Differences“. Die Forscher fragten unter anderem ĂŒber 500 MĂŒtter und VĂ€ter, welchem ihrer Kinder sie sich emotional am nĂ€chsten fĂŒhlen wĂŒrden. Nach einem ersten Zögern nannten rund 75 Prozent der MĂŒtter eines ihrer Kinder, und fast die HĂ€lfte der Befragten sagte, sie seien auf eines der Kinder besonders stolz. Allerdings – sich einem Kind zeitweilig nĂ€her zu fĂŒhlen, hat nicht zwangslĂ€ufig zur Folge, dass dieses Kind bevorzugt wird. 

Musik:  Wait and hope 0‘42

SPRECHERIN

Mitunter nervt gerade das Kind am meisten, das Verhaltensweisen an den Tag legt, die man an sich selbst nicht mag: etwa, weil es trödelt und trĂ€umt, weil es stĂ€ndig Aufgaben vergisst oder schlampig ist. Vielleicht hat das Kind aber einfach nie von den Eltern gelernt, sich rechtzeitig fĂŒr die Schule fertig zu machen, vielleicht haben die Eltern dem Kind nie richtig beigebracht, wie es Ordnung halten kann, etwa dass es seine SchmutzwĂ€sche zuverlĂ€ssig in den WĂ€schekorb legt und die Schuhe in den Schuhschrank stellt, weil sie selbst nicht so ordentlich sind? In jedem Fall – so die PĂ€dagogin Martina Stotz – geht es weniger um festgeschriebene CharakterzĂŒge des Kindes, als darum, wie Eltern ihr Kind sehen und wie sie in der Folge mit ihrem Kind umgehen.

9. ZSP Stotz

Wenn ein Kind sich einfach stĂ€ndig in seinem Verhalten sehr herausfordernd zeigt, ist es einfach fĂŒr MĂŒtter oder auch fĂŒr VĂ€ter teilweise sehr triggernd. Und das fĂŒhrt dann dazu, dass dieses Kind benachteiligt wird, öfter bestraft wird, öfter belehrt wird, geschimpft wird. Es wird öfter gemeckert, und darĂŒber kann dann so ein blöder Teufelskreis entstehenden. Das Kind zeigt dann meistens noch mehr dieses Verhalten, wenn es sich abgelehnt fĂŒhlt. Und dadurch kann dann dieser Teufelskreis entstehen, dass ein Kind zum benachteiligten Kind wird, weil es vielleicht ein wirklich sehr rebellisches Verhalten zeigt und eigentlich schreit es die ganze Zeit nur ganz laut nach Liebe und dass es angenommen wird, so wie es ist.

SPRECHERIN

Viele Eltern kennen derartiges Verhalten ihrer Kinder aus der Zeit, als Geschwister zur Welt kamen. Eifersucht des Ă€lteren Kindes auf das Baby: da wird dann gekniffen, geschubst, geschlagen, getreten und gewĂŒrgt. Die Eltern schimpfen, das grĂ¶ĂŸere Kind hat sein Ziel „Aufmerksamkeit bekommen“ erreicht und macht weiter mit dem destruktiven Verhalten – und der von Martina Stotz beschriebene Teufelskreis nimmt seinen Lauf. In jedem Fall aber geht man heute in der Forschung davon aus: als Lieblingskind wird man nicht geboren, es hat nicht unbedingt mit bestimmten CharakterzĂŒgen zu tun oder der Position in der Geschwisterreihe, wenn Eltern ein Kind dem anderen vorziehen. Vielmehr ist es das Thema der Eltern, wenn sie ein Lieblingskind haben.

10. ZSP Stotz

Kinder sind ja oft nur die SymptomtrĂ€ger, sage ich immer. Und Kinder versuchen ja durch ihr Verhalten immer irgendetwas ĂŒber sich zu erzĂ€hlen und versuchen eigentlich nur zu zeigen, was sie brauchen. Und natĂŒrlich ist es aus kindlicher Sicht manchmal noch schwierig, genau zu sagen: Mama, ich brauche jetzt NĂ€he, und ich will, dass du mich in Arm nimmst. Kinder können das noch nicht, und deswegen zeigen sie eben durch ihr Verhalten eigentlich nur, was sie brauchen. Und alle Kinder einer Geschwisterreihe wollen einfach geliebt werden, so wie sie sind, angenommen werden und eben auch mit ihren Besonderheiten und SchwĂ€chen. Und es fĂ€llt in manchen Eltern sehr, sehr schwer, wenn sie eben vom Verhalten der Kinder getriggert werden.

SPRECHERIN

Dieses Verhalten eben nicht als absichtlichen Angriff auf die Eltern zu verstehen und das angepasstere Verhalten des Geschwisterkindes als ‚liebenswerter‘ zu werten, sondern beiden Kindern gleichermaßen und gerecht verteilt Liebe und Zuneigung zukommen zu lassen. 

Musik:  Still waiting red. 0‘21

SPRECHERIN

Allerdings: Was ist gerecht? Was bedeutet Gleichbehandlung von Kindern? Wenn es um elterliche Bevorzugung gehe, stelle sich auch schnell die Frage nach der Gerechtigkeit, sagt der Bielefelder Soziologieprofessor Martin Diewald:

11. ZSP Diewald

Stellen Sie sich vor, ein Kind – und das ist ja in der Regel eher der Fall – hat etwas mehr Probleme, sich zurecht zu finden, hat weniger Kompetenzen, mehr Entwicklungsprobleme als das andere Geschwisterkind, dann kann Gleichbehandlung ja auch meinen, dass sie ungleich behandelt werden, das klingt paradox, aber es geht dann darum, dem – zumindest aus der Sicht der Eltern – etwas schlechter gestellten Geschwisterkind zu helfen, so dass es aufschließen kann zu dem etwas begĂŒnstigterem Geschwisterkind. Das heißt: Ungleichbehandlung soll Gleichheit herstellen.

SPRECHERIN

Was paradox klingt, macht an einem Beispiel ausgefĂŒhrt durchaus Sinn: Einen 16-JĂ€hrigen muss eine Mama in der Regel nicht mehr ins Bett bringen. Eine ZweijĂ€hrige hingegen braucht weder Hilfe bei der Berufsorientierung, noch muss sie bei Liebeskummer getröstet werden. 

12. ZSP UMFRAGE Kinder: Wann sind Eltern gerecht?

Meine Eltern sind schon gerecht, wir tun auch immer das gleiche kriegen, zum Beispiel Kinder-Joys, da kriegen wir auch immer gleich viel Meine Schwester darf manchmal lĂ€nger aufbleiben und Fernsehen kucken, ja da bin ich schon neidisch. Weil sie ist Ă€lter. // Also meistens is sie schon gerecht, aber manchmal find ich’s bisschen unfair, aber das ist halt so, bei jedem. // Ich persönlich finde, dass sie uns gleich liebhaben.

SPRECHERIN

Was als gerechtes Verhalten von Eltern erlebt wird, kann altersabhĂ€ngig unterschiedlich sein und ist doch kaum mit Statistiken und Zahlen zu messen. Denn – so der Soziologe Diewald: Es ist eben subjektiv.

13. ZSP Diewald

Man mĂŒsste eigentlich nach Gerechtigkeits- und Gleichheitsvorstellungen zusĂ€tzlich fragen, um zu sagen, ob die Kinder bevorzugt, tatsĂ€chlich bevorzugt oder benachteiligt wurden. Es geht darum, dass sie sich wertgeschĂ€tzt, respektiert und geliebt fĂŒhlen. Und das gelingt in der Tat, den meisten Eltern schon ganz gut. 

Musik:  Thinking of better times 0‘29

SPRECHERIN

Die Frage ist eben weniger, wer nun Papas Liebling und Mamas Herzenskind ist, sondern: Bekommt jedes Kind das Maß an Liebe, Aufmerksamkeit und Zuneigung, das es braucht? Werden seine BedĂŒrfnisse erfĂŒllt? Und das wiederum ist sehr subjektiv und eher eine Frage der persönlichen Wahrnehmung, als einer objektivierbaren Zahl. 

14. ZSP Diewald

Man kann sich auch bevorzugt fĂŒhlen, wenn man fĂŒr seine individuellen BedĂŒrfnisse das bekommt, was man sich erwĂŒnscht. Das ist eine subjektive EinschĂ€tzung.

SPRECHERIN

Das heißt aber im Umkehrschluss auch: Nicht alles, was als elterliche ZurĂŒckweisung, Benachteiligung oder KrĂ€nkung wahrgenommen wird, ist so gemeint. Sehr wahrscheinlich muss die jĂŒngere Schwester die Klamotten nicht allein deshalb auftragen, weil die Ă€ltere das Lieblingskind ist, sondern einfach, weil der Geldbeutel der Eltern keine weitere Garnitur hergibt. Und möglicherweise ist die Erbfolge eher an gesellschaftliche Konventionen, als an einen Lieblingskind-Status geknĂŒpft und ein Erbe anzutreten geht auch einher mit einer gewissen Verantwortung und BĂŒrde, die Nachgeborene dann nicht tragen mĂŒssen. Dass zwei Menschen ein und dieselbe Beziehung unterschiedlich wahrnehmen und bewerten, ist Martin Diewald zufolge weder ungewöhnlich noch dramatisch – auch nicht unter Eltern und Kindern. 

Musik: Z8019016104  Facts&data (red) 0‘44

15. ZSP Diewald

Aber bei der Erfahrung von KrĂ€nkungen kann das sehr dramatisch sein und einen lebenslang verfolgen. Und unter UmstĂ€nden hat es ĂŒberhaupt keine Substanz, das finde ich schon dramatisch.

SPRECHERIN

Der Soziologe und die PĂ€dagogin empfehlen deshalb: Reden! Reden mit den Eltern, reden mit den Geschwistern, um gefĂŒhlte Benachteiligung und wahrgenommene KrĂ€nkungen direkt zu klĂ€ren und um sie dann nicht nach Jahrzehnten – so wie im Falle des britischen Königshauses – ĂŒber die Öffentlichkeit auszutragen.Â