radioWissen - Bayern 2   /     Kultur des Todes - Geschichte des Friedhofs

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Grabstätten gehören zu den ältesten Zeugen menschlicher Zivilisation: Von Gräberfeldern und Nekropolen entwickelten sie sich mit der Christianisierung zum Friedhof. Dieser Ort des Gedenkens wandelt sich heute mehr und mehr zu einem Schauplatz, der das menschliche Streben nach Individualität widerspiegelt. Von Frank Halbach

Subtitle
Duration
00:21:47
Publishing date
2024-11-13 03:30
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/kultur-des-todes-geschichte-des-friedhofs/2099708
Contributors
  Frank Halbach
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2099708/c/feed/kultur-des-todes-geschichte-des-friedhofs.mp3
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Shownotes

Grabstätten gehören zu den ältesten Zeugen menschlicher Zivilisation: Von Gräberfeldern und Nekropolen entwickelten sie sich mit der Christianisierung zum Friedhof. Dieser Ort des Gedenkens wandelt sich heute mehr und mehr zu einem Schauplatz, der das menschliche Streben nach Individualität widerspiegelt. Von Frank Halbach

Credits
Autor dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Stefan Wilkening, Ines Hollinger
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Thomas Morawetz

Im Interview:

Dr. Thorsten Benkel und Matthias Meitzler (Soziologen und Thanatologen), Universität Passau
Prof. Dr. Dr. Ina Wunn, Religionswissenschaftlerin und Biologin

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Literatur:

Thorsten Benkel, Matthias Meitzler: Körper - Kultur - Konflikt: Studien zur Thanatosoziologie (Thanatologische Studien - Thanatological Studies). Baden-Baden 2021.

Thorsten Benkel, Matthias Meitzler Gestatten Sie, dass ich liegen bleibe. Ungewöhnliche Grabsteine. Eine Reise über die Friedhöfe von heute. Köln 2014.

Thorsten Benkel, Matthias Meitzler: Game Over. Neue ungewöhnliche Grabsteine. Köln 2016. 

Ina Wunn , Patrick Urban , et al.: Götter - Gene - Genesis: Die Biologie der Religionsentstehung. Heidelberg 2015.

Wir freuen uns ĂĽber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ZITATORIN

Noch niemals hat mich so wie heut

Des Todes Poesie gerĂĽhrt,

Da mich mein Pfad beim Nachtgeläut

Zum engen Friedhofstor gefĂĽhrt.

SPRECHER

Ein Raum für ungestörtes Totengedenken: der Friedhof.

ZITATORIN

Wie liegen sie so still und traut,

UmglĂĽht vom gleichen Abendschein,

Vom gleichen Lenzduft ĂĽbertaut,

Die blumenbunten Gräberreih’n,

SPRECHER

Dichtet Frida Schanz, eine der beliebtesten Kinder- und Jugendbuchautorinnen vor dem Ersten Weltkrieg, ĂĽber den Friedhof, einen von den Lebenden abgegrenzten Ort.

MUSIK ENDE

O-Ton 2 Meitzler (16:58)

Dieses Image als düsterer, weltvergessener Ort…

SPRECHERIN

Der Totenacker, das Gräberfeld, die Gruft, das Mausoleum, die letzte Ruhestätte…

SPRECHER

Ein Ort des Gedenkens, der Einkehr und der Trauer.

O-Ton 3 Meitzler (13:13)

Friedhof ist eben nicht nur der Ort, der Trauer und der Melancholie, sondern es kann auch durchaus ein sehr lebendiger Ort sein, den man auch zu ganz anderen Zwecken aufsuchen kann.

SPRECHERIN

Ein heiliger Ort

O-Ton 4  Benkel (03:11) 

Friedhöfe haben eine ganz klassisch profane Funktion, sie sind Speicherstätten für tote Körper. Die müssen ja irgendwohin. (…) 03:32 Ganz profan pragmatisch. Wird dann natürlich mehr oder minder intensiv, je nachdem, wo man ist, durch Ritualität, Zeremonien und so weiter aufgewertet. Wobei das heutzutage nicht mehr so eine große Rolle spielt.

SPRECHER

Dr. Thorsten Benkel. Er und sein Kollege Matthias Meitzler, beide am Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Passau, sind Thantologen.

SPRECHERIN

Sie forschen zu den Themenfeldern Sterben, Tod und Trauer. Matthias Meitzler:

O-Ton 5 Meitzler (01:24)

Im Prinzip sämtliche Facetten dieser ganz großen Thematik. Das geht los beim Sterben. Das führt zu der Frage: Was passiert eigentlich mit einem toten Körper? Wie wird heutzutage bestattet? Wie sind Gräber gestaltet? Und was kann man denn ganz allgemein sagen: Wie hat sich das Verhältnis zu Sterben, Tod und Trauer verändert? Das ist so ein Forschungsschwerpunkt von mehreren, und den bearbeiten wir seit einiger Zeit sehr intensiv.

MUSIK 2 ; ZEIT: 00:25

SPRECHERIN

Grab- und Kultstätten sind gehören zu den ältesten Zeugnissen menschlicher Zivilisation. 

SPRECHER

Schon seit der frĂĽhen Steinzeit bestatten Menschen ihre Toten. In der frĂĽhesten Epoche der Menschheitsgeschichte entstehen verschiedene Vorstellungen vom Weiterleben nach dem Tod und Ahnenkult.

MUSIK ENDE

O-Ton 6 Wunn (01.37)

Am Anfang war der Tod.

SPRECHERIN

Sagt Dr. Dr. Ina Wunn, Biologin und Professorin fĂĽr Religionswissenschaft.

SPRECHER

Archäologischen Funde früher Bestattungen, in Form demonstrativer Gräber, gelten gemeinhin als Beweisstücke für die ersten menschlichen Vorstellungen vom „Übersinnlichen“.

SPRECHERIN

Dabei haben sie zunächst einen ganz diesseitigen praktischen Zweck:

O-Ton 7 Wunn (02.18)

Wenn man das Ganze aber aus einer biologischen Warte betrachtet oder auch aus einer ethnologischen Warte, dann wird man feststellen: Diese demonstrativen Grabstätten gibt es immer da, wo Territorien markiert werden. Also da, wo Völker leben, oder Stämme leben, oder Gruppen leben, die Jäger sind und Sammler und die auf ein großes Territorium angewiesen sind. Und die markieren mit den Begräbnissen einfach das Land, was sie für sich zum Jagen und zum Sammeln beanspruchen. Und genau so haben das bereits vor 90.000 Jahren die ersten Bewohner Europas gemacht. Haben also einfach ihre Toten bestattet, haben unter Umständen den Schädel, den sie vorher schön säuberlich bearbeitet hatten, also alles Fleischige davon entfernt, haben sie auf die Begräbnisstätte gelegt, um deutlich zu machen, hier sind wir schon, dieses Land haben wir von unseren Vätern und Großvätern ererbt, das ist unseres.

ZITATORIN

Die erste Haltestelle im Jenseits. 

SPRECHERIN

Zunächst einfach eine Grenzmarkierung.

MUSIK privat Take 003 „Ancient Mystery“; Album: Ancient Atmospheres; Label: 2011 Network Music; Interpret: Network Music Ensemble; Komponist; Network Music Ensemble; ZEIT: 01:50

SPRECHER

Mit der Entfaltung der ersten Hochkulturen entwickelte sich ein regelrechtes Bestattungswesen.

ZITATORIN

Die Geheimnisse der Unterwelt, die Initiation in die Mysterien des Totenreichs, Berge aufzubrechen und Täler aufzuschließen, Geheimnisse, die niemand kennt zur Behandlung des Verstorbenen… 

SPRECHER

Heißt es im ägyptischen Totenbuch, entstanden um 2.500 vor Christus. Im Alten Ägypten e erblühte ein ausgeprägter Totenkult mit Pyramiden, dem Tal der Könige und Nekropolen für die kunstvoll mumifizierten Leichen von Pharaonen, Würdenträgern und Beamten als letzte Ruhestätten.

ZITATORIN

Eikōn hē lithos

Eimi. tithēsi me

Seikilos entha

mnēmēs athanatou

sēma polychronion

darĂĽber

Ich bin ein Bild

in Stein; Seikilos stellte

mich hier auf,

in ewiger Erinnerung,

als zeitloses Symbol.


SPRECHERIN

Im antiken Griechenland, Kreta und Kleinasien entstanden Orte außerhalb des städtischen Lebens, an denen die Toten bestattet wurden: Gräberfelder oder Felsengräber. Nicht selten erbaute man in der Nähe ganze Tempelbezirke, wo Rituale zu Ehren der Toten vollzogen wurden.

ZITATORIN

honc oino ploirume cosentiont Romani / duonoro optumo fuise viro 

darĂĽber

Dieser ganz allein, so stimmen die meisten Römer überein / sei der allerbeste Mann gewesen. 

SPRECHER

Lautet die Inschrift auf dem Grab des Konsuls Lucius Cornelius Scipio aus dem dritten Jahrhundert vor Christus. Die Römer schließlich organisierten ihre Grabstätten auf unterschiedlichste Art und Weise. Die Reichen ließen sich gerne entlang von Ausfallstraßen bestatten, wo sie prächtige Gedenktafeln, monumentale Stelen oder prunkvolle Mausoleen errichten ließen.

Die Kapitale Rom barg auĂźerdem eine ganze unterirdische Totenstadt, in deren Katakomben ĂĽber 850.000 gesellschaftlich nicht ganz so hochstehende Verstorbene in Nischen eingemauert wurden.

MUSIK ENDE

ATMO Glocke

SPRECHERIN

Die Christianisierung machte dann Schluss mit Gräbern außerhalb der Siedlungen. Sowohl die auf germanisch-keltischer Tradition beruhenden außerörtlichen Gräberfelder als auch die Feuerbestattung wurden als heidnisch verurteilt.

SPRECHER

Es war Zeit für die letzte Ruhestätte im eingefriedeten Kirchhof, im geweihten Bereich der Kirchengebäude. Ein Ort der Ruhe und der Besinnung…

ATMO ENDE

MUSIK 4  „Saltarello“; ZEIT: 00:20

ZITATORIN

Gespannte Leinen zum Trocknen der Wäsche, beim Spielen laut schreiende Kinder, streunende Hunde, zechende, kartenspielende und raufende Soldaten… 

MUSIK ENDE

O-Ton 8 Meitzler (17:41)

Denn im Mittelalter war der Friedhof eben nicht am Rand, sondern er war im Zentrum der der Stadt oder des Dorfes. Da ging man fast täglich hin, zumindest einmal wöchentlich, wenn man noch zur Kirche gegangen ist. Da haben dann teilweise Märkte stattgefunden, auf den Friedhöfen aus. Da pulsierte das gesellschaftliche Leben, und das kann man jetzt eben schon seit längerer Zeit nicht mehr sagen. Da kann man schon überlegen, ob das auch was zu tun hat mit der vielzitierten Verdrängung des Todes.

SPRECHER

Ruhiger lag man im Altarraum oder in der darunter liegenden Kirchengruft - ein hohes Privileg, das lediglich der Familie des Kirchenstifters, dem Kirchherren oder kirchlichen Würdenträgern zustand. Nur die Wohlhabendsten konnten sich ein Begräbnis innerhalb der Kirche leisten.

SPRECHERIN

Der Tod machte also keineswegs alle gleich: Ständische oder soziale Unterschiede setzten sich auf dem Kirchhof fort. Je höher der Status, desto näher wurde man an der Kirche begraben.

SPRECHER

Unterschiede, die selbstverständlich auch in Aufwand und Pracht der Grabgestaltung schnell sichtbar werden.

MUSIK 5 „Kyrie“; ZEIT: 01:20

SPRECHERIN

Und das Grabmal gewinnt an künstlerischer Bedeutung. Die Gräber der oberen Zehntausend im Chor und in anderen Bereichen der Kirche sind natürlich auch am besten erhalten. Grabplatten sind die ältesten und zahlreichsten bewahrten Grabmäler. Inschriften darauf verraten Namen und den Todestag, Wappen bezeugen die Herkunft.

ZITATORIN

Hic iacet … -  Hier ruht …

SPRECHER

Grabmäler gehörten damals freilich nicht zu den Gedenkmöglichkeiten breiter Bevölkerungskreise. Die fanden ihrer Ruhe meist in Gräbern ohne Grabkennzeichnung und häufig in Gemeinschaftsgräbern. 

SPRECHERIN

Mit der Neuzeitzeit ab dem ausgehenden 16. Jahrhundert erscheint auf den Grabmälern der Knochenmann. Er symbolisiert: Alles ist eitel, alles ist vergänglich.

ZITATORIN

memento mori / heri mihi hodie tibi -

Gedenke der Sterblichkeit /Gestern mir, heute dir.

SPRECHER

Bilder des Vergangenen und des Vergehenden wie Schädel oder Sanduhren werden zu dominanten Motiven.

MUSIK ENDE

SPRECHERIN

Die Pest, später Pocken oder Cholera führen zu Wohnraummangel auf den Friedhöfen. Noch dazu möchte man die Seuchenopfer aus Angst vor Ansteckung ungern in der Ortsmitte begraben. In Nürnberg zum Beispiel wird schon 1517 angeordnet, dass von Ausnahmen für hohe Würdenträger abgesehen niemand mehr innerhalb der Stadtmauern begraben werden soll. München beauftragt 1545 zwei ihrer Ratsleute mit der Planung von zwei Gottesäckern vor den Toren der Stadt. 

SPRECHER

1563 wird in München der äußere Friedhof vor dem Sendlinger Tor eingeweiht: Seuchenopfer, hingerichtete Verbrecher, Prostituierte, Selbstmörder und Ungläubige – also alle Nicht-Katholiken – finden ihre letzte Ruhe auf der aus Platzmangel geborenen Begräbnisstätte.

SPRECHERIN

Heute eine der schönsten Friedhöfe Deutschlands: der Alte Südfriedhof an der Thalkirchener Straße.

ZITATORIN

Die Aufhebung der inneren Freithöfe im Jahre 1789 machte dessen Vergrößerung nothwendig, aber von den kolossalen und kostbaren Marmor- und Erzdenkmälern, welche dermal den Münchner Friedhof zu einem der sehenswertesten in Europa machten, zeigte der alte enge Leichenacker des vorigen Jahrhunderts noch keine Spur.

SPRECHER

Sinniert der kulturhistorische Schriftsteller Carl Albert Regnet 1879.

Entstanden ist der Alte Münchner Südfriedhof schon 1563: als Pestfriedhof und lag damals vor den Toren der Stadt. Er gilt heute als der münchnerischste aller Friedhöfe und zugleich exemplarisch: Zahlreiche Petitionen im Münchner Staatsarchiv zeugen heute noch von den vergeblichen Versuchen der Münchner Bürger, die alten Familiengrüfte innerhalb der Stadtmauern zu erhalten. 

SPRECHERIN

Anfang des 19. Jahrhunderts gestaltete Friedrich Ludwig von Sckell, der Schöpfer des Münchner Englischen Gartens, eine Parkanlage für den Friedhof – wie sie für den modernen Friedhof prägend wurde.

SPRECHER

Es entstanden klar definierte Reihengräber, geometrisch angeordnet ebenso wie Arkadengrüfte im südlichen Halbrund entlang der Außenmauer des Friedhofs. Hier lagen nun alle Berufe, alle Stände, arm und reich.

MUSIK 6  „Messiah. Oratorio in 3 Teilen, HWV 56“; ZEIT: 00:45

ZITATORIN

Die Gräber bürgerlicher Familien schmückte mit wenigen Ausnahmen ein einfaches hölzernes oder eisernes Kreuz, das hie und da vergoldet und regelmäßig mit einem Heiligenbilde versehen war, unter dem der Name und Stand des Begrabenen verzeichnet stand und welches durch zwei in Angel hängende Flügeldecken gegen die Unbild der Witterung geschützt war. Und als Franz Schwanthaler, der Vater des berühmten Ludwig Schwanthaler, es wagte, eine marmorne Frauengestalt auf einem Grabe aufzustellen, schlugen fromme Eiferer, darin eine Entweihung des geweihten Ortes erblickend, sein Werk in Trümmer! Aber die Bahn war gleichwohl glücklich gebrochen.

MUSIK ENDE

O-Ton 9 Benkel (10:45)

Es hat auch einen kulturellen Wert. Auch wenn Menschen da jetzt nicht gezielt hingehen oder höchstens mal spazieren gehen, haben die Friedhöfe trotzdem natürlich eine genealogische Bedeutung. Also, ich kann da ja sehen: Prominente liegen da rum. In München haben Sie das ja zum Beispiel. Und da sind tolle Statuen.

SPRECHERIN 

Sagt der Thanatologe Thorsten Benkel. Grabmale sind ebenso wie die weltliche Architektur Spiegel ihrer Zeit, folgen dem Klassizismus oder Strömungen der Romantik. Aus Repräsentationsmotiven lassen Grabeigentümer bis weit ins 20. Jahrhundert hinein aufwändige Grabanlagen errichten.

SPRECHER

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beginnt dann das Reihengrab mit gleichförmigen Grabmalen zu dominieren. 

SPRECHERIN

Heutzutage allerdings geht der Trend schon lange weg von halbanonymen Grabanlagen. 

O-Ton 10 Meitzler (06:31)

Ja, so der Haupttrend, den wir beobachten können, ist die Individualisierung und Pluralisierung. 

O-Ton 11 Benkel (14:08)

Standardbeispiel ist, dass Grabstätten die Persönlichkeit der Verstorbenen widerspiegeln. 14:33 Und das Individuum rückt also in den Mittelpunkt und die kulturellen, religiösen, politischen Aspekte, die also sozusagen auf der Kollektiv-Ebene stattfinden, die werden nebensächlich, also vor allem die Religion wird nebensächlich. Und dann sehen diese Gräber teilweise sehr profan, sehr eigenwillig, sehr bunt, teilweise ungewöhnliche, Auswahl, Hobbys in den Vordergrund rücken,  Vereinszugehörigkeiten, teilweise sogar Fußballvereine, Musikgeschmack und so weiter. Und wir haben am Anfang gedacht: Mensch, das ist ja schräg. Aber haben dann halt in ganz Deutschland, in ganz Österreich, in der ganzen Schweiz vergleichende Studien angestellt. Wir waren auf fast 1.300 Friedhöfen, und wir können sagen, das ist ein allgemeiner Trend seit ungefähr 25 Jahren. Dass eben diese Gräber diese Persönlichkeits-Bilanz ziehen.

MUSIK 7  101 „Six feet under“; ZEIT: 00:40

ZITATORIN 

„Nur tiefergelegt“

SPRECHER

Oder:

ZITATORIN

„Mit dir zu leben war nicht leicht, doch ohne dich ist’s noch viel schwerer.“

SPRECHER

„Nicht das Licht auslöschen“

ZITATORIN

„Dein letztes Match hast du verloren“

SPRECHER

„Er war guter Eltern Sohn“

ZITATORIN

„Sie war zu gutgläubig, um zu überleben“

SPRECHER

„Hier liegt meine Dicke“

ZITATORIN

„Es Lebbe geht weiter“

SPRECHER

„Alles Scheiße“

ZITATORIN

„Ich wollte für meine Familie das Beste, habe es aber nicht erreicht“

SPRECHER 

„Wanderer zieh schnell vorbei, sonst steht sie auf und babbelt wieder“

ZITATORIN

„Das war alles.“

MUSIK ENDE

SPRECHERIN

Grabinschriften von heute. Statt Kreuzen oder Engeln auf den Grabsteinen von heute: Comicfiguren, Computermäuse, Brillen, Bettgestelle, Aschenbecher, Skateboards… Auf Tausenden von Fotos haben Thorsten Benkel und Matthias Meitzler die Entdeckungen ihrer Friedhofsrecherchen in zwei Büchern festgehalten.

ZITATORIN

„Gestatten Sie, dass ich liegen bleibe: Ungewöhnliche Grabsteine - Eine Reise über die Friedhöfe von heute“.

SPRECHERIN

Und:

ZITATORIN

„Game Over: Neue ungewöhnliche Grabsteine“.

O-Ton 12 Meitzler (11:50)

Man kann vielleicht sagen: Der Friedhof hat sein Monopol verloren. Es gibt halt nicht mehr den Volksfriedhof für jedermann, sondern er ist eine Option unter mehreren. Er gerät unter Innovationsdruck.

SPRECHER

Welches Grab und welche Art von Bestattungsritual ist das richtige?

ZITATORIN

Erdbestattung? Urnenbestattung? Mit Priester? Ohne? Dafür professioneller Trauerredner? Katholisch? Muslimisch? Nicht religiös? Oder gar evangelisch? 

O-Ton Meitzler 13 (07:27)

Wir können mittlerweile wählen, ob wir überhaupt auf dem Friedhof beigesetzt werden wollen und wenn ja, welches Grab, welche Grabart da am besten passt, also wir werden konfrontiert mit einer großen Pluralität.

MUSIK 7  „Six feet under“; ZEIT: 00:30

ZITATORIN

Erdbestattung?

SPRECHER

Feuerbestattung?

ZITATORIN

Seebestattung?

SPRECHER

Almwiesenbestattung …

ZITATORIN

Steinbestattung…

SPRECHER

Forstbestattung…

ZITATORIN

Rosenstockbestattung…

SPRECHER

Bergbachbestattung…

ZITATORIN

Flugbestattung…

SPRECHER

Weltraumbestattung…

ZITATORIN

Oder Diamantbestattung – individuell und exklusiv. Ein Edelstein, gefertigt aus einem Bruchteil der Asche des Verstorbenen.

MUSIK ENDE

SPRECHERIN

Die Kulturgeschichte des Friedhofs hat Orte hervorgebracht, wo man sich auch nach dem Tod zuhause fühlen kann: Venedig – San Michele… Paris - Montmartre, Père Lachaise… oder Wien - es lebe der Zentralfriedhof und alle seinen Toten.

MUSIK 8  „Wien, Wien nur du allein“; ZEIT: 01:10

SPRECHER

Wien, wo man sich gerne schon zu Lebzeiten Namen und Geburtsdatum auf dem Stein des Familiengrabes eingravieren lässt. Allein der Zentralfriedhof präsentiert 950 Ehrengräber. 

SPRECHERIN

Unter dem Stephansdom: Wiens unterirdische Hauptstadt Nekropolis mit Beinhäusern voller Schädel. Die Habsburger Pracht der Trauer ist Wiener Tradition. 

SPRECHER

Begräbnis und letzte Ruhestätte: Kaum irgendwo sonst in Mitteleuropa wurden Begräbnisse so pompös inszeniert wie in Wien. 

SPRECHERIN

Schon 1867 boten die ersten gewerblichen Bestattungsunternehmen in Wien ihre Dienste an. Denn die meisten Wiener hatten den Wunsch, sich ein letztes Mal kaiserlich groß in Szene zu setzen und griffen dafür tief in die Tasche. Etwa für einen mondänen Leichenzug – mit Kutsche, Reitern und Trauerpersonal in Galauniform. 

MUSIK ENDE

SPRECHER

Repräsentation: Die „schöne Leich“, die prächtige Trauerzeremonie - ein soziokulturelles Phänomen: ein Kompensator, der den Tod erträglicher macht. In Wien nicht anders als das Elitegrab des frühgeschichtlichen Häuptlings, das Prunkgrab des römischen Patriziers an der Via Apia, das Mausoleum des Modeschöpfer Rudolph Moshammer auf dem Münchner Ostfriedhof oder die über 146 Meter hohe Pyramide von Gizeh des Pharaos Cheops.

SPRECHERIN

Repräsentation oder nicht doch vielmehr der Wunsch nach etwas da bleibt - Ausdruck des ungebrochenen menschlichen Wunsches nach Unsterblichkeit. 

O-Ton 14 Benkel (29:17)

Also wir haben entweder: das eine Extrem ist das klassische Grab mit allem Drum und Dran, wohin man regelmäßig geht. Das andere Extrem ist: überhaupt kein Raum mehr. Und eigentlich spielt sich Trauer zwischen diesen beiden Polen ab.

SPRRECHER

Die Geschichte des Friedhofs endet sie im virtuellen Raum? Der Thanatologe Dr. Thorsten Benkel:

O-Ton 15 Benkel (28:03)

Was wir auch stark untersucht haben, immer noch untersuchen ist: Trauer im Internet. Da haben Sie natürlich keinen fixen geografischen Ort mehr, sondern eine virtuelle Verräumlichung. Und das ist absolut ein Zukunftsfeld. 

MUSIK 9  “ Solar sailer“; ZEIT: 01:15

ZITATORIN

Werden Sie einfach unsterblich!

SPRECHERIN 

Verstorbene, die als Avatare auferstehen. Der Skype-Chat von damals, das hochgeladene Video aus der Vergangenheit, aus all den digitalen Spuren können komplexe Algorithmen eine virtuelle Persönlichkeit, einen Avatar, erschaffen.

ZITATORIN

Eine Sicherheitskopie des eigenen Charakters…

SPRECHER

Mit der Hinterbliebene dann interagieren können. 

ZITATORIN

Ein Interface fĂĽr den Zugang zu Erinnerungen

SPRECHERIN

Der Orts des Gedenkens: Überall – bei WLAN-Empfang. Oder man benutzt einfach sein eigenes Gedächtnis – zum Angedenken.

O-Ton 16 Meitzler (25:27)

Und entscheidend ist eben dass - was wir eben auch als Individualisierung begreifen - dass ich als Trauernder oder vielleicht auch als Sterbender, irgendwann das Gefühl bekomme: Ich kann es selber entscheiden. Ich kann selbst entscheiden, wieviel der traditionellen Rituale und Bezüge möchte ich überhaupt? Möchte ich überhaupt irgendetwas an den Traditionen noch bewahren? Oder zieht es mich vielleicht in andere Richtungen?


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