Bilder, die seit Generationen die gleichen Emotionen und Assoziationen in uns auslösen? Allgemeingültige Vorstellungen oder gar Handlungsmuster, die alle Menschen teilen? C.G. Jungs Konzept von den Archetypen, universalen Urfiguren, ist nicht nur graue Theorie, sondern auch Bestandteil moderner Psychotherapie. Von Frank Halbach
Bilder, die seit Generationen die gleichen Emotionen und Assoziationen in uns auslösen? Allgemeingültige Vorstellungen oder gar Handlungsmuster, die alle Menschen teilen? C.G. Jungs Konzept von den Archetypen, universalen Urfiguren, ist nicht nur graue Theorie, sondern auch Bestandteil moderner Psychotherapie. Von Frank Halbach
Credits
Autor und Regie dieser Folge: Frank Halbach
Es sprachen: Edith Saldanha, Christian Baumann
Technik: Moritz
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Dr. Christian Rösler, Professor für Klinische Psychologie, Psychoanalytiker und Psychotherapeut.
Dr. Ute Mahr, Psychologin und Psychotherapeutin, Autorin von „Handbuch Archetypen-Therapie“.
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
Literatur:
Micha Brumlik. C. G. Jung. Zur EinfĂĽhrung. Hamburg 1993.
Carl Gustav Jung: Ăśber die Archetypen des kollektiven Unbewussten. ZĂĽrich 1935.
Ute Mahr: Handbuch Archetypen-Therapie: Der Blick in die Struktur der Seele. NĂĽrnberg 2010.
Wir freuen uns ĂĽber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER
Kennen Sie das? Träume mit Bildern oder Symbolen, die scheinbar nichts mit dem im Alltag erlebten zu tun haben? Betörende Nymphen oder schreckliche Drachen? Lodernde Feuersbrünste oder orkangepeitschte Ozeane? Die sich häutende Riesenschlange oder der majestätische Löwe?
SPRECHERIN
Welcher Bilder bedient sich das Unbewusste, um uns unsere gegenwärtige Lage mitzuteilen?
SPRECHER
Oder sind es mythische Sinnbilder, Ur-Metaphern, die jeder Mensch in sich trägt?
SPRECHERIN
Archetypen. So nennt man in der Analytischen Psychologie Grundstrukturen menschlicher Vorstellungs- und Handlungsmuster, die einem kollektiven Unbewussten angehören sollen – in den Urbildern von Mythen, Träumen Märchen, Religion und Kunst entfalten Archetypen demnach ihre Wirkkraft auf die Psyche des Menschen.Â
SPRECHER
Das tiefenpsychologische Konzept der Archetypen geht auf den Schweizer Psychiater und Psychologen Carl Gustav Jung zurĂĽck.
MUSIK ENDE
O-Ton 1 Rösler (00:34)
Carl-Gustav Jung hat zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts begonnen, als Psychiater im berühmten Burghölzli in Zürich. Und die haben da einen neuen Ansatz ausprobiert, Psychotiker zu behandeln. Bis dahin galten die sozusagen als eine organische Störung des Gehirns. Und der neue Ansatz war zu sagen: „Nein, da steht ein Sinn dahinter. Aber wir verstehen den eben noch nicht. Aber wenn wir den verstehen können, kriegen wir vielleicht einen Zugang zu den Patienten und zur Krankheit.“
SPRECHER
Dr. Christian Rösler ist Professor fĂĽr Klinische und Analytische Psychologie, Psychotherapeut und Psychoanalytiker.Â
O-Ton 2 Rösler (02:28)
Der Kern im Grunde des Archetypen-Konzeptes ist, dass in unserer Psyche Urbilder angelegt sind - so hatte er das ursprünglich genannt, erst später kam der Begriff Archetypen - und dass diese Urbilder […] sich zeigen, insbesondere in Psychosen. Und später, hat er das weiterentwickelt, dass eben diese Archetypen im Grunde die ganze Entwicklung der Persönlichkeit gestalten, so dass am Ende bei Jung die Vorstellung stand, dass die Entwicklung der Persönlichkeit auch beim gesunden Menschen gestaltet ist durch eine bestimmte Abfolge von archetypischen Bildern.
SPRECHER
„Archetypen sind kollektiv vorhandene unbewusste Bedingungen, welche als Regulatoren und Anreger der schöpferischen Phantasietätigkeit wirken und entsprechende Gestaltungen hervorrufen, indem sie das vorhandene Bewusstseinsmaterial ihren Zwecken dienstbar machen.“
SPRECHERIN
Definierte 1946 in seiner Schrift „Theoretische Ăśberlegungen zum Wesen des Psychischen“. C.G. Jung. Allerdings hat er selbst seine Definition davon, was Archetypen seien, ständig ĂĽberarbeitet, revidiert und erweitert.Â
SPRECHER
Wie also definiert die Analytische Psychologie Archetyp heute?
O-Ton 3 Rösler (32:41)
Also wenn man ehrlich ist, muss man sagen, dass es in Bezug auf die Archetypentheorie in der Analytischen Psychologie sehr viel Konfusion gibt. Das fängt allein schon damit an, wie man Archetypen definiert. Ich habe selbst mal eine Studie gemacht, wo ich Kollegen und Experten aus dem Feld gefragt habe: Wie definiert ihr denn Archetypen? Da kam völlig unterschiedliche Definitionen raus, die zum Teil auch völlig inkompatibel waren. Und das zeigt allein schon, dass, was wir darunter verstehen, da gibt es überhaupt keinen Konsens.
SPRECHERIN
In C.G. Jungs Theorie repräsentieren grundlegende Archetypen universelle Muster eines kollektiven Unbewussten. Jung hat die Existenz von Archetypen aus dem Vergleich von Motiven aus Träumen besonders, aus Märchen, Sagen, und astrologischen Vorstellungen und vergleichender Religionswissenschaft und Mythologie abgeleitet. Auch die Motivik der Alchemie lieferte ihm viel Vergleichsmaterial.Â
O-Ton 4 Roesler (07:36)
Die Alchemisten haben im Grunde mit chemischen Substanzen operiert. Und Jung war eigentlich der Auffassung, dass das gar nicht um Chemie an sich geht, sondern dass die ihre eigenen psychischen Prozesse in das Material hineinprojiziert haben. Und dass es eigentlich um Philosophie und Persönlichkeitsentwicklung und ja im Grunde ein transzendentales Weltmodell geht.
SPRECHER
C.G. Jung kam letztlich zu dem Schluss: Archetypen sind prototypisch, von der Kultur unabhängig und immer wiederkehrend. Sie sind tief in der Menschheitsgeschichte verwurzelt und haben somit starken Einfluss auf unsere Kultur, unsere Träume und auf unsere individuellen Biographien.
MUSIK „Organics“; ZEIT: 00:17
SPRECHERIN
Die große Mutter, der Held, der Schatten…
MUSIK ENDE
O-Ton 5 Rösler (03:36)
Also die Idee ist, dass die Archetypen im Grunde einen Prozess in Gang setzen, der zur Zentrierung der Persönlichkeit führt und letztlich auch zur Realisierung von noch ungelebten oder undifferenzierten Persönlichkeitsanteilen. Und dass dieser Prozess im Grunde einer Landkarte folgt, die man beschreiben kann. Und das ist natürlich eine total interessante Idee, weil wenn das so wäre, könnten wir Psychotherapeuten, wenn wir über diese Landkarte verfügen, sozusagen unsere Patienten durch diesen Prozess geleiten, weil wir sozusagen schon wissen, was da kommt. Oder weil wir das, was auftaucht, dann interpretieren und einordnen können.
MUSIK privat Take 002 Nfrt.y.ty; Album: Homo Infinitus; Label: Amores Solitares – AS001; Interpret: Lum/ Sunru: Komponist: Lum; ZEIT: 00:43
SPRECHERIN
In der Behandlung von Patienten in der Psychiatrie stieß C.G. Jung bei der Erforschung dieser „Landkarte“ immer wieder auf Halluzinationen oder Träume, in denen Bilder vorkamen, die mythischen Symbolen glichen. Woher kamen diese Symbole?
SPRECHER
Sie waren offensichtlich nicht einfach erlernt. Archetypen seien vielmehr vorbewusste Strukturen der Psyche, meinte Jung, Formen eines von Anfang an vorhandenen kollektiven Unbewussten:
SPRECHERIN
Grundmuster instinkthaften Verhaltens.
SPRECHER
Das hieĂźe demnach, der Mensch verfĂĽgt ĂĽber angeborene psychische Strukturen?
MUSIK ENDE
O-Ton 6 Rösler (15:03)
Ja, grundsätzlich schon. Allerdings muss man gleich dazusagen, dass diese Strukturen eben nicht übereinstimmen mit dem, was Jung sich unter Archetypen vorstellte. Also was man heute weiß, ist dass das menschliche Neugeborene ausgestattet ist mit bestimmten Fähigkeiten und Kompetenzen, die sich vor allen Dingen auf Interaktion in sozialen Beziehungen richten. Und damit kann man sehr stark argumentieren, dass wir von Natur aus Beziehungswesen sind. Also zum Beispiel können Neugeborene schon recht bald Mimik lesen, im Gesicht ihrer Bezugsperson können darauf reagieren. Sie interessieren sich sehr für Sprache, für Sprachmelodie. Da fokussieren sie sehr stark drauf. […] Sie haben eine sogenannte angeborene Spracherwerbsfunktion.
SPRECHERIN
In C.G. Jungs Konzept drängen Archetypen gezielt auf die Verwirklichung eines Zustandes, auf Entfaltung. Grundlegende Archetypen bei C.G. Jung sind:
MUSIK  „In doubt“; ZEIT: 01:19
SPRECHER
Das Selbst: die Vereinigung des Bewusstseins und des Unbewussten, das Streben nach Ganzheit, nach dem Ziel der persönlichen Entwicklung.
SPRECHERIN
Der Schatten: Er steht dem positiven Selbstbild des Menschen entgegen. Die „Dunkelheit“ des Schattens steht für seine Unbewusstheit. Schattenarbeit ist Bewusstwerdungsarbeit am persönlichen Unbewussten.
SPRECHER
Das Kind: alle Erfahrungen, eines Menschen, die er in der Kindheit gemacht hat und zugleich alle mit der Kindheit assoziierten Merkmale aus der kollektiven Psyche. Die bekanntesten Varianten: das geliebte Kind, das verwundete Kind, das verlassene und das ewige Kind.
SPRECHERIN
Die Mutter: die GroĂźe Mutter oder Urmutter, die Vorstellung von einer gebärenden und Schutz gewährenden Frau. Dem gegenĂĽber steht das Bild von der zerstörenden, verschlingenden Mutter.Â
SPRECHER
Gott: der Übermächtige, fern und nah zugleich, Furcht einflößend und Vertrauen erweckend, der Geheimnisvolle – das "Numinosum".
SPRECHERIN
Und nicht zuletzt: Animus und Anima - „Personifikationen einer weiblichen Natur im Unbewussten des Mannes und einer männlichen Natur im Unbewussten der Frau“. Archetypische Symbole der Anima wären: die Sirene, die Loreley, die fremde Schönheit, die unerreichbare Geliebte. Beispiel für Symbole des Animus: der verlockende Magier, der starke Held, der zauberhafte Künstler oder der spirituelle Führer.
MUSIK ENDE
O-Ton 7 Rösler (34:16)
Ich glaube, es braucht eine gewisse Skepsis in Bezug auf die Strukturen und Theorien, die Jung da formuliert hat. Da war er doch an mancher Stelle sehr ein Kind seiner Zeit. Also zum Beispiel, was das Verhältnis der Geschlechter angeht und männliche und weibliche psychische Anteile usw. Wobei er auch natürlich an der Stelle revolutionär war, insofern, als er als Erster die Idee formuliert hat, das eben jeder Mensch auch gegengeschlechtliche Anteile in sich hat. Das ist eine wirklich sehr interessante Idee.
SPRECHERIN
Ein weiterer Kritikpunkt für Professor Christian Rösler ist, dass Jung zwar menschheits-umfassende Archetypen postulierte, aber selbst nicht nur Kind seiner Zeit, sondern auch seines Kontinents blieb.
O-Ton 8 Rösler (13:26)
Das ist im Grunde auch ein zentraler Kritikpunkt an Jung, dass er also, obwohl er sich fĂĽr auĂźereuropäische Kulturen interessiert hat, letzten Endes in seinem Grundmodell sehr eurozentrisch geblieben ist. Und im Grunde auch was in der griechischen und römischen Antike es an Vorstellung gab, das hat er als universell gesetzt. Was tatsächlich bei genauerer ĂśberprĂĽfung eben so nicht stimmt. Also ein zentrales Beispiel ist diese Vorstellung von der groĂźen Mutter, die eben ein Archetyp ist bei Jung.Â
SPRECHERIN
Vorstellungen ĂĽber einen solchen archetypischen Kult der Muttergottheiten beruhen auf Mythenkonstruktionen des 19. Jahrhunderts ĂĽber die GroĂźe Göttin, die mit altsteinzeitlichen und jungsteinzeitlichen Statuetten in Verbindung gebracht wurden.Â
Der britische Prähistoriker Andrew Fleming meinte dazu schon 1969:
SPRECHER
„Solche Theorien verraten meist mehr über die Weltsicht ihrer Vertreter als über die Vorgeschichte.“
SPRECHERIN
Vieles, was C.G. Jung fĂĽr angeboren, von vornherein in einem kollektiven Unbewussten verankert hielt, scheint aus heutiger Sicht sozialisiert. Das betrifft Vorstellungen ĂĽber Geschlechterrollen ebenso wie die Annahme eines fĂĽr alle Kulturen gleichen Musters von Religion.
O-Ton 9 Roesler (22:03)
Es gibt diese universell übereinstimmenden Inhalte nicht, bis auf eine Ausnahme: Das sind die Mythologien. Da gibt es tatsächlich verblüffende Übereinstimmungen. Also man findet Märchen in der Südsee, die also fast zu 100 Prozent übereinstimmen mit einem Märchen aus Lappland. Und das war tatsächlich immer schon eine Frage in der Ethnologie: Wie kann man das erklären? Da gibt es mittlerweile aber einen Ansatz von einem Harvard-Ethnologen, der quasi argumentiert, mit der Ausbreitung des Homo sapiens über die Welt. Wir wissen heute, das ist sehr gut belegt durch archäologische Funde, durch genetische Studien und so weiter, dass der moderne Mensch Homo sapiens sich etwa vor 65.000 Jahren aus Afrika zunächst mal an der Südküste Asiens entlang ausgebreitet hat und von dort dann über eiszeitliche Landbrücken nach Indonesien, Australien und dann über die Beringstraße-Landbrücke nach Amerika. Und wenn man diesen Routen folgt und den Zeiten, wann Menschen wo angekommen sind, kann man rekonstruieren, das mit ihnen eben auch die Mythologien gewandert sind.
MUSIK privat Take 002 Nfrt.y.ty; Album: Homo Infinitus; Label: Amores Solitares – AS001; Interpret: Lum/ Sunru: Komponist: Lum; ZEIT: 00:37
SPRECHER
Bestimmte mythologische Motive, wie zum Beispiel das von einer Sintflut finden sich so ĂĽberall auf der Welt.Â
SPRECHERIN
Für sie gibt es wiederum gute Erklärungen jenseits eines kollektiven Unbewussten. Am Ende der letzten Eiszeit sind die Meeresspiegel zum Teil so schnell angestiegen, dass Menschen weltweit dieses Phänomen als Sintflut erlebt haben und so in ihren Mythologien verarbeitet haben.
SPRECHER
Eine ganze Reihe von Behauptungen, die C.G. Jung in seiner Theorie aufgestellt hat, muss also als eindeutig widerlegt gelten.Â
MUSIK ENDE
O-Ton 10 Roesler (24:41)
Was ich aber tatsächlich wertvoll finde nach wie vor an der Archetypen-Theorie ist die Idee, dass psychische Veränderungsprozesse wie zum Beispiel in Psychotherapien, aber auch zum Beispiel in spirituellen Entwicklungswegen, dass die eine universelle Struktur haben, also dass die nach bestimmten Mustern verlaufen.
SPRECHER
Dr. Ute Mahr arbeitet viel mit solchen Mustern in ihrer Praxis. Ihr „Handbuch Archetypen-Therapie“ verbindet die Erfahrungen aus 20-jähriger Praxis als Psychotherapeutin und universitärer Psychotherapieforschung.
SPRECHERIN
Von C.G. Jungs Theorie ausgehend hat sie spezifischere Archetypen für innerseelische Strukturen definiert: so etwas wie innerste Identitäten.
O-Ton 11 Mahr (19:15)
Als allererstes die Seelen Rolle. Man könnte sagen das ist so das Basis-Potenzial. Und das entspricht jetzt sehr den Archetypen von C.G. Jung.
MUSIK „Particle“; ZEIT: 00:43
SPRECHER
Der Heiler: mĂĽtterlich, einend, harmonisierend.
SPRECHERIN
Der Künstler: Etwas ins Leben bringen, die eigene Individualität ausdrücken.
SPRECHER
Der Krieger: Handeln, Disziplin und Pflicht.
SPRECHERIN
Der Gelehrte: Wissen sammeln, möglichst vollständig, systematisch.
SPRECHER
Der Weise: Mit dem ganzen Wesen kommunizieren, erworbenes Wissen teilen.
SPRECHERIN
Der Priester: Streben nach dem höheren Ideal.
SPRECHER
Der König: durchsetzungsstark, führen, leiten.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
„Seelische Archetypen“, die im Menschen angelegt seien. Im therapeutischen Gespräch, Selbstwahrnehmung und körperorientierter Psychotherapie nähert sich Dr. Ute Mahr mit ihren Klient*innen diesen Basispotentialen. Sie betont dabei, dass es sich bei diesen „seelischen Impulsen“ nicht um lebenslang gleichbleibende Strukturen handelt
O-Ton 12 Mahr (17:27)
Was ganz Wesentliches in der Arbeit mit den Archetypen: Die haben einen innewohnenden Umsetzungsdrang - ich will was tun. Und eine gelingende Therapie hat fĂĽr mich immer mit Potentialentfaltung mit Wirksamkeit, mit wirksam werden, zu tun.
SPRECHERIN
Ute Mahr bearbeitet mit ihren Klientinnen und Klienten in der Regel zunächst die Ängste, die die Entfaltung des Potentials entgegenstehen und macht sich mit ihren Klienten daran, gemeinsam das Entwicklungsziel zu definieren.
O-Ton 13 Mahr (28:13)
Die zweite Grundkategorie ist die Angst. (…) Das Basispotenzial ist das eine, was eint. Die Angst, ist das zweite, was entzweit. Das heißt aber wenn ich selber Angst habe, kann ich meinen Archetyp nicht umsetzen. Weil etwas hemmt mich. (…) Das heißt sie verdeckt das Potenzial. Der Mensch kann sich gar nicht entfalten. Und das liegt gar nicht bei den äußeren Umständen, sondern wir sind nur bei der eigenen Angst.
SPRECHER
Archetypische Kräfte bieten so einerseits großes Entwicklungspotential, andererseits ist das Vordringen zu einem angenommenen inneren „Basispotential“ keineswegs einfach.
SPRECHERIN
Denn wer sich auf die Innenreise begibt, begegnet Widerständen: inneren, wie der Angst, und auch äußeren. Und beides hängt zusammen: Die Angst davor, das Gewohnte, scheinbar sichere verlassen und die Reaktion darauf - denn oft hat es die Umgebung nicht besonders gern, wenn sich ein Mensch plötzlich anders verhält als gewohnt, wenn er sich gewissermaßen auf die Reise macht.
MUSIK privat Take 002 „Kukulkán (Original Mix)“; Album: Afiafi; Label: Random Collective ---; Interpret: AmuAmu; Komponist: AmuAmu; ZEIT: 01:49
SPRECHER
Ängste zu überwinden, die davon abhalten, „authetisch“ zu leben, Lebensfreude zu spüren. Das versprechen in vielfältigster Form angebotene Seminare, die sich unter dem Begriff „Heldenreise“ zusammenfassen lassen.
SPRECHERIN
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer solcher Seminare machen sich mit Meditionen, in Gesprächen und therapeutischen Übungen, auf die Suche nach dem, wonach sie sich sehnen, nach so etwas wie dem „wahren“ Potential.
SPRECHER
Sie sollen ihren inneren Dämonen, Widerständen, Ängsten und Blockaden stellen.
SPRECHERIN
Mit Phantasiereisen, durch Inszenierungen oder Tanz und Körperarbeit sowie Methoden der Gestalttherapie und kreativen Techniken wie Malerei soll es den in der Gruppe arbeitenden Teilnehmenden ermöglicht werden, sich einerseits ihrer unbewussten „wahren“ Ziele bewusst zu werden und andererseits einschränkende, negative Selbst- und Weltbilder zu erkennen und durch Rituale aufzulösen und zu verändern.
SPRECHER
Nicht selten werden solche Seminare beworben mit den Labeln Persönlichkeitsentwicklung und Transformation - durch die Verbindung mit archetypischen Kräften wie: der Wilde Mann beziehungsweise die Wilde Frau, der Liebhaber/ die Liebhaberin, die Kriegerin/der Krieger, die Närrin/der Narr, der Magier/die Magierin, die Weise/der Weise.
SPRECHERIN
Die Heldenreise gilt als ein universales Grundmuster von Mythologien weltweit. Sie ist nicht auch als archetypische Erzählstruktur in zahllose Hollywood-Blockbuster und Bestsellerromane eingeflossen.
MUSIK ENDE
SPRECHER
Doch auch wer so den im eigenen Inneren schlummernden archetypischen Kräften begegnet, der hat sie noch lange nicht in sein alltägliches Leben integriert, auf der Suche nach Erfüllung und Glück. Ute Mahr:
O-Ton 14 Mahr (26:00)
Glück ist zum einen, (…) dass mein Innerstes fließen kann, diese Seelenimpulse, diese inneren Anliegen: Ich möchte was in die Welt bringen. Da braucht es, dass die Menschen sie zum einen erkennen, aber natürlich auch Hilfen kriegen, wie sie sie umsetzen. Das heißt, es braucht Bewältigungsfähigkeiten. Deswegen nützt die Archetypentherapie allein nichts.
SPRECHERIN
Aber sie kann ein wirksamer Bestandteil von therapeutischer Arbeit sein.Â
SPRECHER
Zur Selbstwahrnehmung, zur Auseinandersetzung mit tief-seelischen Themen.
O-Ton 15 Rösler (25:26)
Mein Schwerpunkt liegt im Moment auf der Erforschung von Träumen. Und da ist es tatsächlich so, dass wir untersuchen Traumserien aus Psychotherapien. Also die Träume wurden im Rahmen der Psychotherapie besprochen, wie das eben in analytischen Therapien üblich ist. Und diese Träume wurden dokumentiert, und wir analysieren diese Traumserie und gucken: tauchen denn da solche typischen Motive auf. Und tatsächlich finden wir nicht die Archetypen, die Jung beschrieben hat. Aber es gibt typische, wie könnte man sagen, Szenarien in Träumen. Also zum Beispiel, was wir gefunden haben, ist, das am Beginn von Therapien häufig ein Traummotiv auftaucht, dass das Traum-Ich bedroht wird - von gefährlichen Tieren oder Monstern oder Naturkatastrophen oder was auch immer. Und dass, wenn die Person sich entwickelt in eine gute Richtung, dass dann dieses Motiv der Bedrohung verschwindet und das Traum-Ich im Traum immer handlungsfähiger wird. Und das wäre dann tatsächlich so etwas, was man als archetypisch bezeichnen könnte.
MUSIK privat Take 002 Nfrt.y.ty; Album: Homo Infinitus; Label: Amores Solitares – AS001; Interpret: Lum/ Sunru: Komponist: Lum; ZEIT: 01:02
SPRECHERIN
Was die Archetypen keinesfalls sind?
SPRECHER
Naturwissenschaftliche Fakten.
O-Ton Rösler 16 (31:19)
Das war ein Irrtum Jungs. Der war halt als Naturwissenschaftler ausgebildet und war, das kann man recht gut zeigen, wenn man so seine Werke analysiert, war der Auffassung, dass eigentlich nur eine naturwissenschaftlich fundierte Theorie eine echte, gute Theorie ist. Und er hatte ungeheure Angst, als Philosoph gebrandmarkt zu werden, was er auf keinen Fall sein wollte. Er verstand sich als Naturwissenschaftler, und das ist ja ein, sagen wir mal ein Kardinalfehler, der sich durch die gesamte Geschichte der wissenschaftlichen Psychologie im zwanzigsten Jahrhundert zieht. Also der verzweifelte Versuch, die Psychologie als Naturwissenschaft zu formulieren, obwohl sie eigentlich eine angewandte Kulturwissenschaft und Geisteswissenschaft ist, meiner Ansicht nach.