radioWissen - Bayern 2   /     Die Dolchstoßlegende

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Ein Dolchstoß von hinten? Verrat an den kĂ€mpfenden Soldaten? Am Ende des Ersten Weltkrieges verschleierte die kaiserliche MilitĂ€rfĂŒhrung ihr Scheitern. Rechte Verschwörungslegenden machten stattdessen die demokratischen Politiker der Weimarer Republik fĂŒr die Kriegsniederlage verantwortlich. Und zur Zielscheibe rechter Gewalt. Von Renate Eichmeier

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Duration
00:25:17
Publishing date
2024-11-08 03:30
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/die-dolchstosslegende/2099528
Contributors
  Renate Eichmeier
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2099528/c/feed/die-dolchstosslegende.mp3
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Shownotes

Ein Dolchstoß von hinten? Verrat an den kĂ€mpfenden Soldaten? Am Ende des Ersten Weltkrieges verschleierte die kaiserliche MilitĂ€rfĂŒhrung ihr Scheitern. Rechte Verschwörungslegenden machten stattdessen die demokratischen Politiker der Weimarer Republik fĂŒr die Kriegsniederlage verantwortlich. Und zur Zielscheibe rechter Gewalt. Von Renate Eichmeier

Credits
Autorin dieser Folge: Renate Eichmeier
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Thomas Morawetz

Im Interview:
Prof. Dr. Martina Steber, Professorin fĂŒr Neueste Geschichte an der UniversitĂ€t Augsburg und Stellvertretende Direktorin des Instituts fĂŒr Zeitgeschichte MĂŒnchen-Berlin

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Literatur:

Boris Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914 – 1933, ein dickes Standardwerk, mit vielen Details, Auswertung zahlreicher Quellen, gut geeignet um verschiedene Themenbereich nachzulesen

Gerhard P. Groß: Das Ende des Ersten Weltkrieges und die Dolchstoßlegende – fĂŒr militĂ€risch Interessierte, Details zur militĂ€rischen Situation am Kriegsende und vieles ĂŒber Ludendorff und Hindenburg.

Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

Atmo: SchĂŒsse

ERZÄHLERIN:

26. August 1921. Gegen 11 Uhr vormittags. In der NĂ€he von Bad Griesbach hallen SchĂŒsse durch den Schwarzwald. Sie gelten einem Mann, der mit einem Parteikollegen einen Spaziergang in seiner schwĂ€bischen Heimat macht: Matthias Erzberger, Mitte 40, Gehrock, dunkle Hose, schwarzer Hut, Politiker des katholischen Zentrums, bis vor wenigen Monaten Finanzminister der Weimarer Republik. Matthias Erzberger wird von den SchĂŒssen schwer verletzt, versucht zu fliehen, stĂŒrzt an einem Abhang, am Boden liegend treffen ihn weitere Kugeln. Die beiden AttentĂ€ter kommen aus rechtsextremen Netzwerken. Vor seiner Ermordung wurde Matthias Erzberger wie andere fĂŒhrende Politiker der Weimarer Republik von rechtsnationalen Kreisen mit Hetzkampagnen gejagt. 

ERZÄHLER: 

Fort mit Erzberger! VaterlandsverrĂ€ter! Novemberverbrecher! Verrat an den kĂ€mpfenden Soldaten! Ein Dolchstoß von hinten! 

ERZÄHLERIN:

Am Ende des Ersten Weltkrieges hatte die MilitĂ€rfĂŒhrung des Deutschen Kaiserreiches ihr Scheitern verschleiert und damit den Boden fĂŒr rechte Verschwörungslegenden bereitet. Diese machten die demokratischen Politiker der Weimarer Republik fĂŒr die Kriegsniederlage verantwortlich. Und zur Zielscheibe rechter Gewalt.

O1 STEBER

In rechten Kreisen, in rechtsextremen Kreisen wird dieser Begriff des Dolchstoßes bestĂ€ndig ĂŒberall aufgegriffen und wird zu einer Propaganda-Formel, zu einer Hetz-Formel, die Gewalt legitimiert, nĂ€mlich 'ne Gewalt, die sich dann in Morden an diesen fĂŒhrenden Vertretern der Novemberrevolution dann auch breit macht. 

ERZÄHLER: 

So die Historikerin Martina Steber, Professorin fĂŒr Neueste Geschichte an der UniversitĂ€t Augsburg und Stellvertretende Direktorin des Instituts fĂŒr Zeitgeschichte MĂŒnchen-Berlin. 

O2 STEBER

Man kann sagen, dass das die Funktion hat, die historische RealitÀt tatsÀchlich zu verschleiern.

ERZÄHLERIN:

Die historische RealitĂ€t? Um sie zu verstehen, muss man zurĂŒckgehen zum Beginn des Ersten Weltkrieges. 

Musik:  Huldigungsmarsch 0‘30

Atmo: Jubel, marschieren

Im August 1914 herrschte nationale Euphorie. Regimenter marschierten unter dem Jubel der Bevölkerung durch die Straßen. Im Reichstag stimmten alle Parteien inklusive der SPD fĂŒr die Kredite, die zur Finanzierung des Krieges notwendig waren. Ein Ausflug nach Paris sollte es werden, ein kurzer, schneller Eroberungskrieg im Westen – gekrönt mit Annexionen. 

Musik: War is coming 0‘50

Atmo: Kampf Krieg

Doch der deutsche Vormarsch im Westen stockte innerhalb kurzer Zeit. Die Front fraß sich ein. Ein zĂ€her, brutaler Stellungskrieg mit unzĂ€hligen Toten folgte. Eine Seeblockade der EnglĂ€nder schnitt die deutschen NordseehĂ€fen vom internationalen Handel ab. Es kam zu Lebensmittelknappheit und Mangel an kriegswichtigen GĂŒtern. Zu Hause an der sogenannten Heimatfront verflog die nationale Hochstimmung. Die Menschen litten unter mangelnder Versorgung. Es kam zu ersten Krawallen und Streiks auf lokaler Ebene, die sich zunehmend ausweiteten und politisierten. Eine neue Oberste Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff sollte ab Sommer 1916 fĂŒr den entscheidenden militĂ€rischen Durchbruch sorgen. Doch der ließ auf sich warten. Die öffentlichen Diskussionen ĂŒber die Beendigung des Krieges nahmen Fahrt auf. 

ERZÄHLER:

Sollte man verhandeln? Sollte man weiterkÀmpfen? Siegfrieden? Oder Verhandlungsfrieden? 

ERZÄHLERIN: 

Die Gesellschaft spaltete sich, so die Historikerin Martina Steber, in zwei Lager. 

O3 STEBER

Und da hat man auf der einen Seite ein rechtes Lager, das ganz deutlich auf einen Siegfrieden zielt, der gleichzeitig mit großen territorialen Annexionen rechnet, also eine Expansionspolitik, die sich ja in den Kriegszielen des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg auch zeigt und die das leitet und die dann gleichzeitig einen Verhandlungsfrieden ausschließt. Also es gibt nur einen Sieg, einen militĂ€rischen Sieg unter Einschluss eben von territorialen Gewinnen. Das ist das einzige Ziel, was akzeptabel ist. 

 ERZÄHLER:

Auf der anderen Seite, so Martina Steber, stehen diejenigen, die diesen propagierten Siegfrieden fĂŒr unrealistisch halten.

O4 STEBER 

Es sind die Gruppen, die Vertreter eben von Sozialdemokratie, von Linksliberalen und aus dem Zentrum vom politischen Katholizismus, die auf einen Verhandlungsfrieden unter Wegfall aller annexionistischer Ziele drĂ€ngen – 

ERZÄHLERIN:

darunter als fĂŒhrende Stimme: Matthias Erzberger – 

O5 STEBER 

Die werden als VerrĂ€ter bezeichnet und zwar aus diesem rechten nationalistischen Lager. Das heißt, dieser Gedanke eines Verrats durch die Heimatfront, der ist bereits 1917 da, und wird auch ganz klar geĂ€ußert im Reichstag zum Beispiel, als eine Resolution eben von Linken, Linksliberalen und dem Zentrum diskutiert wird mit der Forderung nach so einem Verhandlungsfrieden ohne Annexionen.

MUSIK: Z8014761117 Foreboding of war (alternativ) 0‘35

 ERZÄHLER:

Die gesellschaftlichen Fronten verhĂ€rteten sich. WĂ€hrend der Ruf nach Friedensverhandlungen immer lauter wurde, propagierten MilitĂ€rfĂŒhrung und Rechtsnationale weiterhin einen Siegfrieden – der sich militĂ€risch allerdings in keiner Weise abzeichnete. Ein uneingeschrĂ€nkter U-Boot Krieg sollte Abhilfe leisten. Handels- und Passagierschiffe auch aus neutralen Staaten wurden ohne Vorwarnung versenkt. Ziel war, England und Frankreich von internationalen Handelsbeziehungen abzuschneiden, insbesondere von RĂŒstungslieferungen aus den USA. Doch das erwies sich als kontraproduktiv. In der Folge traten nĂ€mlich die USA auf Seiten der Alliierten in den Krieg ein – was sich bald als verhĂ€ngnisvoll erwies.

Als im Zuge der Oktoberrevolution 1917 das Russische Zarenreich zusammenbrach, wurden durch den Friedensschluss mit den neuen bolschewistischen Machthabern im Osten deutsche Truppen frei. Und die ließ die Oberste Heeresleitung an die Westfront verlegen, um dort mit einer FrĂŒhjahrsoffensive den Sieg herbeizufĂŒhren. Aber auch das scheiterte, weil die Alliierten klar im Vorteil waren – aus zwei GrĂŒnden. Zum einen hatten sie mehr Panzer. Und diese, so die Professorin Martina Steber, brachten eine neue Dynamik in den Stellungskrieg an der Westfront. 

O6 STEBER

Die können nĂ€mlich ĂŒber solche Stellungen drĂŒber gehen, die können ĂŒber GrĂ€ben drĂŒbergehen, die sind relativ unverwundbar. Also, da gerĂ€t strategisch einfach durch militĂ€rische Ausstattung das Deutsche Reich ins Hintertreffen. Das ist der eine Punkt. Und zum zweiten, durch den Kriegseintritt der USA werden die Alliierten immer wieder mit neuen, frischen, gut ausgebildeten Soldaten versorgt. 

ERZÄHLERIN:

Die von den deutschen MilitĂ€rs massiv unterschĂ€tzten Amerikaner erwiesen sich als schlagkrĂ€ftige Kampfeinheiten. Die deutschen Soldaten dagegen kamen geschwĂ€cht von der Ostfront und waren chancenlos der militĂ€rischen Überlegenheit der Alliierten ausgesetzt. Hunderttausende kamen um. 

Musik:  Unexpected encounter 0‘45

Atmo: Kundgebung

In der Bevölkerung zuhause rumorte es zunehmend. Die Menschen hungerten. Bereits im Januar 1918 war es zu reichsweiten Massenstreiks gekommen. Die erschöpften Menschen forderten ein Ende des Krieges, eine Verbesserung der Versorgung, und sie forderten politische Teilhabe, Wahlrechtsreform und Demokratisierung, wobei die konkurrierenden Konzepte Parlamentarismus versus RĂ€tesystem im Umlauf waren. Der Druck vonseiten der Bevölkerung wuchs. GerĂŒchte ĂŒber die desaströse militĂ€rische Lage drangen durch, wĂ€hrend die kaiserliche MilitĂ€rfĂŒhrung weiterhin einen deutschen Sieg propagierte. 

ERZÄHLER:

Zwar ließ die kaiserliche MilitĂ€rfĂŒhrung schließlich die Regierung und auch den Reichstag darĂŒber informieren, dass mit einem vollstĂ€ndigen Sieg im Westen nicht mehr zu rechnen sei. Wie katastrophal die militĂ€rische Lage war, darĂŒber gab die Oberste Heeresleitung allerdings vorerst keine Auskunft. Bei den obersten MilitĂ€rs kam Krisenstimmung auf. General Erich Ludendorff verlor zunehmend die Nerven.

ERZÄHLERIN: 

Er schob das Scheitern der Offensive wahlweise auf die unteren RĂ€nge in der militĂ€rischen Hierarchie, auf die linken Ideen, mit denen Soldaten infiziert seien, oder auf die mangelnde UnterstĂŒtzung von der sogenannten Heimatfront mit ihren Forderungen nach Demokratisierung.

MUSIK: Dangerous pursuit 0‘15

O8 STEBER

Im Oktober 1918 wird tatsĂ€chlich ein Traum von vielen auf der linken, auf der liberalen Seite, auch im Zentrum umgesetzt. Es kommt zu einer stĂ€rkeren Parlamentarisierung der kaiserzeitlichen Verfassung, es wird eine Regierung gebildet, eben unter Einschluss dann von Sozialdemokraten, Zentrumsleuten, Linksliberalen unter einem gemĂ€ĂŸigten, konservativen oder liberalkonservativen Max von Baden. 

ERZÄHLER:

Ende September / Anfang Oktober hatte die Oberste Heeresleitung fĂŒhrende Politiker mit einem dramatischen Appell ĂŒber die desaströse Lage an der Westfront informiert. Vehement drĂ€ngte Erich Ludendorff auf eine Änderung der Verfassung in Richtung auf parlamentarische Monarchie – und auf sofortige Waffenstillstandsverhandlungen, um einem drohenden militĂ€rischen Zusammenbruch zuvorzukommen. 

O9 STEBER

Und der Plan, den Ludendorff da hegt und der durchaus auch aufgeht, ist, die Verantwortung fĂŒr die Kriegsniederlage genau diesen Leuten in die Schuhe zu schieben, also sich selber zu entlasten und die Verantwortung fĂŒr die Niederlage, die dann eingestanden werden muss, auf die parlamentarischen KrĂ€fte und auf die republikanischen KrĂ€fte zu projizieren, die dann tatsĂ€chlich auch den Waffenstillstand unterzeichnen mĂŒssen. 

Musik: Complex questions 0‘40

ERZÄHLERIN:

Schnell wurde eine neue Reichsregierung unter Kanzler Max von Baden installiert. In seinem Kabinett waren nunmehr auch Politiker der demokratischen Parteien wie etwa Matthias Erzberger vom katholischen Zentrum und der SPD-Politiker Philipp Scheidemann. Obwohl Bedenken bezĂŒglich eines ĂŒberstĂŒrzten Waffenstillstandsangebots bestanden, gab Max von Baden angesichts der unĂŒbersichtlichen Lage dem Druck Ludendorffs nach und ĂŒbermittelte ein entsprechendes Gesuch an den amerikanischen PrĂ€sidenten Woodrow Wilson. 

ERZÄHLER:

In der SPD hatte es bereits vor dem Eintritt ins Kabinett kritische Stimmen gegeben, die davor warnten, sich in den Zusammenbruch des monarchischen Regimes reinziehen zu lassen. Auch Max von Baden war sich darĂŒber im Klaren, dass die Oberste Heeresleitung nicht mit offenen Karten spielte, sein Vizekanzler Payer sprach es klar aus –

dass wir es sein sollen, die den verlorenen Krieg verloren machen. Und Matthias Erzberger verlangte vergeblich, dass die Oberste Heeresleitung klarstellen sollte, dass sie es war, die die Bitte um Waffenstillstand erzwungen hat. 

ERZÄHLERIN:

Die nĂ€chsten Wochen verhandelte die Reichsregierung unter Max von Baden mit dem amerikanischen PrĂ€sidenten, der allerdings sehr harte Bedingungen fĂŒr einen Waffenstillstand stellte. 

Musik: Z8019017127 secret proofs red. 0‘30

Die obersten MilitĂ€rs waren empört. Allen voran Ludendorff. Und die Seekriegsleitung versuchte schließlich im Alleingang, mit der Hochseeflotte einen nicht autorisierten Vorstoß zu unternehmen. Die Matrosen verweigerten aber den eigenmĂ€chtigen Befehl ihrer militĂ€rischen FĂŒhrung. In der Folge brachen Unruhen aus, die sich ĂŒber das ganze Kaiserreich ausbreiteten. Es war der Beginn der Novemberrevolution 1918 und das Ende der Monarchie. Am 9. November gab Max von Baden in Eigenregie die Abdankung des Kaisers bekannt und ĂŒbergab die RegierungsgeschĂ€fte an Friedrich Ebert, den Parteivorsitzenden der SPD. Die Republik wurde ausgerufen. - Zwei Tage vorher war die deutsche Delegation unter FĂŒhrung von Matthias Erzberger im Obersten Hauptquartier in Belgien aufgebrochen und nach RĂŒcksprache mit Kaiser und Oberster Heeresleitung losgefahren, um in Frankreich den Waffenstillstandsvertrag zu unterzeichnen. 

ERZÄHLER:

Von seinen französischen Verhandlungspartnern wurden Matthias Erzberger die Bedingungen vorgelegt, die ihm sehr hart erschienen. VerhandlungsspielrĂ€ume gab es nicht. Schließlich informierte Matthias Erzberger die Oberste Heeresleitung und auch die Regierung in Berlin und bat um Anweisung. Beide teilten ihm mit, dass unter allen UmstĂ€nden ein Waffenstillstand abgeschlossen werden muss. 11. November um fĂŒnf Uhr morgens: Matthias Erzberger unterschrieb. 

ERZÄHLERIN:

Die kaiserliche MilitĂ€rfĂŒhrung hatte sich geschickt aus der Verantwortung gezogen. 

ERZÄHLER: 

SpĂ€ter sagte Matthias Erzberger, hĂ€tte man frĂŒher auf Verhandlungen gesetzt, hĂ€tten die Deutschen bessere Bedingungen bekommen.

ERZÄHLERIN:

Demokratische Politiker ĂŒbernahmen im Chaos von Kriegsende und Revolution die politische Verantwortung, sorgten fĂŒr eine Beruhigung der Situation und grĂŒndeten die Weimarer Republik. Und sie waren es auch, die im Sommer 1919 den Versailler Vertrag unterzeichneten. Auch hier gab es kaum VerhandlungsspielrĂ€ume. Die Friedensbedingungen waren sehr hart. Dass Deutschland die alleinige Schuld am Kriegsausbruch gegeben wurde, empfanden viele als demĂŒtigend. Und die hohen Reparationszahlungen lösten in weiten Teilen der Bevölkerung eine Welle der Empörung aus. Die junge deutsche Republik stand vor enormen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Wer war schuld an der Misere? 

MUSIK:  Unexpected signals 0‘20

ERZÄHLER:

Die Schuldigen, so trommelte die rechte Propagandamaschinerie, das waren die Novemberverbrecher, die VerrĂ€ter in der Heimat, die fĂŒr die Revolution verantwortlich waren, die der Front das RĂŒckgrat gebrochen haben, die den kĂ€mpfenden Soldaten in den RĂŒcken gefallen sind, ihnen den Dolchstoß versetzt haben. 

O10 STEBER 

Der Begriff des Dolchstoßes, der funktioniert sehr, sehr gut, weil er auch so bildlich ist. Der Begriff nimmt Bezug auf eine fĂŒr den deutschen Nationalismus ganz bekannte Szene in der Nibelungensage, die von Richard Wagner in den großen Opern, die ja so zum Grundarsenal einer deutschen nationalistischen bĂŒrgerlichen Kultur in der Zeit gehören, dann in Musik und in Szenen umgesetzt wurde im Ring des Nibelungen, wo nĂ€mlich der Schurke Hagen den großartigen Helden Siegfried, der von den Göttern ausersehen ist, in einem unfairen Kampf von hinten den Dolchstoß in den RĂŒcken versetzt und auf die Art und Weise das Gute, den Inbegriff des guten deutschen und des nationalen Helden dann zum Fallen bringt. Und das ist ein Bild, das in den Köpfen von jedem gebildeten Deutschen, aber auch weit darĂŒber hinaus ganz prĂ€sent war. 

Musik: Z8022611109 Der Prangertag 0‘20

ERZÄHLERIN:

Die Legende vom Dolchstoß in den RĂŒcken der unbesiegten deutschen Armee tauchte in der deutschen Öffentlichkeit bereits bei Kriegsende auf. Rechte Verschwörungstheorien nahmen Fahrt auf. Demobilisierte Soldaten und junge MĂ€nner schlossen sich Freikorps an, paramilitĂ€rischen FreiwilligenverbĂ€nden, die zunehmend nationalistisch und gewaltbereit auftraten. Aus ihnen ging unter anderem die rechtsextreme Terrororganisation Consul hervor, die verantwortlich war fĂŒr eine Reihe politischer Morde in der Weimarer Republik. WĂ€hrenddessen wurde ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt, um die Geschehnisse rund um den Ersten Weltkrieg zu untersuchen: Ausbruch, versĂ€umte Friedensmöglichkeiten, Ursachen des Zusammenbruchs. Paul von Hindenburg gab als ehemaliges Mitglied der Obersten Heeresleitung in einer öffentlichen Sitzung sein Statement ab – und nutzte die Gelegenheit, um jede Verantwortung von sich zu weisen und die Dolchstoßlegende zu forcieren. Das war Wasser auf die MĂŒhlen der nationalistischen Presse, die in der Weimarer Republik dominierte. Zu dem rechten Verlagsimperium von Alfred Hugenberg gehörten zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften, die mit Artikeln, Karikaturen und SchmĂ€hgedichten die demokratische Ordnung der Weimarer Republik und ihre fĂŒhrenden Politiker angriffen. 

ERZÄHLER:

Von gefĂŒgigen Werkzeugen fremder MĂ€chte ist da die Rede, von ErfĂŒllungspolitikern, die verantwortlich sind fĂŒr das deutsche UnglĂŒck, von Novemberverbrechern, die die kĂ€mpfenden deutschen Soldaten verraten und von LandesverrĂ€tern, die deutsche Arbeiterinteressen verkauft haben.  

O11 STEBER

Und das sind dann exponierte MĂ€nner, wie etwa Matthias Erzberger, der noch fĂŒr die Regierung Max von Baden, also die noch wĂ€hrend des Kaiserreichs eingesetzte demokratisierte Regierung, den Waffenstillstand von CompiĂšgne unterzeichnet, ein Zentrumspolitiker ein gemĂ€ĂŸigter Konservativer, der persönlich verantwortlich gemacht wird und der sich bestĂ€ndig mit diesem Vorwurf, ein  Novemberverbrecher zu sein, konfrontieren lassen muss, der gehetzt wird, gejagt wird von rechtsextremen paramilitĂ€rischen Einheiten und dann schließlich tatsĂ€chlich im August 1921 auch ermordet wird. 

Musik:  Dark operation red. 0‘35

ERZÄHLERIN:

Vor seiner Ermordung hatte es eine Pressekampagne gegen Matthias Erzberger gegeben – angefĂŒhrt von Karl Helfferich, einem Politiker der Deutschnationalen Volkspartei in enger Zusammenarbeit mit der rechten Hugenberg-Presse. 

ERZÄHLER:

Matthias Erzberger wurde beschimpft, ihm wurde Korruption unterstellt, die Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages vorgeworfen und damit die Verantwortung fĂŒr die sogenannte Schmach und Not Deutschlands gegeben. Und ihm wurde offen mit dem Tod gedroht.

ERZÄHLERIN:

Schließlich ging Matthias Erzberger juristisch mit einer Beleidigungsklage gegen Karl Helfferich vor. Doch der nutzte das Gericht als BĂŒhne und arbeitete eng mit der Hugenberg-Presse zusammen, die seine beleidigenden Auslassungen sofort veröffentlichte. Auf Matthias Erzberger wurde ein erstes Attentat verĂŒbt. Vor dem GerichtsgebĂ€ude verletzte ihn ein Schuss schwer an der Schulter. Als dann der AttentĂ€ter vor Gericht stand, trug er seine Kriegsuniform mit Orden und bekannte sich zur Monarchie.

ERZÄHLER:

Unter Hinweis auf Helfferich gab er an, dass er Erzberger fĂŒr den Hauptschuldigen am Zusammenbruch hĂ€lt und dass er der Ansicht ist, dass Erzberger wissentlich gegen das Volkswohl arbeitet. Deshalb dachte er sich, es muss etwas getan werden. 

 ERZÄHLERIN:

Das Gericht zeigte sich dem AttentĂ€ter gegenĂŒber verstĂ€ndnisvoll. Der Mordversuch wurde als schwere Körperverletzung interpretiert und mit achtzehn Monaten Haft bestraft. 

MUSIK:  Constant fear red. 0‘15

Wenige Monate spĂ€ter fielen die tödlichen SchĂŒsse auf Matthias Erzberger. Die beiden AttentĂ€ter stammten aus dem Kreis der rechtsmilitanten Terrororganisation Consul. 

O12 STEBER

Und diese Formel vom Dolchstoß, gekoppelt eben mit der Formel von den Novemberverbrechern, funktioniert auch deshalb so gut im rechten Milieu, weil das eine Integrations-Formel ist, auf die sich alle einigen können. Diese Rechte nach 1918/19 ist sehr heterogen, da gibt es ganz unterschiedliche Strömungen, und die sind sich selber in vielerlei Hinsicht nicht grĂŒn. Aber sie können sich darauf einigen, dass die Schuldigen quasi an der Misere des deutschen Volkes diese angeblichen Novemberverbrecher sind, die in konspirativer Absicht – und das steckt dann ja auch hinter diese Dolchstoßlegende – die in konspirativer Absicht, in verschwörerischer Absicht, ganz bewusst und planmĂ€ĂŸig darauf hingewirkt hĂ€tten, dass die deutsche Kampfkraft an der Front zusammenbricht und auf die Art und Weise eine Revolution erst ermöglicht worden wĂ€re. In rechtsextremen Kreisen wird die ErzĂ€hlung dann noch mit dem antisemitischen Element angereichert, und dann sind es die Juden, die quasi als große Verschwörer hinter dieser ganzen Geschichte stehen.

ERZÄHLER:

Pressekampagnen und Morddrohungen gegen demokratische Politiker gehörten zum Alltag in der Weimarer Republik und wurden auch von der aufstrebenden NSDAP genutzt. Zielscheibe der Angriffe von rechts waren unter anderem ReichsprĂ€sident Friedrich Ebert von der SPD, sein Parteikollegen Philipp Scheidemann, der mit BlausĂ€ure attackiert wurde, der liberale Außenminister Walther Rathenau, der antisemitisch angefeindet und von Angehörigen der Organisation Consul ermordet wurde 
 Die rechten Verschwörungslegenden entfalteten eine ungeheure Macht. 

Z8021994115 Ambuscade 0‘30

Die GerĂŒchte um den angeblichen Dolchstoß und die Diffamierung der demokratischen Politiker als Novemberverbrecher wirkten destabilisierend auf die Weimarer Republik und waren lebensgefĂ€hrlich fĂŒr die betroffenen Politiker.

O13 STEBER

Da sieht man, welche mobilisierende Kraft diese Begriffe haben, aber gleichzeitig auch, welche Gewalt hinter diesen Begriffen steckt.Â