Abakus, Rechenschieber, Taschenrechner: Schon lange nutzt der Mensch Hilfsmittel, um nicht alles im Kopf ausrechnen zu müssen. Solche Rechenhelfer hatte man früher aber nicht immer dabei. Heute greifen wir selbst für simple Aufgaben zur Smartphone-App. Wie wirkt sich das auf unsere Fähigkeiten aus? Von David Globig.
Abakus, Rechenschieber, Taschenrechner: Schon lange nutzt der Mensch Hilfsmittel, um nicht alles im Kopf ausrechnen zu müssen. Solche Rechenhelfer hatte man früher aber nicht immer dabei. Heute greifen wir selbst für simple Aufgaben zur Smartphone-App. Wie wirkt sich das auf unsere Fähigkeiten aus? Von David Globig.
Credits
Autor dieser Folge: David Globig
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Heiko Ruprecht, Katja Schild, Clemens Nicol
Technik:
Redaktion: Hellmuth Nordwig
Im Interview:
Daniel Timms, Kopfrechen-Trainer
Dr. Christina Artemenko, Fachbereich Psychologie, Universität Tübingen
Prof. Hans-Christoph Nürk, Diagnostik und kognitive Neuropsychologie, Universität Tübingen
Dr. Gert Mittring, Psychologe und Kopfrechen-Weltrekordler
Prof. Stefan Ufer, Didaktik der Mathematik und Informatik, Ludwig-Maximilians-Universität München
Caroline Merkel, Organisatorin der Junioren Kopfrechen-WM
Niklas Arndt, Schüler
Willem Bouman, Kopfrechen-Künstler
Junioren Kopfrechen-Weltmeisterschaft HIER
Arbeitsbereiche Diagnostik und Kognitive Neuropsychologie der Universität Tübingen HIER
Internetseite von Gesprächspartner Daniel Timms HIER
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
01 ZUSP Atmo Timms, darüber:
SPRECHER:
Ein Klassenzimmer in einem Bielefelder Gymnasium. An diesem Sonntag sind die Räume ausnahmsweise nicht leer: Gut 80 Kinder und Jugendliche sind aus aller Welt gekommen, um sich auf die Junioren-Kopfrechen-Weltmeisterschaft vorzubereiten. Dazu gibt es Workshops, und einen davon leitet der Kopfrechen-Trainer Daniel Timms [englische Aussprache]. Aufmerksam hört ihm eine Gruppe von Jugendlichen zu. Gerade erzählt Timms etwas zu den Überraschungs-Aufgaben, für die es am nächsten Tag im eigentlichen Wettbewerb Sonderpunkte geben wird.
(MUSIK unter den letzten Worten ausgeblendet)
Atmo Timms kurz hoch, darüber:
SPRECHER:
Innerhalb von zwei Stunden sollen die Jugendlichen hunderte von Aufgaben lösen. Ausschließlich im Kopf. Einen Stift dürfen sie nur benutzen, um die Ergebnisse aufzuschreiben – keine Zwischenschritte. Die Aufgaben sind anspruchsvoll: Ziehe die Kubikwurzel aus einer zwölfstelligen Zahl. Oder zerlege eine neunstellige Zahl in ihre Primfaktoren. Rechne aus, in welchen Monaten des Jahres 2078 der 18. auf einen Montag fällt.
Natürlich braucht man so etwas nicht im Alltag. Doch auf nicht ganz so hohem Niveau ist Kopfrechnen auch im täglichen Leben nützlich, betont Daniel Timms [englische Aussprache].
02 ZUSP Timms:
"For most people the most practical thing...
Voiceover:
Für die meisten Menschen ist das Praktischste daran, dass sie etwa ihre Zeitplanung im Kopf machen können. Oder dass sie die Größenordnung von Zahlen verstehen. Wissen Sie zum Beispiel, was 1 Million geteilt durch vier ist? Viele Menschen wissen vielleicht noch, dass bei der Antwort 25 eine Rolle spielt. Aber ist die Antwort 25.000? Nein, es sind 250.000. Und das ist keine schwierige Kopfrechnung, aber viele Menschen haben schon lange nicht mehr auf diese Weise über Zahlen nachgedacht und finden etwa Berechnungen mit Geldbeträgen sehr schwierig. Das ist für mich einer der unterschätzten Aspekte des Kopfrechnens, die jeden betreffen - egal, ob man glaubt, gut in Mathematik zu sein oder nicht.
...think you are good at mathematics or not."
SPRECHER:
Matheaufgaben in den vier Grundrechenarten im Kopf zu lösen - eine Zahl plus eine andere Zahl, minus, mal oder geteilt durch: Das lernen bei uns alle Schülerinnen und Schüler schon in der Grundschule. Das Einmaleins z.B.: Irgendwann hat man dann die Lösung für 6 mal 7 einfach parat – und vielleicht sogar für 16 mal 17: ... 272. Das ist dann schon das große Einmaleins.
Was beim Rechnen im Kopf passiert, das kann selbst bei einfachen Aufgaben ziemlich komplex sein: Die unterschiedlichsten Regionen des Gehirns sind daran beteiligt, erklärt Dr. Christina Artemenko. Sie arbeitet am Fachbereich Psychologie der Universität Tübingen und erforscht unter anderem, wie der Mensch Zahlen verarbeitet und wie er mit ihnen rechnet.
03 ZUSP Artemenko:
"Beispielsweise in der Multiplikation lernen Kinder schon in der zweiten und dritten Klasse die Multiplikations-Fakten quasi auswendig: 3 mal 5 ist 15. Das sind Fakten, die bei uns im Gehirn abgespeichert sind und dann immer wieder abgerufen werden."
SPRECHER:
Mit bildgebenden Verfahren lässt sich zeigen: Die Bereiche, in denen solche bekannten Informationen abgespeichert sind, liegen im Gehirn an einer anderen Stelle, als die Areale, die man benötigt, um tatsächlich etwas spontan auszurechnen.
04 ZUSP Artemenko:
"Wenn ich jetzt beispielsweise eine Aufgabe stelle wie 96 minus 25, da muss man Schritt für Schritt rechnen. Man muss die Zahlen in Zehner und Einer zerlegen, und da sind viele Rechenschritte nötig. Das sind Aufgaben, die ganz anders im Gehirn repräsentiert sind. Dafür brauchen wir Ressourcen im frontalen Kortex, also vorn im Gehirn, die so die Rechenschritte und Arbeitsgedächtnis-Prozesse und sowas wiedergeben."
STIMME OBEN – BITTE ABNEHMEN!
SPRECHER:
... wobei die im Langzeitgedächtnis abgespeicherten Fakten - wie das kleine Einmaleins - auch das sogenannte Arbeitsgedächtnis unterstützen. Es kommt ins Spiel, wenn Aufgaben den auswendig gelernten Zahlenbereich verlassen, ergänzt Hans-Christoph Nürk. Er ist Professor für Diagnostik und kognitive Neuropsychologie an der Universität Tübingen.
05 ZUSP Nürk:
"Wir wissen, dass beim komplexen Rechnen, also wenn ich Ihnen jetzt die Rechenaufgabe gebe 17 mal 29, es Ihnen natürlich schon hilft, also, wenn Sie es im Kopf rechnen müssen, wenn Sie die einfachen Multiplikationszahlen parat haben. Weil wir wissen, dass bei komplexen Aufgaben das Arbeitsgedächtnis sehr belastet ist. Und wenn Sie das Arbeitsgedächtnis entlasten können, weil Sie bestimmte Fakten, einfache Fakten, kleines Einmaleins, einfach abrufen können, dann können Sie natürlich besser rechnen."
SPRECHER:
Zahlen merken wir uns einerseits als Wörter, wir können sie aber auch vor unserem inneren Auge sehen. Etwa tatsächlich als Ziffern.
Manche von uns sehen Zahlen sogar wie auf einer Art Zahlenstrahl: kleinere Zahlen weiter links, größere weiter rechts. Oder die Zahlen sind auf eine bestimmte Weise im Raum verteilt.
MUSIK
SPRECHER:
Klar ist: Kopfrechnen beherrscht man nicht einfach so – aber viele Experten halten es für wichtig, dass man es kann.
06 ZUSP Mittring:
"Wenn Sie eine gute Kopfrechnen-Grundkompetenz haben, dann haben sie erst einmal viele Vorteile für den Alltag, dass Sie praktisch ihren Alltag geschickter auch einteilen können. Dass Sie ungefähr eine Vorstellung haben, wie lange dauert was. Sie würden auch im Supermarkt nicht zu viel bezahlen.
SPRECHER:
Weil man beim Einpacken in den Einkaufswagen im Kopf grob mitrechnen kann, meint Dr. Gert Mittring. Er ist Psychologe - und hat selbst mehrfach Weltrekorde im Kopfrechnen aufgestellt.
In einer Zeit, in der Zahlen eine so große Rolle in unserem Leben spielen, hält er die Fähigkeit für notwendig, z.B. einen Geldbetrag im Kopf zu überschlagen und Größenordnungen abzuschätzen.
Ähnlich sieht es Stefan Ufer. Er ist Professor für Didaktik der Mathematik und Informatik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Für ihn ist außerdem entscheidend: Kopfrechnen schafft eine Grundlage, auf der weitere mathematische Fähigkeiten aufbauen können. Etwa dadurch, dass man beim Kopfrechnen mathematische Strukturen nutzt.
07 ZUSP Ufer:
"Also wir rechnen 7 mal 8 in der zweiten Klasse. Da lernen die Kinder irgendwelche Kernaufgaben, die werden relativ schnell automatisiert, z.B. die Vielfachen von 2 und von 5. Also können sie rechnen: 7 mal 8 ist 2 mal 8 plus 5 mal 8. Das ist eine typische Strategie. Da hängt eine gewisse Struktur dahinter. Später lernen die Kinder: Ach, das ist eine ganz allgemeine Struktur, das heißt Distributivgesetz. Später wird gelernt: Ach, das heißt eigentlich auch Ausklammern. Das kann ich ganz allgemein nicht nur mit Zahlen, auch mit Termen machen. Später sieht es dann plötzlich aus wie die binomischen Formeln. Und wir sehen, diese Strukturen, die helfen uns, neue Konzepte zu erwerben."
SPRECHER:
Kopfrechnen fördert also das Verständnis für mathematische Strukturen. Und das kann es wiederum erleichtern, ganz anders an Rechenaufgaben heranzugehen. ((Wenn man z.B. 603 minus 598 rechnen will, ist das natürlich schrittweise möglich:
603 minus 8 ist 595,
595 minus 90 ist 505
und 505 minus 500 ist 5.
08 ZUSP Ufer:
"Ich kann aber auch anders draufschauen, mit einem Verständnis über Strukturen und sagen: Na ja, 603 minus 598 kann ich mich doch auch fragen, wie weit ist es von der 598 bis 603? Ja, 2 bis zu 600. Noch 3 weitere sind 5. Geht natürlich viel leichter, und auch hier habe ich wieder eine Struktur genutzt: Die Addition hat was mit der Subtraktion zu tun. Und je häufiger ich diese Struktur nutze, umso besser kann ich sie natürlich auch in anderen Kontexten anwenden. Das ist eine Funktion von Kopfrechnen in der Schule, die vielleicht oft unterschätzt wird, die aber extrem wichtig ist für den weiteren Verständnis-Aufbau."))
SPRECHER:
Und es kommt noch etwas hinzu: Kopfrechen-Fertigkeiten entwickeln sich nicht isoliert, sondern im Zusammenspiel mit anderen Fähigkeiten. Hier gibt es Wechselwirkungen, die Christina Artemenko von der Universität Tübingen beschreibt. Zum Beispiel hat man mit einem guten Arbeitsgedächtnis Vorteile beim Kopfrechnen. Und kann damit wiederum sein Gedächtnis trainieren.
09 ZUSP Artemenko:
"Je mehr man im Kopf rechnet, desto mehr lernt man ja auch, sich Sachen zu merken und so weiter, was Auswirkungen auf das Arbeitsgedächtnis haben sollte. Also, wenn das eine besser wird, wird auch das andere besser und umgekehrt. Also, diese Fähigkeiten hängen sehr stark zusammen."
MUSIK, darüber:
SPRECHER:
Die Fähigkeit, im Kopf zu rechnen, kann uns den Alltag erleichtern; sie erlaubt es uns, ganz grundsätzliche mathematische Zusammenhänge zu begreifen; und wir trainieren durch Kopfrechnen unser Gedächtnis. Allerdings scheint es so, dass manche Menschen von diesem Training nicht viel halten: Sie nutzen ihr Smartphone, wenn sie mit Zahlen umgehen müssen.
Dass es heute nicht mehr unbedingt normal ist, etwas kurzerhand im Kopf auszurechen, vielleicht sogar schon unbewusst mitzurechnen, wenn man Zahlen hört, diese Erfahrung hat auch Kopfrechen-Trainer Daniel Timms [englische Aussprache] gemacht.
10 ZUSP Timms:
"I was in Mexico recently and I saw...
Voiceover:
Ich habe kürzlich in Mexiko gesehen, wie Leute sehr einfache Berechnungen in ihren Taschenrechner getippt haben. Dinge wie 40 plus 45, weil sie das in ihrem Kopf nicht schaffen konnten. Klar, wenn ich etwas sehr Schwieriges präzise und schnell berechnen muss, dann benutze ich auch einen Taschenrechner, weil ich die korrekte Antwort haben will. Aber bei Menschen, die nicht so viel Vertrauen in ihr Kopfrechnen haben, ist es so, dass sie selbst bei einfacheren Aufgaben mit einem Taschenrechner nachrechnen. Nur: Wenn sie ohnehin alles mit dem Taschenrechner nachprüfen, dann sehen sie keinen Sinn im Kopfrechnen - also lassen sie es ganz sein.
...so they just don't ever do mental maths."
SPRECHER:
Und das, glaubt Timms, passiere überall auf der Welt.
Wissenschaftlich lässt es sich allerdings gar nicht so einfach belegen, ob die Fähigkeit zum Kopfrechnen zurückgeht oder nicht. Und noch schwieriger wird es bei der Frage, welchen Einfluss dabei möglicherweise Rechenhilfen wie das Smartphone haben.
Zitatorin:
These 1:
GERÄUSCHEFFEKT
Zitatorin:
Frühere Generationen konnten tatsächlich besser kopfrechnen als heutige.
SPRECHER:
Unter anderem das erforscht Christina Artemenko. Sie lässt etwa Probandinnen und Probanden unterschiedlicher Altersgruppen im Kopf mit mehrstelligen Zahlen rechnen.
11 ZUSP Artemenko:
"Das Interessante ist daran, dass sich selbst diese Rechenfähigkeiten bei Erwachsenen weiterentwickeln. Es verändert sich, wenn man sich anschaut, was beim Altern so passiert. Und da scheint das Rechnen eine große Ausnahme zu sein. Denn normalerweise ist es so, dass die kognitiven Fähigkeiten eher abgebaut werden im Alter. Man kann sich Sachen nicht mehr so gut merken usw. Nichtsdestotrotz: Diese Rechenprozesse scheinen auch ältere Erwachsene noch sehr gut hinzubekommen, sogar viel besser als jüngere Erwachsene."
SPRECHER:
Die spannende Frage ist nun: Liegt das daran, dass die ältere Generation der jüngeren einfach jahrelange Übung voraushat? Entwickeln jüngere Erwachsene diese Rechenfähigkeiten also im Laufe der Zeit noch? Oder liegt es daran, dass sie heute schneller zum Rechenhilfsmittel Smartphone greifen, und deshalb das Kopfrechnen schon im vergleichsweise jungen Alter wieder verlernen?
Ein Problem ist dabei: Die entsprechenden Studien sind sogenannte Querschnittstudien, also jeweils einmalige Untersuchungen. Mit denen lässt sich der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung hier aber nicht eindeutig klären, betont Hans-Christoph Nürk.
12 ZUSP Nürk:
"Um das kausal zu machen, bräuchte man eigentlich längsschnittliche Studien, also müsste die Leute ihr ganzes Leben lang beobachten und immer wieder ins Labor einbestellen und dann sich die Entwicklung angucken." STIMME LEICHT OBEN – BITTE ABNEHMEN!
SPRECHER:
... Und um zu einem ganz eindeutigen Ergebnis zu kommen, was den Einfluss von ständig greifbaren Smartphones als Rechenhilfe angeht, müsste man dann auch noch dafür sorgen, dass die Hälfte der Testpersonen ohne diese Unterstützung aufwächst - ein Ding der Unmöglichkeit.
Da man sich nicht schon vor vielen Jahren mit der Kopfrechen-Kompetenz der heute älteren Menschen beschäftigt hat, fehlen außerdem auch andere entscheidende Informationen.
13 ZUSP Nürk:
"Weil es natürlich auch immer sein kann, dass es sogenannte Kohorten-Effekte gibt, sprich, dass die Probanden, die jetzt älter sind, vielleicht in der Schule schon als Kinder noch viel besser rechnen gelernt haben wie die heutigen Kinder."
Zitatorin:
These 2 ist also:
GERÄUSCHEFFEKT
Zitatorin:
Früher wurde während der Schulzeit mehr Wert aufs Kopfrechnen gelegt als heute.
SPRECHER:
In diesem Fall wären Lehrpläne und Unterricht entscheidende Faktoren. Tatsächlich vermutet Christina Artemenko etwas Derartiges. Beispiel: Das Einmaleins.
14 ZUSP Artemenko:
"Das ist etwas, was, glaube ich, in den höheren Generationen damals im Bildungssystem noch viel mehr forciert wurde. Und das sieht man auch heutzutage an den Effekten, dass sie bei diesem Faktenabruf tatsächlich noch viel besser sind als die heutigen Erwachsenen."
SPRECHER:
In der Schule das Einmaleins als Rechengrundlage auswendig zu lernen: Das scheint ein wesentlicher Punkt zu sein.
Zitatorin:
Somit lautet These 3:
GERÄUSCHEFFEKT
Zitatorin:
Es ist gar nicht so entscheidend, ob wir später auch mal das Smartphone zum Rechnen benutzen oder nicht.
SPRECHER:
Man macht es sich jedenfalls zu einfach, wenn man ihm die Alleinschuld gibt, meint Stefan Ufer vom Mathematischen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zumal "Rechenhelfer" immer schon unter Verdacht geraten sind, dem Kopfrechnen abträglich zu sein.
15 ZUSP Ufer:
"Man hat diese Diskussion schon sehr lange. Also, es gab die Diskussion jetzt mit dem Smartphone. Es gab die Diskussion vorher mit Computeralgebra-Systemen, die eigentlich alle Aufgaben, die man in der Schule macht, alle Aufgabentypen automatisch lösen können. Also, da muss man eigentlich auch nicht mehr viel tun. Es gab die Diskussion schon beim Taschenrechner. Es gab wahrscheinlich die gleichen Diskussionen, ob man schriftliche Rechenverfahren behandeln soll. Immer dann, wenn man Methoden hat, mit denen man die Mathematik 'trivialisieren' kann, ja, dann kommt man in diese Diskussion."
SPRECHER:
Weil es jedes Mal die Befürchtung gibt: So ein Hilfsmittel könnte dafür sorgen, dass man nicht mehr über die mathematischen Zusammenhänge hinter einem Rechenvorgang nachdenkt. Und folglich seien neue Rechengeräte oder entsprechende Programme automatisch schädlich für die Kompetenz im Kopfrechnen.
Ganz so simpel ist es nicht. Smartphones und Tabletcomputer lassen sich beispielsweise auch nutzen, um mathematische Zusammenhänge spielerisch zu vermitteln, etwa mit Hilfe von Lernsoftware. Und schon vor einigen Jahrhunderten wurde ein Rechenhelfer eingeführt, der es offenbar sogar einfacher macht, komplexe Aufgaben im Kopf zu lösen: der Abakus bzw. sein asiatisches Pendant, in Japan Soroban genannt.
GERÄUSCH Abakus-Kugeln klacken, darüber:
SPRECHER:
Ein Soroban besteht aus einem Rahmen mit mehreren parallel angeordneten Stangen. Auf jeder dieser Stangen sitzen fünf oder mehr Kugeln bzw. Perlen, die auf und ab gleiten können. Jede Ziffer einer Zahl entspricht einer bestimmten Stellung der Kugeln auf einer Stange. Zum Rechnen verschiebt man nun diese Kugeln. Menschen, die gelernt haben, mit dem Soroban zu rechnen, sehen beim Kopfrechnen Zahlen anders vor sich, als Menschen, die mit arabischen Ziffern rechnen, erläutert Kopfrechen-Trainer Daniel Timms [englische Aussprache].
16 ZUSP Timms:
"If you think of the number 65...
Voiceover: Bei der Zahl 65 sehe ich eine Sechs und eine Fünf in arabischen Ziffern. Aber Menschen, die mit dem Soroban rechnen, sehen die Zahl auch beim Kopfrechnen als eine bestimmte Anordnung von Perlen. Ein Vorteil ist, dass sie leichter mit den Zahlen umgehen können, ohne in Versuchung zu geraten, sie sich selbst zu sagen. Die Leute lernen, damit sehr, sehr schnell zu rechnen.
...to do this very, very quickly."
SPRECHER:
Was dann auch beim Kopfrechnen funktioniert. Und sie haben offenbar noch einen weiteren Vorteil dadurch, dass sie den Soroban nutzen: Mit den Rechenvorgängen sind Fingerbewegungen verknüpft, erklärt Christina Artemenko. Dass so etwas beim Rechnen hilft, weiß man nicht zuletzt aus Studien mit Kindern, die beim Zählen ihre Finger benutzen dürfen.
17 ZUSP Artemenko:
"Wenn man dazu dann ins Gehirn schaut, dann kann man tatsächlich entdecken, dass dadurch verschiedene Repräsentationen von Zahlen aufgebaut werden. Beispielsweise wenn man die Finger benutzt, dann trainiert man eben nicht nur das Areal, was für die Zahlen verantwortlich ist, sondern eben auch sensomotorische Areale, die halt für die Fingerbewegungen verantwortlich sind."
MUSIK
SPRECHER:
Zwei Dinge lassen sich zumindest sagen: Rechenhilfsmittel sind nicht grundsätzlich schlecht für die Kopfrechen-Kompetenz.
Und: Selbst, wenn einem Taschenrechner und Smartphone später sämtliche Rechenarbeit abnehmen könnten, bleibt es wichtig, die fürs Kopfrechnen notwendigen Grundlagen zu vermitteln. Damit Schülerinnen und Schüler z.B. mathematische Strukturen verstehen können.
MUSIK
SPRECHER:
Die Erfahrung zeigt aber: Im Alltag wird immer seltener "einfach mal so" etwas im Kopf ausgerechnet. Ob das tatsächlich daran liegt, dass man heute jederzeit zum Smartphone mit integriertem Taschenrechner greifen kann - das bleibt unklar. Letztlich spielt es aber auch keine entscheidende Rolle. Das Smartphone wird nicht wieder verschwinden. Um Kopfrechen-Kompetenz zu erhalten, muss man woanders ansetzen.Zum einen natürlich beim Unterricht. Der darf sich nicht auf reines Auswendiglernen beschränken. Er sollte die Kinder motivieren, ihre Fähigkeiten anzuwenden, meint Stefan Ufer. Nicht zuletzt, indem man sie verschiedene Kopfrechen-Strategien ausprobieren lässt. Strategien, die unterschiedlich fehleranfällig sind - und unterschiedlich schnell zum Ergebnis führen. Nur frustrieren sollt man die Kinder dabei nicht.
18 ZUSP Ufer:
"Da steckt natürlich viel auch dahinter, wieviel traue ich mir zu? Wieviel Erfolgserfahrungen habe ich gemacht? Wie gut glaube ich, dass ich das kann? Und da kann der Unterricht natürlich auch Schülerinnen und Schülern ein bisschen mehr Sicherheit mitgeben, indem er eben auch Erfolgserlebnisse – gerade bei so einer flexiblen Strategienutzung – vermittelt, in dem Rahmen, wie die Kinder das halt jeweils individuell schaffen können."
SPRECHER:
Doch wahrscheinlich reicht es nicht, nur mehr Selbstvertrauen beim Kopfrechnen zu vermitteln, sondern, man muss auch Lust darauf machen. Womit wir wieder beim Wettbewerb in Bielefeld wären...:
19 ZUSP Atmo Timms, darüber:
SPRECHER:
... und bei Trainer Daniel Timms [englische Aussprache], der umringt ist von jungen Menschen aus aller Welt, die sich in seinem Workshop auf die Aufgaben bei der Junioren-Kopfrechen-Weltmeisterschaft vorbereiten.
Atmo Timms kurz hoch, darüber:
SPRECHER:
Solche Wettbewerbe sollen für Zahlen-Knobeleien begeistern, sollen Menschen zum Kopfrechnen ermutigen – möglichst auch im Alltag, erklärt Caroline Merkel. Sie ist die Organisatorin der Weltmeisterschaft.
20 ZUSP Merkel:
"Hier geht es ja eher darum, auch wieder Kopfrechnen als Kulturgut sozusagen an Leute heranzubringen. Schülerinnen und Schüler, die sich hier bewerben, aus Deutschland oder eben auch aus anderen Ländern, bekommen ja hier nicht nur den Wettbewerb, an dem sie sich messen, sondern sie haben auch zwei Tage Workshops, in denen sie ihr Wissen, ihr Interesse aufbauen können. Ich habe schon die Hoffnung, dass wir hier wirklich noch mal viele junge Menschen begeistern können, sich mit Zahlen, mit dem Gefühl für Zahlen auch auseinanderzusetzen."
SPRECHER:
Das gleiche sollen Meisterschaften auf regionaler Ebene leisten. Über die ist – angeregt durch seine Mathelehrerin – auch Niklas Arndt aus Marl zur Junioren-Kopfrechen-WM gekommen. Er profitiert inzwischen jenseits solcher Wettbewerbe ebenfalls davon, immer mehr im Kopf rechnen zu können.
21 ZUSP Arndt:
"Ich kann viel besser mittlerweile Zahlen schätzen. Zum Beispiel, wenn ich eine Aufgabe sehe, weiß ich, in welchem Bereich renkt sich das irgendwie ein. Das kommt alles mit der Übung. Ich finde, das hat auch irgendwas, wenn wir jetzt im Matheunterricht eine Aufgabe haben, alle holen ihren Taschenrechner raus, und ich habe es halt schon im Kopf ausgerechnet."
MUSIK (bereits unter dem letzten Satz langsam eingeblendet), darüber:
SPRECHER:
Was Niklas Arndt dank seines Trainings kann, übersteigt bei weitem das, was die meisten von uns beim Kopfrechnen hinbekommen. Doch ganz egal, auf welchem Niveau man es beherrscht: Man muss diese Fähigkeit pflegen, sie immer wieder nutzen. Das betont auch ein anderer Workshop-Leiter bei der Junioren-Weltmeisterschaft: Willem Bouman [Baumann]. Sein Spitzname: "König der Primzahlen".
22 ZUSP Bouman:
"Sie müssen trainieren. Denn: 'If you don't use it, you loose it'. Wenn man aufhört mit Rechnen, dann geht auch die Fähigkeit stark herunter. Also man soll, auf Deutsch gesagt, immer am Ball bleiben."
SPRECHER:
Und dafür ist Bouman [Baumann] das beste Beispiel: Mit über 80 nimmt er immer noch an der Kopfrechen-Weltmeisterschaft für Erwachsene teil. Und knobelt dann an dutzenden Aufgaben wie: Quadratwurzel aus 1147 mal 1517 mal 1271.
Die Lösung ist übrigens 47027.