Alles von vorne bis hinten durchzuplanen, ohne Pannen und böse Überraschungen: für manche eine schöne und vor allem beruhigende Vorstellung. Doch leider funktioniert das Leben oft so nicht. Vieles kommt anders, als man denkt. Und dann ist es von Vorteil, wenn man die Kunst der Improvisation beherrscht. Von Karin Lamsfuß
Alles von vorne bis hinten durchzuplanen, ohne Pannen und böse Überraschungen: für manche eine schöne und vor allem beruhigende Vorstellung. Doch leider funktioniert das Leben oft so nicht. Vieles kommt anders, als man denkt. Und dann ist es von Vorteil, wenn man die Kunst der Improvisation beherrscht. Von Karin Lamsfuß
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Friedrich Schloffer, Irina Wanka
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Georg Bertram, Philosoph FU Berlin
Andreas Wolf, Gründer und Leiter des Impro-Ensembles fastfood-theater
Carsten Alex, Aussteiger und Coach
Ines Klose, Unternehmerin
Ralf Promper, Leiter der Obdachloseneinrichtung SKM
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Linktipps:
Georg Bertram; Michael Rüsenberg: Improvisieren! Lob der Ungewissheit, Reclam Verlag, 2021
Andreas Wolf: Spontan sein. Improvisation als Lebenskunst. ComTeammedia, 2013
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-Ton 1 Carsten Alex (0‘03“)
Die Zutaten waren in jedem Fall mal keinen Plan zu haben.
O-Ton 2 Carsten Alex (0‘04“)
Wir hatten also nur ein One-Way-Ticket: Stuttgart-Mailand-Mailand-Bombay…
O-Ton 3 Carsten Alex (0‘05“)
Es gab keine feste Planung, es gab auch keinen definierten Zeitpunkt, an dem ich wieder zurückkehren wollte.
O-Ton 4 Carsten Alex (0‘08“)
Das war wirklich von null auf tausend. Ich brauchte auch erst mal Zeit, um in diese Reise hineinzukommen. In dieses Planlose, in dieses Gelassene.
O-Ton 5 Andreas Wolf (0‘10“):
Und das hat viel mit Improvisation zu tun, nämlich das Loslassen. Ein guter Improvisateur kann loslassen, der schlechte Improvisateur - in Anführungsstrichen - kontrolliert.
Musik weg
Sprecher:
Ungeplant, spontan, kreativ, ohne Struktur, aus dem Moment heraus – all das sind Merkmale der Improvisation: Wenn die Präsentation auf dem Rechner plötzlich zerschossen ist, wenn das Kind auf der langen Autofahrt nölig wird, wenn das Gepäck auf dem Flug verloren geht, wenn plötzlich Gäste kommen und der Kühlschrank gähnend leer ist – das sind nur wenige Beispiele für die unzähligen Herausforderungen im Leben, in denen Improvisation gefordert ist.
Sprecherin:
Improvisation ist ziemlich anspruchsvoll, sagt Andreas Wolf, Gründer des Münchner Impro-Theater-Ensemble „fastfood-Theater“. Denn es geht dabei gleich um mehrere Dinge: Kontrolle abgeben. Bekannte Strukturen verlassen. Mut aufbringen. Und Gelassenheit:
O-Ton 6 Andreas Wolf: (0‘16“)
Also Gelassenheit heißt: getragen werden. Schwimmen lerne ich ja, indem ich vertraue, dass ich oben schwimme. Ich muss gar nicht viel machen, aber ich brauche das Vertrauen. Weil wenn ich strampele aus Angst, gehe ich runter und das ist ja dieses Vertrauen in das Leben.
Musik, dann darüber:
Sprecherin:
Vertrauen ins Leben. Mut zur Ungewissheit, Mut zur Improvisation. Das war Carsten Alex nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Zunächst ergriff er einen Beruf, der für das genaue Gegenteil steht: klare Regeln, Struktur, Vorhersehbarkeit. Carsten Alex war Schalterbeamter bei der Post.
Irgendwann fühlte ich die klassische Beamtenlaufplan zu eng an. Er studierte BWL, machte danach Karriere bei einem großen Automobilhersteller. Mit 32 hatte er (alles) : Geld, Macht und Einfluss. Und trotzdem rumorte es weiter in ihm. So dass er eines Tages den Sprung ins kalte Wasser wagte.
O-Ton 7 Carsten Alex (0‘14“):
Gekündigt, Hab und Gut verkauft, meine sehr persönlichen Dinge hab ich eingelagert, und dann bin ich mit einem Rucksack gestartet. Also ich hab mein vorher sehr Konsum- und Material-orientiertes Leben von jetzt auf gleich verändert.
Sprecherin:
20 Monate war Carsten Alex unterwegs. Gemeinsam mit einem Freund. Mongolei, China, Nepal, Indien, China, Loas, Kambodscha. Später Südamerika. Sie ließen sich treiben. Planten maximal bis zum nächsten Tag.
O-Ton 8 Carsten Alex (0‘30“)
Gerade das Berufsleben in der Gegenwart erfordert ja ne hohe Zielstrebigkeit, ne hohe Präzision, durchaus auch Planung. Und mal festzustellen, dass das Leben mal ne ganz andere Qualität erreichen kann wenn die Dinge nicht so durchgeplant sind, dass ich Menschen eine Chance gebe, dass ich Begegnungen und Zufällen eine Chance geben kann und nicht immer von dem einen zum nächsten Termin hetzen muss. Und ich habe neun Monate gebraucht um die lange-Weile genießen zu können.
Sprecherin:
20 Monate lang Improvisation, 20 Monate Leben aus dem Moment heraus. Oft wussten er und sein Freund nicht, wo sie die nächste Nacht verbringen würden. Es gab dauernd unerwartete Situationen. Beispiel: Bangladesch. Generalstreik, begleitet von Straßenkrawallen. Nichts ging mehr.
O-Ton 9 Carsten Alex (0‘24“)
In Bangladesch hatten mich hatten mich vier junge Burschen gefragt, ob ich nicht bei ihnen wohnen möchte. Und ich war verdutzt: „Wie? Wo?“ „Ja, bei meiner Familie!“ Und hab zwei Sekunden nachgedacht und hab gesagt „Ich mache es!“ Und diese fünf Tage in einem muslimischen Haushalt zu erleben und dort Gast zu sein, das hat mich sehr stark berührt. Und in meiner verkopften Welt hier wäre ich dem so nicht nachgegangen!
Musikzäsur
Sprecher:
Das Wort „Improvisation“ wird in mehreren Zusammenhängen benutzt: Erstens: Handeln aus dem Moment heraus, ohne Vorbereitung, aus dem Stehgreif. Zweitens: Spontane Lösungen für unvorhersehbare Probleme finden. Drittens: Kreativer Umgang mit dem Mangel. Also aus „nichts“ etwas zaubern.
Zurück geht das Wort auf das Italienische „all improvviso“. Plötzlich. Abrupt. Unerwartet. Ist Improvisieren also ein relativ neues Phänomen? Schließlich hat die italienische Sprache in ihrer heutigen Form ihren Ursprung im 14. Jahrhundert.
Sprecherin:
Nein, sagt der Philosoph Prof. Georg Bertram, der das Buch „Improvisieren – Lob der Ungewissheit“ geschrieben hat. Er sagt: Improvisieren gehörte schon immer zum Menschsein dazu.
O-Ton 10 Georg Bertram (0‘21“):
Denken wir an Heraklits berühmtes „Alles fließt“. D.h. wenn alles fließt, wenn alles nicht fest ist, heißt das, dass wir im Grunde uns darauf einstellen können, dass das unsere wesentlichen Fähigkeiten sind, auf das sich stets Verändernde zu reagieren. D.h. wir, die wir im Fluss sind oder wo auch immer, sind stets mit sich verändernden Realitäten konfrontiert.
Musikzäsur
Sprecher:
Auch wenn es dem einen leichter und der anderen schwerer fällt: Jeder Mensch muss im Alltag improvisieren. Keiner kommt ohne diese Fähigkeit durch Leben.
Sprecherin:
Es beginnt, so Georg Bertram, bereits in jedem halbwegs anspruchsvollen Gespräch, das über den einfachen Small-Talk herausgeht.
O-Ton 11 Georg Bertram (0‘24“)
Denken wir an einen Beziehungskonflikt. Wenn ich mit dem Partner der Partnerin über irgendwas, was im Argen liegt, beginne ernsthaft zu streiten, ist ganz klar, dass ich nicht weiß, was sie vorbringen wird, was er vorbringen wird, und darauf reagieren zu können. Und zwar auf ne angemessene Art und Weise reagieren zu können. Wenn im Grunde ich mir so ein paar Schema-Antworten zurechtlege, wird das Gespräch notwendigerweise schief gehen. Weil die Schema-Antworten nicht passen.
Sprecherin:
Andreas Wolf sagt: Zur Improvisation braucht man Neugier, Offenheit und Mut. Der Impro-Theater-Gründer lehrt das auch in Workshops für Menschen, die lernen möchten, beruflich oder privat besser und leichter zu improvisieren.
Eine einfache Übung, die auch jeder zuhause nachmachen kann, sind Wortspiele:
O-Ton 12 Andreas Wolf (0‘15“)
Die Vorgabe ist: Ich stehe mit meinem Partner in der Küche und soll Spaghetti kochen. Dann sage ich „Wir“, sagt der andere „gehen“, sage ich „zum Schrank und öffnen die Schublade“
Sprecherin:
So weit so gut. Und dann kommt eine Störung. So wie das Hindernis im richtigen Leben. Das Gegenüber wirft das – zunächst unsinnig klingende - Wort „Oper“ ein.
O-Ton 13 Andreas Wolf (0‘29“)
Okay, gut. Wir gehen zur Oper. Und dann suche ich vielleicht in der Oper eine Location, ein Restaurant, das Opernrestaurant und gehe dort in die Küche und fang dort in der Opernküche an zu kochen. Vielleicht in der Kantine von der Oper, vielleicht im Restaurant, von der Oper. Oder vielleicht stehe ich auf der Bühne, dass wie es halt kommt. Ich versuche immer, alles ganz in die Aufgabe zu integrieren, nämlich zum Beispiel in der Küche irgendwas zu kochen, Spaghetti zu kochen. Jetzt bin ich in der Oper gelandet. Gut, wir kochen Spaghetti auf der Bühne und singen dabei „O sole mio“.
Ggf. hier „o sole mio“ , falls das nicht zu platt ist.
Sprecher:
Improvisation ist wie ein Tanz: der eine sagt etwas, die andere reagiert. Die eine tut etwas, der Andere nimmt den Impuls auf. Im Impro-Workshop in Wortspielen, im Leben in einem kreativen Gedankenaustausch.
Sprecherin:
Improvisation ist nichts, was im luftleeren Raum stattfindet, sondern ist oft das Ergebnis einen guten und verbundenen Miteianders, so der Philosoph Georg Bertram: In der Musik, im Tanz, beim Impro-Theater, bei Mannschaftssport, im konstruktiven Dialog: Immer ist es wichtig, auf die Töne des anderen zu hören.
O-Ton 14 Georg Bertram (0‘40“)
Zu dem falschen Bild von Improvisation gehört aus meiner Sicht, das wir denken: Das Improvisieren geht wesentlich aus einer isolierten Reaktion aus irgendwas, womit wir konfrontiert sind, hervor; und ich glaube, das richtige Bild ist, dass wir im Grunde jede Reaktion im Improvisieren als einen Impuls für weitere Reaktionen zu verstehen haben. So dass es gar nicht um ein einfaches Reagieren, sondern um ein Verbundensein von Reaktionen geht. Und das heißt, dass das Improvisieren ein soziales Moment hat, d.h. dass Improvisieren wesentlich dieses Sich-Konfrontieren mit einer Perspektive und mit Impulsen, die von anderen ausgehen, bedeutet. Und dass in diesem Sinne improvisatorische Fähigkeiten hochsoziale Fähigkeiten sind.
Musikzäsur geht über in Küchenatmo, dann darüber
Sprecherin:
Berge von Zucchini, Paprika, Aubergine, Staudensellerie, Rote Rübe, Pastinake türmen sich auf den Arbeitsflächen der Großküche. Der Duft von frisch gehackter Petersilie, Minze, Basilikum und Thymian wabert durch die Luft
O-Ton 15 Ines Klose (0‘22“)“
Die kochen hier freitags immer das ganze Gemüse weg, damit die Kräuter nicht weggeworfen werden müssen, was kriegen wir eigentlich heute? Koch: Eine Gemüsepfanne. Eine mediterrane Gemüsepfanne. Mit viel frischen Kräutern. Und dazu gibt’s nen Bulgur.“ Und da haben wir ein paar Kirschtomaten… (O-Ton geht weiter)
Darüber Sprecherin:
Ines Klose ist eine wahre Improvisationskünstlerin. Sie hat mit Ihrem Catering-Unternehmen das geschafft, wovon alle sagen: Das kann nicht klappen! Sie kocht gesunde und vollwertige Kita- und Schulverpflegung zu einem Verkaufspreis um die drei Euro. Dafür muss sie an allen Ecken und Enden improvisieren: die Brühen sind selbst gemacht, das Brot selbst gebacken, sämtliche Reste werden verwertet, sie verzichtet grundsätzlich auf Convenience-Produkte. Kein Zucker, keine Geschmacksverstärker. Die Kinder, die bis dato vor allem auf Junk Food standen, mussten mit viel Kreativität überzeugt werden von der gesunden Vollwert-Küche.
O-Ton 16 Ines Klose (0‘19“)
Es war nicht einfach. Die Kinder schrien gerade in den sozialen Brennpunkten nach Fritten, Hotdogs, Hamburger, Döner, jooo… wir sind ihnen manchmal so ein bisschen entgegengekommen, nicht indem wir uns verraten haben, sondern dass ich versucht habe, aus unseren Gewürzen den Geschmack genauso herzustellen, wie er im Grunde genommen dann eigentlich auch an der Frittenbude zu erhalten ist!
Sprecherin: Es erforderte viel Kreativität und Improvisationskunst den massiven Widerständen zu begegnen.
O-Ton 17 Ines Klose (0‘19“)
Oder wenn sie schreien „die Linsensuppe, die wollen wir nie wieder haben!“, dann gehe ich da hin: Wie machen wir das denn? Und dann nehmen wir vier Kinder, die, die am lautesten geschriene haben „Die Linsensuppe wollen wir nicht!“ und dann koche ich mit den vier Kindern Linsensuppe für die komplette Schule, und dann sind die so stolz, und es schmeckt ihnen, und dann mag die ganze Schule auf einmal Linsensuppe!
Sprecherin:
Heute hat Ines Klose 14 festangestellte Mitarbeiter und kocht mit ihrem Team 2.000 Schulessen am Tag.
Musikzent:
Sprecher:
Um die Ecke denken, neue Wege gehen. Kreativ werden, wenn sich Hindernisse in den Weg stellen. Das ist die hohe Kunst der Improvisation.
O-Ton 18 Andreas Wolf (0‘22“)
Also wir haben ja so eine Linearität in unserem Handeln drin und in diese Linearität, von der wir glauben, dass sie einen bestimmten Weg hat, kommt ein Hindernis. Man hat was anderes geplant. Und der Umgang damit und die Leichtigkeit, mit der ich das hinbekomme, ist halt die Kunst der Improvisation. In dem Moment, wie ich trotzdem zu meinem Punkt B komme und gehe mit dem, was mir da in den Weg kommt, leicht um.
Sprecherin:
Ines Klose gibt kostenlose Kochkurse für Kinder und Jugendliche, wirbt auf Elternabenden mit ihrer gesunden Vollwertküche. Zwölf Jahre Improvisationskunst. Niemand glaubte an ihre Idee. Einen Gründungskredit gab es nicht. Anfangs habe sie dabei draufgezahlt, erzählt sie.
O-Ton 19 Ines Klose (0‘11“)
Ich habe die Firma aufgebaut mit nichts, ich weiß sogar, was es heißt, manchmal etwas zu wenig zu essen zu haben. Aber wenn man so was erlebt, dann weiß man auch, wie es geht: Wie man aus Nichts was kocht!
Musikzent
Sprecher:
Aus nichts etwas zaubern: Das ist ein weiterer Aspekt der Improvisation. Heute, wo wir fast alles im Overnight-Service bestellen können, ist diese Fähigkeit kaum noch gefordert. Früher aber, in Zeiten des Mangels, der Knappheit und der Armut war Improvisationskunst überlebens-notwendig.
Über Musik
Sprecher:
„Arme Ritter“ aus altbackenen in Rahm und Eiern eingeweichte Brötchen. Oder Brotsuppe. Das sind Gerichte, die im Mangel entstanden sind. Aus Resten, die vielleicht noch in der Vorratskammer zusammengekratzt wurden. Und weil es keine Kühlschränke gab, wurde fermentiert oder geräuchert. Oder Lebensmittel im natürlichen Erdkühlschrank durch den Winter gebracht. Musik weg
Sprecher:
Was damals aus der Not heraus improvisiert wurde, ist heute Bestandteil einer wiederentdeckten Kultur. Die alten Techniken finden immer mehr Anhänger.
Sprecherin:
Der Philosoph Georg Bertram betont jedoch: Improvisation funktioniert nie aus einer Art Nullzustand heraus. Sondern sie greift immer zurück auf Fähigkeiten, die der- oder diejenige zuvor bereits erworben hat:
O-Ton 20 Georg Bertram (0‘17“)
D.h. ich muss mir Fähigkeiten angeeignet haben zu reagieren, überhaupt praktisch tätig zu sein. Und in diesem Moment auch zu nutzen. Ich muss aber auch Fähigkeiten haben, so einen Moment zu erkennen. Und insofern würde ich sagen: Das Improvisieren ist bei Lichte gesehen etwas, das eine hohe kulturelle Errungenschaft darstellt.
Sprecher:
Analogien bilden. Um die Ecke denken. Dinge miteinander kombinieren, die bislang noch nichts miteinander zu tun hatten. Den Geist weiten.
All das kann man lernen – etwa in Impro-Theater Workshops. Man kann aber bereits bei Kindern diese Fähigkeit fördern, so Andreas Wolf vom Impro-Theater fastfood. Oder eben schon früh im Keim ersticken:
O-Ton 21 Andreas Wolf (0‘32“)
Man kann den Kindern fertige Dinge geben, also Dinge, wo sie ihre Fantasie nicht mehr benutzen müssen. Man könnte aber auch denen einen Legostein hinsetzen, dann baue ich mir was und dann fange ich an meine Fantasie, meine Welt hinein zu leben. Und das ist natürlich, da kommt Poesie natürlich ins Spiel. Und auch der Aspekt der Schönheit und Ästhetik, finde ich.
[[ Und das ist etwas, was man Kindern leider über die Art zu konsumieren oft vorenthält in dieser Welt. Dass sie über wenig oder offene Dinge, mit denen sie spielen, ihre Fantasie entwickeln können.]]
Musikzäsur
Sprecher:
Die Anlage zur Improvisation hat im Prinzip jeder. Es geht nur darum, diese Fähigkeit einzuüben, zu stärken und sie sich überhaupt zuzutrauen. Wer nicht alles durchplant, sondern Leerstellen im Alltag lässt, mal andere Wege geht, neue Dinge ausprobiert, phantasievoll rumspinnt und tagträumt, ebnet den Weg dorthin.
Möglicherweise ist das eine gute Vorbereitung, der schweren Krisen umzugehen. Mit Ausnahmesituationen, für die es keine Blaupause gibt:
Sprecherin:
In der Corona-Pandemie wurde die Improvisationskunst der Menschen weltweit auf eine , harte Probe gestellt. Niemand konnte auf eingespielte Abläufe zurückgreifen. In Kliniken, Altenheimen, Unternehmen, Schulen, Familien… fast überall wurde zwangsweise improvisiert.
Atmo Bahnhofsvorplatz
Sprecherin:
Frühjahr 2020. Der erste Lockdown. „Stay home“ ,. Die Leute sollten zuhause bleiben. Doch was, wenn man gar kein Zuhause hat? Für die Obdachlosen war der Lockdown eine existenzielle Herausforderung. Irgendwie hatte man sie vergessen… In den menschenleeren Innenstädten konnten sie weder Flaschensammeln, noch einen Euro erbetteln. Alle Hilfseinrichtungen waren geschlossen. Für die Obdachlosenhilfe des SKM, den Sozialdienst katholischer Männer, hieß das: , Man mute sich etwas Neues einfallen lassen. Im großen Stil improvisieren.
Atmo Bahnhofsvorplatz noch mal hoch
Sprecherin:
Der SKM verlagerte sein Hilfsangebot spontan ins Freie, auf den Bahnhofsvorplatz. Stellte dort ein paar Duschzelte auf, baute eine ellenlange Tafel auf und verteilte während des Lockdowns insgesamt 16.000 Lunchpakete. Kamen vorher täglich 40 Obdachlose zum Essen, waren es plötzlich 400 – weil alles geschlossen war. In der Not öffneten sich neue Türen: In dieser Zeit passierte vieles, so erinnerte sich der Leiter Ralf Promper, was zuvor undenkbar gewesen wäre.
O-Ton 22 Ralf Promper (0‘10“)
Nebenan hatten wir ein Hotel, die mussten zumachen. Die hatten Lebensmittel übrig. Und dann kam die Frage „Was braucht ihr denn noch?“ Und die Passanten kamen dann mit dem Fahrrad, mit dem Auto und haben die Sachen dann vorbeigebracht.
Sprecherin:
Die lange Schlange aus 400 Menschen machte die Not sichtbar, die vorher mehr im Verborgenen stattgefunden hatte. . Das löste bei vielen Passanten den spontanen Wunsch aus, mitzuhelfen.
O-Ton 23 Ralf Promper (0‘18“):
Ganz viele Leute, die ihren eigenen Beruf nicht ausüben konnten: Lehrerinnen, Lehrer, Leute von der Oper, die wollten was Sinnvolles tun und haben dann einfach bei der Lebensmittelverteilung und bei der Kaffeeausgabe mitgeholfen, und das sind Leute: Gleich, wenn wir wieder öffnen, da ist auch jemand, der ist hängen geblieben.
[[ Atmo Kontaktstelle
Sprecherin:
Zu den „Hängengebliebenen“ gehört Laura, eine 30jährige Sozialarbeiterin. Sie wurde während Corona arbeitslos, musste sich etwas einfallen lassen und half bei der Obdachlosenhilfe mit. Obwohl sie heute wieder einen Job hat, kommt sie nach wie vor stundenweise vorbei:
O-Ton 24 Laura (0‘28“)
Mir persönlich macht das deshalb so viel Freude, weil ich es wichtig finde zu sehen, dass viele Leute viel Pech hatten und deswegen in einer Situation sind, die für mich so auch nicht nachvollziehbar ist, und zu sehen, dass ich mit so wenig – mit Freundlichkeit, mit Strahlen in den Augen, mit Respekt und Gesprächen auf Augenhöhe viel geben kann, dass die Leute das dankbar annehmen, dass sie sich freuen, dass man mit ihnen spricht, ohne Vorurteile.]]
Sprecher:
Viele gute Ideen wurden damals aus der Not geboren. Die Pandemie setzte ungeahnte Potentiale frei: an spontaner und kreativer Improvisation. Klar ist: Es wurden schwerwiegende Fehler gemacht. Alte Menschen sind einsam auf Intensivstationen gestorben, Kinder durften monatelang nicht in die Schule, Ungeimpfte wurden unter Druck gesetzt. Es gibt zahlreiche Punkte, die heute scharf kritisiert werden.
Musikakzent
Sprecher:
Das ist die Schattenseite der Improvisation. Sie kann schief gehen. Man kann scheitern beim Sprung ins kalte Wasser.
Sprecherin:
Das, so Andreas Wolf, Leiter des Impro-Theater-Ensembles fastfood, sei die größte Herausforderung. Und gleichzeitig auch die größte Angst derer, die seine Impro-Workshops besuchen.
O-Ton 25 Andreas Wolf (0‘35“)
Angst ist ja das ganz, ganz große Hindernis, die Angst zu scheitern. Und das ist etwas, was ich in – weiß nicht - Tausenden von Kursen ständig bemerke, dass die Prägung, die wir in unserer Kultur haben, die Schulprägung, wo es nur um falsch und richtig geht, dass die die Menschen wirklich aus ihrer, aus ihrem Potenzial nimmt. dann bleibt sofort der Atem stehen, die Leute kriegen Schreck, und da ist die Angst, da ist die Angst zu scheitern. Das ist wirklich tief sitzend und das Umzupolen ist wirklich ein langer Weg.
Musikakzent
Sprecherin:
Auch bei Carsten Alex, der 20 Monate lang ohne Plan durch die Welt gereist ist, lief nicht alles rund. Seine Spontaneität, seine Offenheit wurde an manchen Stellen zur Blauäugigkeit.
O-Ton26 Carsten Alex (0‘29“)
Ne weniger schöne Situation – es war ja nicht alles nur himmelblau und rosa: als ich seinerzeit in Mexiko-City war, bin ich einem Trickbetrüger aufgesessen, der mir glaubhaft versicherte, dass er gerade überfallen worden wäre, und ich in meiner unendlichen Seligkeit und hab dem Mann dann tausend Dollar geliehen, damit er seinen Notfall löst. Ich hab nicht eine Minute drüber nachgedacht, dass das eventuell gefakt sein könnte. ((Und die tausend Dollar hab ich dann abschreiben dürfen. ))
Sprecherin:
Trotz alledem will er sein improvisiertes Abenteuer um nichts auf der Welt missen. Die Zeit hat eine tiefe Prägung hinterlassen: Obwohl er nach seiner Rückkehr wieder bei dem Automobilhersteller anfing, hat er kurz darauf seinen Job geschmissen. Er kam mit den festen Strukturen nicht mehr klar und arbeitet heute freiberuflich als Autor und Trainer.
Musikzäsur
Sprecherin:
Für Andreas Wolf ist Improvisation keine Verlegenheitslösung, sondern eine Lebenskunst. So heißt auch sein gleichnamiges Buch. Er möchte Menschen Mut machen, Strukturen zu verlassen, den Moment zu „packen“ mit seinen Chancen. Und dabei das Funktionale ab und an mal über Bord zu werfen. Frei nach dem Motto:
Sprecher:
Leben ist das, was passiert, während man Pläne macht!
O-Ton 27 Andreas Wolf (über Musik) (0‘21“)
Da komme ich aber nur hin, wenn ich selber beweglich bin. Es ist ja eben auch eine Lebenskunst. Und in der Kunst steckt ja auch immer etwas, was mit Schönheit zu tun hat. Es geht darum, die Schönheit in der Partnerschaft, in der Kommunikation, in der Beziehung zu entdecken, in der Kooperation. Dann kommt auch die Großzügigkeit dazu. Und erst in diesem Fall wird der Geist weit.
Musik noch mal hoch
O-Ton 28 Andreas Wolf (0‘23“):
Am Ende sage ich auch immer: Wann bin ich authentisch? Wenn ich spontan reagiere, weil dann reagiere ich aus mir heraus. Dann verstelle ich mich nicht. Wenn ich spontan bin, verstelle ich mich nicht. Und was lieben die Menschen mehr als einen spontanen Menschen? Die anderen mögen das. Wir mögen es auch, wenn jemand spontan ist und so, wie er ist, weil wir dann sofort einen Zugang haben. So ist er oder sie genau so! Da ist keine Verstellung! Und da komme ich bei mir selber an!