Gänsehautmomente reißen uns Menschen aus der Monotonie des Alltags. Alles scheint uns dann intensiv! Plötzlich sind unsere Sinne auf scharf gestellt. In solchen Momenten fühlen wir uns extrem lebendig! Von Anja Mösing
Gänsehautmomente reißen uns Menschen aus der Monotonie des Alltags. Alles scheint uns dann intensiv! Plötzlich sind unsere Sinne auf scharf gestellt. In solchen Momenten fühlen wir uns extrem lebendig! Von Anja Mösing
Credits
Autorin dieser Folge: Anja Mösing
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Stefan Wilkening, Susanne Schroeder
Technik: Moritz Herrmann
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Dr. med. Arndt BĂĽssing, Professor fĂĽr Lebensqualität,Spiritualität und Coping an der Universität Witten/HerdeckeÂ
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Büssing, Arndt: Innehalten. Vom Einfluss ehrfürchtigen Staunens auf das Wohlbefinden. Pustet Verlag, Regensburg 2024. – Verblüffend und schlüssig erklären in diesem Buch ExpertInnen aus den Fachbereichen Medizin, Psychiatrie, Psychologie und Theologie was für einen hohen Stellenwert die Fähigkeit zu Staunen für unser Leben einnimmt. Mit einfachen Handlungsanweisungen für Selbstversuche.
Garcia, Tristan: Das intensive Leben. Eine moderne Obsession. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017 – mitreißend geschriebener Essay des französischen Philosophen. Zeigt die Vielfältigkeit der weltumspannenden Sucht nach intensivem Leben auf, Garcia fordert eine Ethik der Intensität.
Kast, Verena: Mehr Zeit für die Seele. Der Weg zur Lebendigkeit. Patmos Verlag, Ostfildern 2022 - die Schweizer Psychologin zeigt, wie wir aus einem Strudel von überfordernden Aktivitäten zu ausgewählten Aktionen kommen können und uns so wieder intensiver und lebendiger fühlen.
Staunendes Innehalten - ein zweichwöchiges Interventionsmodul - die Informationen und Hintergründe dazu hier entdecken
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ERZĂ„HLER
Im Freibad: Wimmelndes Leben, Sonne auf nackter Haut und der Duft von gechlortem Wasser in der Nase. Und dann: nach einigem Zögern das erste Mal vom Fünfmeterbrett ins Schwimmbecken springen! Was für ein intensiver Moment!
ATMO HubschrauberÂ
ERZĂ„HLERÂ
Die Berge: Mit dem Helikopter durch ein verschneites Gipfelpanorama fliegen, sich auf einem Gipfel mit unberĂĽhrtem, glitzerndem Pulverschnee absetzen lassen. Und dann auf die Skier und: Einfach nur talwärts! Was fĂĽr eine intensive Erfahrung!Â
MUSIK 1 aus
ZSP 1Â Â BĂĽssing
Ich denke, jeder möchte gerne ein intensives Leben fĂĽhren. Also ganz viele Augenblicke haben, die besonders sind. Die einen heraus holen aus dem Alltag, der ja oft genug als gewöhnlich und flach erscheint.Â
ERZĂ„HLERINÂ
Arndt BĂĽssing ist Mediziner und Professor fĂĽr Lebensqualität, Spiritualität und Coping an der Universität Witten/Herdecke. BĂĽssing beschäftigt sich damit, wie das Wohlbefinden von Menschen positiv beeinflusst werden kann.Â
ZSP 2Â Â BĂĽssing
Und alles, was mit Erleben zu tun hat, das ist fĂĽr mich total spannend.
ERZĂ„HLERINÂ
Viele Menschen empfinden ihren Alltag nicht als spannend. An sich geht es ihnen gut, aber ihr Leben plätschert so vor sich hin, sie fühlen sich in alltäglichen Routinen gefangen wie in einem Morast. Viele sehnen sich nach den Gänsehautmomenten ihrer Kindheit und Jugend zurück: nach intensivem Leben!
MUSIK 2: Forever – 35 Sek
ERZĂ„HLER
„Das intensive Leben? Eine moderne Obsession!“ So urteilte der französische Philosoph Tristan Garcia in seinem gleichnamigen Essay aus dem Jahr 2017. Garcia beschreibt, wie heute einfach alles toll und groĂźartig und intensiv sein soll. Wie wir permanent nach plötzlichen Erregungen suchen, nach starken Empfindungen: Ob es die Wandfarbe in der Wohnung ist oder der Orgasmus, die nächste Party oder der Energy-Drink, der Urlaub oder der neueste Krimi. Alles soll uns ein intensives LebensgefĂĽhl garantieren und Schauer ĂĽber den RĂĽcken jagen.Â
ERZĂ„HLERINÂ
Klingt anstrengend! Und irgendwie auch falsch. Arndt BĂĽssing versucht in seinen Forschungen aber, erst mal gar nicht zu definieren, was ein richtiges und was ein falsches intensives Leben ist:Â
ZSP 3Â Â BĂĽssing
Denn jeder Mensch empfindet natürlich anders, was für ihn intensiv ist. Und dann hat jeder seine eigenen Trigger und Auslöser, die für ihn wichtig sind. Also mich interessiert vielmehr das Erleben, die Reaktionen darauf, unabhängig von dem, was die Auslöser sind und ob jemand sagt: Das war für mich besonders intensiv oder nicht. Denn es gibt natürlich die großen Situationen, es gibt die kleinen Situationen, und alle haben ihre Bedeutung, und alle können zu etwas beitragen.
ERZĂ„HLERINÂ
Grundsätzlich könnte man sagen, intensive Erlebnisse tragen dazu bei, sich lebendig zu fĂĽhlen. Interessant ist: Vorhersagen, lassen sie sich nicht! Selbst beim teuer bezahlten Helikopter-Flug oder dem Sprung vom FĂĽnfmeterbrett könnte auch nichts als ein flaues GefĂĽhl im Magen oder Enttäuschung herauskommen.Â
ERZĂ„HLER
Wir wissen aber inzwischen gut, was im Körper abläuft, wenn wir einen freudigen Gänsehautmoment erleben, erklärt Mediziner BĂĽssing. Es sind ganz archaische körperliche Abläufe, die schon unsere Ahnen kannten. Zum Beispiel bei der Begegnung mit einem Säbelzahntiger:Â
MUSIK 3: ARD-Labelmusik Expedition - 1:03 Min
ZSP 4Â Â BĂĽssing
Ich versuche es mal einfach: Wir haben also ein limbisches System. Das ist mit der Verarbeitung dieser entsprechenden Emotionen beschäftigt, die also diese Erlebnis-Trigger auslösen: Freude und Aufregung zum Beispiel. Und dann wird das sympathische Nervensystem, also unser Alarmsystem, aktiviert. Dadurch wird Adrenalin und Noradrenalin freigesetzt. Unser Herz schlägt schneller und wir atmen tiefer und schneller. Diese Stresshormone machen auch diese sogenannte Gänsehaut aus.Â
MUSIK 3 kurz frei
ZSP 5Â Â BĂĽssing
So und jetzt haben wir diese Sympathikus Aktivität, und die fĂĽhrt dazu, dass wir alles intensiver wahrnehmen. Wir sind ja quasi im Fluchtmodus.Â
MUSIK 3 kurz frei, weiter darĂĽber:
ERZĂ„HLERIN
Alle Sinne sind jetzt auf scharf gestellt. Geschickt können wir flüchten: Vielleicht mit einem Seil auf einen Platz, den der Säbelzahntiger nicht erreichen kann. Und wir überleben die Begegnung!
MUSIK 3 mit Akzent kurz frei und ausÂ
ZSP 6Â Â BĂĽssing
Und nun kommt dann das Belohnungssystem ins Spiel! Wenn es also ein intensives, berührendes Erlebnis ist - das kann natürlich auch ein tolles Essen sein oder besondere Menschen, mit denen man gerade zusammensitzt - dann wird dieses Belohnungssystem im Gehirn aktiviert. Damit wird dann dieser Neurotransmitter Dopamin freigesetzt, was mit dem Gefühl von Vergnügen und Zufriedenheit einhergeht. Davon will man natürlich immer mehr haben, um dieses gute Empfinden noch aufrechterhalten zu können. Das kann ja kein dauernder Alarmzustand sein. Und dann kommt das parasympathische Nervensystem ins Spiel, das all diese Stressreaktionen wieder herunterreguliert, uns beruhigt und aus diesem Ausnahmezustand wieder zurückholt.
ERZĂ„HLERIN
Dieses System aus intensiver Aktion und rauschhaftem GlĂĽcksgefĂĽhl am Schluss war ĂĽber Hundertausende von Jahren hinweg sehr förderlich fĂĽrs menschliche Ăśberleben. Es hat unseren Mut befeuert. Wie wenige hätten sonst in archaischen Zeiten riskiert, sich beim Erlegen eines wilden Ebers eine Verletzung zu holen? Einen Knochenbruch oder tödliche Wunden? Die TollkĂĽhnheit bei der Nahrungsbeschaffung wurde so von körpereigenen GlĂĽcksduschen belohnt.Â
ERZĂ„HLER
Und noch heute im Zeitalter von Pizza-Service und wohl temperierter Wohnung suchen viele Sensation-Seeker nach ähnlich starken Herausforderungen.
ZSP 7Â Â BĂĽssingÂ
Ich denke, man fühlt sich dann lebendig und intensiv. Das ist sehr genau das, was erstrebt wird mit diesem Kick-Erlebnis. Es ist etwas Besonderes. Ich bin in einer herausfordernden Situation. Und die Gefahr wird dann manchmal auch zu dem Kick, der aber auch einen Nachteil hat: Es könnte ja auch schief gehen.
MUSIK 4 „something just like this“ – 51 SekÂ
ERZĂ„HLERIN
Viele Teenager lieben Situationen dieser Art! Dabei ist es als Kind und als Jugendlicher, sogar noch als junger Erwachsener ohnehin leicht, aufregende Dinge zu tun und sich intensiv lebendig zu fĂĽhlen. So Vieles macht man in dieser Zeit zum ersten Mal: Zum ersten Mal Klassenfahrt, zum ersten Mal glĂĽcklich verliebt, zum ersten Mal guter Sex, zum ersten Mal Urlaub ohne die Eltern.Â
ERZĂ„HLER
Oft wirkt es allerdings, als wĂĽrden gerade junge Leute gerne Dinge tun, die sehr leicht schief gehen können, sich bei Erfolg aber umwerfend intensiv anfĂĽhlen: Train-Surfing an S-Bahnen, Paragliding, oder tollkĂĽhne SprĂĽnge beim Parcouring durch die Innenstadt. Â
(Musik aus)
ZSP 8Â Â BĂĽssing
Ich glaube nicht, dass es auf die Teenager begrenzt ist. Bei denen fällt es vielleicht besonders auf. Aber auch die Midlife-Crisis, in meinem Alter, wenn ich Männer sehe, die ungewöhnliche Dinge machen! Wahrscheinlich ist das genau das Gleiche: Ich will etwas Besonderes in meinem Leben erleben können. Es muss etwas Herausragendes sein, weil es eben zu einer Routine geworden ist. Ehepartner, die sind automatisch da und deswegen ist es nichts Besonderes mehr und deswegen muss es woanders gesucht werden. Und dann ist eben dieses Aufregende der Nervenkitzel. Dann fühlt man sich lebendig!
Musik 5: Lovers in Japan – siehe vorn – 30 Sek
ERZĂ„HLERÂ
Der Klassiker: Fremdgehen! Sexuelle Abenteuer. Oder Extremsport: Marathonlaufen, Triathlon, Bodybuilding. Fern- bzw. Abenteuerreisen:  Besteigung des Mount Everest, Alpencross mit dem Mountainbike, Tauchen am australischen Great Barriere Riff.  Musik aus
Aber was ist, wenn man irgendwann den fünften Marathon gelaufen ist. Die Affäre zur Nebenbeziehung wird oder man alle Kontinente unseres Planeten bereist hat?
ZSP 9Â Â BĂĽssing
Also, dieses intensivere Leben, das wird allgemein so verstanden, dass alles, was uns reizt und fasziniert, eigentlich eine immer intensivere Ausprägung braucht. Alles muss größer, schneller und stärker werden. Aber eine größere Herausforderung, größere Intensität der Emotionen und so weiter, das hat irgendwie auch seine Grenze. Das kann ja auf Dauer gar nicht gut gehen. Denn irgendwann sind natürlich auch die intensivsten Olympischen Spiele des Lebens vorbei. Man kommt gar nicht mehr hinterher. Und was bleibt dann?
ERZĂ„HLERIN
Genau hier wird es fĂĽr Emotionspsychologen richtig interessant: Wie könnten wir es schaffen, unsere Sehnsucht nach dem intensiven Leben ein Leben lang zu stillen?Â
ERZĂ„HLER
Wieder Staunen zu lernen, wäre schon mal ein Anfang, meint Arndt BĂĽssing.Â
ZSP 10Â Â BĂĽssing
Was Kindern sehr gut gelingt! Sie bleiben leichter irgendwo hängen und sind fasziniert von etwas. Was uns im Lauf des Lebens viel verloren gegangen ist.Â
MUSIK 6: Grapefruit diet – 1:04 MinÂ
ERZĂ„HLERIN
Zweijährige Kinder, die eine volle Stunde die Konstruktion eines Teebeutels bis in all seine Einzelteile erforschen. Dreijährige, die vor einer AmeisenstraĂźe in die Hocke gehen und sie hingebungsvoll beobachten: Wir alle kennen diese Art des gebannten Staunens kleiner Kinder.Â
ERZĂ„HLER
Sollte uns ausgerechnet eine kindliche Fähigkeit aus dem alltäglichen Strudel unbefriedigender Ablenkungen und Routinen retten können? Uns wieder öfter Momente mit Gänsehaut bescheren? Arndt BĂĽssing glaubt daran und nennt die notwendige Fähigkeit ehrfĂĽrchtiges Staunen, oder staunendes Innehalten.Â
ERZĂ„HLERIN
Im Englischen nennt man es „Awe“ – Ehrfurcht! Und seit ein paar Jahren publizieren Emotionsforscher zu diesem Phänomen. Nur ist das deutsche Wort Ehrfurcht heute etwas aus der Zeit gefallen und Ehrfurcht klingt merkwĂĽrdig:Â
ZSP 11Â Â BĂĽssing
Ja! Einige Leute fĂĽhlen sich dadurch irritiert, weil die Furcht steckt darin. Und da muss ich noch jemanden Ehre erweisen. Das wurde vielleicht frĂĽher einem König entgegengebracht, den man ja verehren musste und den man auch zu Recht fĂĽrchten musste. Deswegen war eher der Versuch zu sagen: Es heiĂźt staunendes Innehalten, um Ehrfurcht einmal anders umschreiben zu können. In den alten BĂĽchern war das Thema Ehrfurcht immer mit Religiosität assoziiert, aber es ist keine Grundvoraussetzung. Also auch alle anderen Menschen: nicht-religiöser, nicht-spiritueller Art sind empfindungsfähig, sind von etwas berĂĽhrt und bewegt. Und es kann auch ihr Leben verändern! Â
Musik 7: De Luca et Umbra -Â 47 Sek
ERZĂ„HLERIN
In der Bibel gibt es die berĂĽhmte Szene, in der sich Moses vor dem brennenden, aber nicht verbrennenden Dornbusch zunächst staunend und dann ehrfĂĽrchtig niederwirft, als Gott zu ihm daraus spricht. Das kann als klassische Ehrfurcht-Situation gelten: Als Mensch wird man klein vor so etwas GroĂźem, auch demĂĽtig.Â
ERZĂ„HLER
Im alltäglichen Leben sehen Situationen, die uns ehrfürchtig staunen lassen, natürlich anders aus als in der Bibel. Arndt Büssing selbst ist eher zufällig auf die Wirkung dieser Empfindung gestoßen:
ZSP 12Â Â BĂĽssing
Im Zuge dieser Forschungsprojekte, die ich gemacht hatte, bin ich immer wieder darĂĽber gestolpert, dass einzelne Personen gesagt haben, dass etwas sie „besonders bewegt“ hat. Das war das Motiv des ehrfĂĽrchtigen Staunens. Und das gelingt auch nicht-religiösen Menschen. Auch die sind in bestimmten Situationen von etwas Besonderem fasziniert. Halten vielleicht staunend in ihrem Tun inne. Sind ganz gefangen, von etwas berĂĽhrt. Und Hartmut Rosa wĂĽrde das vielleicht als Resonanz bezeichnen. Das ist auch ein ganz guter und auch passender Begriff.Â
ERZĂ„HLER
„Ein vibrierender Draht zwischen uns und der Welt“, so hat es der Soziologe Hartmut Rosa in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel formuliert. Er plädiert für eine neue Art von Kontakt, die wir pflegen sollten. Und zwar nicht nur untereinander, sondern überhaupt: mit der Welt um uns herum. Und das hat viel mit Lebendigkeit zu tun, sagt Arndt Büssing:
ZSP 13Â Â BĂĽssing
Ich trete mit etwas in Verbindung, lass mich berĂĽhren, und es hat einen Nachklang in mir. Wenn diese Empfindungen, dann groĂź und tief sind, dann wird vielleicht auch mein Leben anders. Ich werde vielleicht bewusster, schaue tiefer hin, werde achtsamer.Â
ERZĂ„HLERIN
GroĂź und tief sind fĂĽr manche Frauen die Momente nach der Geburt ihres Kindes. FĂĽr andere sind es ihre einmaligen sportlichen Höchstleistungen, oder Momente von besonderer Kreativität, von inniger Liebe und Sex. Sie gehören zu den sogenannten „Peak Moments“: den Gipfelerfahrungen unseres Lebens.Â
ERZĂ„HLER
Die Bedeutung solcher Momente, in denen wir komplett im Hier und Jetzt sind, wo die Zeit still zu stehen scheint und wir quasi mit der Welt verschmelzen, hatte schon der US-amerikanische Sozialpsychologe Abraham Maslow Mitte der 1960er Jahre erkannt. Maslow ist Begründer der Positiven Psychologie. Seine Forschungen zu den Ursachen mentaler Gesundheit haben gezeigt, dass Gipfelerfahrungen unbedingt dazu gehören. Sie sind so intensiv, so erschütternd, dass sie eine große Strahlkraft auf unser ganzes Leben entwickeln.
ZSP 14Â Â BĂĽssing
Ja! Das, was mich bewegt, macht ja auch einen Eindruck. Das heiĂźt, dieser Eindruck wird auch in meinen Erinnerungen gespeichert. Ich werde mich immer wieder mit Freude daran erinnern und vielleicht doch die Sehnsucht haben: Kann ich das nicht wieder haben? Dann sind wir wieder in dieser olympischen Disziplin: Ich möchte immer wieder solche besonderen Augenblicke haben! Was natĂĽrlich nicht funktioniert. Und das ist eben das Schöne! Wir nennen es vielleicht einen „wunderbaren Augenblick“. Und Wunder kann man nicht reproduzieren. Und sie sollen etwas Einmaliges sein, sonst wĂĽrden sie ihren Wert verlieren.Â
ERZĂ„HLERIN
Auch Abraham Maslow glaubte, Gipfelmomente seien in jedem Leben vorhanden, aber eben etwas Seltenes. Immer wieder neue groĂźe Wunder erleben zu wollen, um sich lebendig und gut zu fĂĽhlen, das funktioniert nicht, da ist auch Arndt BĂĽssing sicher. Was dagegen gut funktionieren kann: Das Besondere in eigenen Leben zu entdecken, indem man feiner in seiner Wahrnehmung wird.Â
Musik 8: The Dress – 46 sek
ZSP 15Â Â BĂĽssing
Das können natürlich auch die kleinen Erlebnisse sein, die einen kurzfristig innehalten lassen, von denen man dann vielleicht ganz fasziniert ist und die einen Lächeln lassen. Auch das hat natürlich seine Bedeutung, und ist schön und gut. Es muss nicht immer dieses große Tiefe sein, das Fantastische!
ERZĂ„HLER
Jeder kennt das. Wenn wir an einem gewöhnlichen Tag zufällig jemandem auf der StraĂźe begegnen und ein paar Worte wechseln, gehen wir danach anders weiter: Belebter! In ihrem Buch „Mehr Zeit fĂĽr die Seele. Der Weg zur Lebendigkeit“ beschreibt die Schweizer Psychologin Verena Kast wie wichtig fĂĽr uns sinnliche EindrĂĽcke sind: Der Duft vom Kaffee, der Dampf ĂĽber der Tasse Tee. Solche kleinen Dinge.Â
Musik aus
ERZĂ„HLERIN
Ă„hnlich wie Hartmut Rosa plädiert Verena Kast dafĂĽr, sich immer wieder Zeit zu nehmen, um sich bewusst einzulassen auf unsere Umgebung, sei es zu Hause oder in der Natur. Viele Facetten von Freude und Verbindung zu Menschen und der Welt können wir dann erleben und so immer wieder neu bemerken, dass das Leben bereichernder und schöner ist, als erwartet.Â
ERZĂ„HLER
Um noch mehr ĂĽber ehrfurchtsvolles Staunen herauszufinden, hat Professor Arndt BĂĽssing eine weitere Studie begonnen:Â Â
ZSP 16Â Â BĂĽssing
Wir haben uns angeschaut: Was empfindet jemand? Wie empfindet jemand? Wie intensiv? Und wie häufig empfindet jemand so etwas wie dieses staunende Innehalten? GefĂĽhle von Dankbarkeit, die sich dann anschlieĂźend einstellen können. Da haben wir uns unterschiedlichste Personengruppen angeschaut: Meditierende, YogaĂĽbende, Ordensleute, Normalmenschen, Studierende, Patienten mit Schmerzerkrankungen. Unterschiedlichste Menschengruppen, auch Personen mit depressiven Erkrankungen.Â
ERZĂ„HLERIN
Im Ergebnis fiel auf, dass es sehr deutliche Unterschiede im Empfinden gibt:Â
ZSP 17Â Â BĂĽssing
Das ist jetzt nicht so, dass es Menschen gibt, die so etwas gar nicht empfinden wĂĽrden. Aber es fällt eben deutlich dabei auf, dass diejenigen, die einen bewussten Lebensstil haben: also die Yoga-Ăśbenden, die Ordensleute zum Beispiel, die auch eine religiöse oder spirituelle Praxis haben, die das also auch häufig einĂĽben, so dass sie es leichter wahrnehmen, die haben viel höhere Scores gehabt als andere Personengruppen.Â
ERZĂ„HLERIN
Sie haben also deutlich besser abgeschnitten hinsichtlich Erlebnissen, die als intensiv empfunden wurden. Auf der Basis der zahlreich beantworteten Fragebögen und tiefergehenden Interviews hat Büssing inzwischen ein Programm entwickelt, dass er „Staunendes Innehalten“ nennt. Der positive Einfluss von kleinen Ritualen auf das Wohlbefinden soll möglichst vielen zugutekommen.
ERZĂ„HLER
Das ganze Programm ist kostenlos im Internet auf den Seiten der Universität Witten/Herdecke erhältlich. Für einen Zeitraum von zwei bis höchstens drei Wochen kann man mit Hilfe dieses Materials üben, wie Staunen und Innehalten im Alltag funktionieren. Und man kann dabei beobachten, wie sich der eigene Alltag dadurch verändert, wie das Lebensgefühl sich intensiviert.
ZSP 18Â Â BĂĽssing
Gut. Das kann also jeder so selbständig für sich gestalten, wie es zu seiner Lebenssituation passt. Dabei werden also für jeden Tag bestimmte, meditativ und anregende Texte bereitgestellt, die man dann mit in den Tag hineinnehmen kann. Werden auch weitere Vorschläge gemacht, die in einem Booklet zu finden sind, dass man sich kostenlos herunterladen kann.
ERZĂ„HLERIN
Auffällig ist, dass jeder Tag durch die Vorschläge in diesem mehrwöchigen Programm einen klaren Rhythmus bekommt:Â
ATMO aus Archiv: Vogelgezwitscher morgens…
ERZĂ„HLER
Der Tag soll morgens mit einer kurzen Zeit der Stille begonnen werden, um sich zu sammeln und eine besondere Atmosphäre zu schaffen, seine natĂĽrliche Umwelt wahrnehmen. Und dann kommt etwas Zeit fĂĽr einen speziellen kleinen Text zur Inspiration. An Tag eins handelt er von einer schönen Situation, in der man einmal Kaffee getrunken hat. Es folgt eine kleine Zeit der Meditation, egal ob im Gehen oder Sitzen.Â
ATMOS Schritte auf Kies, Kreuzblende von Vogelgezwitscher in Grillenzirpen
ERZĂ„HLERIN
FĂĽr den Nachmittag wird immer ein kleiner Spaziergang empfohlen, von dem man etwas mitbringen soll, das einen berĂĽhrt hat. Diese Gegenstände bekommen fĂĽr die Zeit des Programms einen besonderen Platz in der Wohnung. Auch eine kurze Zeit fĂĽr einen Tee oder Kaffee soll man sich einräumen und ihn bewusst genieĂźen.Â
ATMOS aus nach WohnungstĂĽr zu
ZSP 19Â Â BĂĽssing
Besonders wichtig erscheint mir, dass auch ein TagesrĂĽckblick am Abend erfolgt: Was mich bewegt hat, womit ich in Resonanz gegangen bin, besonders mit diesem anregenden Tages-Text. Das kann man dann noch in einem Tagebuch aufschreiben, in das man immer wieder hineinschauen kann, wenn man das GefĂĽhl hat, nichts ist toll in meinem Leben! Man kann es wieder zu Rate ziehen und stellt fest: Doch! Mich hat etwas bewegt und berĂĽhrt. Und es war eine Zeit, die kann ich vielleicht auch wiederholen: Indem ich mich daran erinnere, wie das noch mal ging.Â
ERZĂ„HLERIN
Schon beim Anschauen des Booklets, das liebevoll mit Fotos und Texten gestaltet ist, lässt sich ahnen: Ja, das könnte etwas bewirken! So anregend sind die täglichen Aufgaben. Aber lässt sich unser Gefühl, dass wir ein intensives Leben führen, durch das ehrfürchtige Staunen wirklich steigern? Hat nicht jeder sein eigenes, persönliches Limit?
ZSP 20Â Â BĂĽssing
Es ist immer schwierig. Man kann Personen finden, die haben, wenn man das jetzt quantifizieren wollte, schon sehr hohe Ehrfurchts-Scores. Da kann man vermutlich nicht mehr noch mehr steigern, weil sie schon sehr bewusst sind. Aber mit Personen, wo noch Platz nach oben ist, da kann man tatsächlich dieses Erleben auch weiter trainieren.Â
ERZĂ„HLER
Gerade Menschen mit depressiven Erkrankungen fällt es deutlich schwerer zu staunen oder die Lebendigkeit und Verbundenheit mit der Welt zu empfinden. Da wäre noch viel möglich, glaubt BĂĽssing, vieles haben wir selbst in der Hand. Seine Ăśberlegungen und Forschungsergebnisse hat er in seinem 2024 erschienenen Buch „Innehalten“ zusammengefasst.Â
ATMOS Amselgezwitscher, Park, Schritte
ERZĂ„HLERIN
Wer also ein intensiveres Leben führen möchte, könnte schon heute beginnen: Ein kurzer bewusster Spaziergang wäre ein Anfang!
Musik 9: Grapefruit diet – siehe vorn– 36 Sek
ZSP 21Â Â BĂĽssing
Und dann stellt man irgendwann fest, dass es eigentlich gar nicht so schwierig, mit offenen, aufmerksamen Augen durchs Leben zu gehen. In einer bestimmten Tradition nennt man das dann Achtsamkeit. Das kann man eigentlich nennen, wie man möchte. Es geht um eine Resonanzfähigkeit, Berührungsfähigkeit, dass ich all das in Anführungszeichen „Heilige“ in meinem Leben tatsächlich wieder wahrnehmen kann. Ich kann mich vielleicht noch mehr freuen über all das, was ich mich umgibt und noch besser wertschätzen. Denn eigentlich ist nichts von all dem, was uns umgibt und unser Leben ausmacht, selbstverständlich.
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