Im Jahr 1724 machten sich dutzende Familien aus dem fränkischen Gerolzhofen auf in eine unbekannte Zukunft. Sie suchten ein besseres Leben in Sanktmartin, im Banat. Nach 300 Jahre kommen sie zurück, zu einem "Familientreffen". Von Lukas Grasberger
Im Jahr 1724 machten sich dutzende Familien aus dem fränkischen Gerolzhofen auf in eine unbekannte Zukunft. Sie suchten ein besseres Leben in Sanktmartin, im Banat. Nach 300 Jahre kommen sie zurück, zu einem "Familientreffen". Von Lukas Grasberger
Credits
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Susanne Schroeder
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Elisabeth Illich, Mitglied der Heimatortsgemeinschaft Sanktmartin, Leverkusen;Â
Waldemar Lustig, Mitglied der Heimatortsgemeinschaft Sanktmartin, Bietigheim;Â
Prof. Katrin Boeckh, Leibniz-Institut fĂĽr Ost- und SĂĽdosteuropaforschung, Regensburg;Â
Bernhard Fackelmann, Vorsitzender der Heimatortsgemeinschaft Sanktmartin, MĂĽnchen
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecher
 Der Sommerhimmel ist gewittrig in Gerolzhofen. Dunkle Wolken sind aufgezogen über einem prächtigen Fachwerk-Gebäude im Zentrum des fränkischen Städtchens. Gleich wird es regnen. Das drohende Unwetter hat Elisabth Illich nicht abgehalten, in die Gerolzhofener Altstadt zu kommen. Besonders der Besuch des „Deutschhauses“ ist für die temperamentvolle Frau ein Herzensanliegen.
O-Ton 1 Elisabeth Illich
„Wir sind hier...das ist das Haus unserer Ahnen. Und da ist unser Ursprung, wir wissen genau, woher wir stammen: Das ist Gerolzhofen! Gucken Sie mal: Franz Deutsch, Buch- und Verlagsdruckerei. (…) Von hier sind die ausgezogen. Und sind von hier bis nach Ulm oder beziehungsweise nach Regensburg…. ...und sind in die Ungewissheit einfach geschippert. Und jetzt freuen wir uns so, dass wir diese Heimat hier nochmal in Gerolzhofen erleben und feiern können.“
Sprecher
Elisabeth Illich, geborene Deutsch, ist eine von rund 400 Besucherinnen und Besuchern , die an diesem Juliwochenende ins unterfränkische Gerolzhofen gekommen sind. Gäste, die wie sie durch die malerische Altstadt bummeln – oder durch das weitläufige Gelände des nahegelegenen Schwimmbades flanieren; Besucher, die auf Bierbänken essen und trinken, während hinter ihnen im Festzelt eine Musikkapelle zum Tanz aufspielt.Â
Atmo Fest „Sanktmartiner“, Bierzelt, Blasmusik kurz hoch
Auf den ersten Blick wirkt es, als wĂĽrde hier eine fränkische Gemeinde ihre traditionelle „Kerwa“ feiern. Die Besucher sind auch von hier – und doch nicht von hier. Sie sind von nah und fern, aus allen Teilen Deutschlands, sogar aus Ungarn nach Unterfranken gekommen.Â
Sprecherin
Doch eigentlich ist dieser Besuch Teil einer viel längeren Reise: Die Menschen, die sich hier zusammengefunden haben, nennen sich „Sanktmartiner“ - und die Fahrt nach Gerolzhofen ist für sie eine Reise in die eigene Vergangenheit. Denn jeder Einzelne von ihnen hat einen Vorfahren, der sich vor 300 Jahren, am 20. Mai 1724, am Platz vor der Kirche der Stadt eingefunden hatte – um von dort aus in ein neues Leben aufzubrechen.
O-Ton 2 Waldemar Lustig Teil 1
„Der Hauptbezug ist eigentlich diese Abreise von diesen über 300 Personen von Gerolzhofen.“
Sprecherin
 ...sagt Waldemar Lustig.
O-Ton 2Â Lustig Teil 2
„Mein Name ist jetzt Lustig, den gab´s vielleicht zehnmal im Ort. Gerolzhofen ist jetzt der Ort, wo die Leute weg sind.  Das ist wohl auch dokumentiert in den StadtbĂĽchern, man kann das nachvollziehen. Wir haben das unglaubliche dankbare GlĂĽck, dass wir die Dokumentation auch dieser Abreise, dass man das richtig nachvollziehen kann.  Â
Sprecherin
Ausgereist sind seinerzeit mehrere hundert Menschen - von Gerolzhofen und Umgebung nach Sankt Martin: Dieser Ort lag damals, im 18. Jahrhundert, weit im Osten des Herrschaftsgebietes der römisch-deutschen Kaiser. Zur Auswanderung aufgerufen hatte die Gerolzhofener Bewohner Johann Georg Harruckern. Der Baron Harruckern bekam nach den Türkenkriegen von den siegreichen Habsburgern Ländereien zugesprochen. Diese Ländereien lagen in der Tiefebene des damaligen Ungarnlandes. Das Problem: Das Gebiet war verwildert, verödet - und fast menschenleer. Harruckern suchte nun Siedler, um sein brachliegendes Land zu bestellen. Und die Obrigkeit unterstützte das Werben des Barons.
ZITATOR
Seine Hoch Geheiligte Majestät wird gĂĽtig erlauben, dass freie Personen jeder Art ins Land gerufen werden, die von jeder öffentlichen Steuer fĂĽr sechs Jahre zu befreien sind und dass diese Freiheit im ganzen Land verkĂĽndet werden kann'Â
Sprecherin
Arbeitskräfte in großem Stil anzuwerben, um verlassene, kriegsverwüstete Regionen zu besiedeln und zu kultivieren: Das war für die Herrscher des 18. Jahrhunderts ein durchaus übliches Vorgehen, sagt die Professorin Katrin Boeckh. Sie forscht am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropa-Forschung in Regensburg.
O-Ton 3 BoeckhÂ
„Also Österreich-Ungarn, aber auch Preußen und auch Russland haben in dieser Zeit eben versucht, Siedler ins Land zu holen.“
Sprecherin
Doch: Was trieb diese Menschen an, ihre Heimat, ihre Verwandtschaft, ihr traditionelles Leben hinter sich zu lassen? In einer Zeit, in der jede Reise ein beschwerliches, wenn nicht gar gefährliches Unterfangen war?
O-Ton 4 Boeckh
„Diese Sanktmartiner werden genauso wie die vielen anderen Kolonisten aus Deutschland, die gekommen sind, aus der Pfalz, aus Bayern, aus Schwaben, aus Franken, aus Elsass, Lothringen...und so weiter: Die werden alle dieselben Gründe gehabt haben, weil: Freiwillig geht natürlich keiner. Es ist mit Sicherheit zu sehen in den wirtschaftlichen Verhältnissen ihrer Herkunftsregionen. Da war eben zu beobachten, dass im 18. Jahrhundert die Zahl der bäuerlichen Unterschichten immer größer geworden ist. Also die Zahl der Kleinbauern, die keine Möglichkeit hatten, für sich und ihre Familie ein Auskommen zu finden. Das war das eine. Das andere war steigende Getreide- und Abgabenpreise. Also das war quasi der Druck zu gehen.
Sprecherin
Eine immer größere Nachkommenschaft hatte in der Heimat nur wenig Chancen, ein eigenes Auskommen zu finden: So fasst es Katrin Boeckh zusammen. Denn nur der Erstgeborene erbte seinerzeit den elterlichen Hof. Seine Geschwister wurden lediglich ausbezahlt. Und: Je mehr sie waren, umso weniger gab es zu verteilen. So richteten sich schlieĂźlich die Hoffnungen auf ein Leben jenseits der Heimat.Â
O-Ton 5 Boeckh
„Und diese Hoffnung war gar nicht so illusorisch. Also diese Hoffnung hat bestanden darin, dass man einen sozialen Aufstieg schafft. Also es gibt die Möglichkeit, die Chance zu sozialer Mobilität nach oben. Und das war eben gegeben dadurch, dass man als Bauer auf einem eigenen Flecken Erde arbeiten kann. Man ist jetzt nicht mehr der Schneider - oder wie auch immer - in einer Stadt, sondern kann über das eigene Stück Land verfügen. Man erhält als Kolonist Land in Erbpacht. Und man ist auch einige Jahre lang befreit von Steuern. Also das ist ein wichtiges Privileg.“
Sprecherin
Waren diese Siedler Unternehmer ihrer selbst, oder „Macher“, wie man heutzutage sagen würde? So weit würde Katrin Boeckh nicht gehen. Doch die Bereitschaft, den Ruf der Freiheit auch zu hören, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen – die war diesem Menschenschlag schon zu eigen, sagt die Regensburger Professorin.
O-Ton 6 Boeckh
„Das Recht auf Freizügigkeit, das man genossen hat als Kolonist. (...)Also Eigeninitiative, Hoffnung auf freies Leben, das war durchaus bestimmend für diese Gruppenwanderungen nach Südosteuropa. Und das dritte Argument oder das dritte Motiv würde ich auch noch dazu fügen. Es gab eine Menge Werbung.“
O-Ton 7 Fackelmann
„Unser Lehensherr, der Harruckern...Also hat er nach Gerolzhofen seine Beamten geschickt. Und hier im alten Rathaus in Gerolzhofen saßen diese Beamten sechs Wochen lang und haben natürlich geworben um Siedler.“
Sprecherin
...weiĂź Bernhard Fackelmann. Auch Fackelmanns Vorfahren lieĂźen sich von den Versprechungen des Barons Johann Georg Harruckern ĂĽberzeugen, von Gerolzhofen nach Sanktmartin auszuwandern, das heute nicht mehr zu Ungarn gehört, sondern zu Rumänien. Bernhard Fackelmann hat die Geschichte seiner Ahnen, der „Samartimer“, ĂĽber Jahrzehnte erforscht – und mehrere BĂĽcher und BroschĂĽren darĂĽber verfasst.Â
Atmo Pferdefuhrwerk auf StraĂźe/Kiesweg
Man weiĂź daher, dass sich die wagemutigen Gerolzhofener Emigranten mit Pferdefuhrwerken nach Regensburg aufmachten. Dass sie dort so genannte Schachteln bestiegen – einfache, hölzerne Transportboote, die die Passagiere in fĂĽnf, sechs Tagen nach Ungarn brachten. Und dass sie von dort an weiterreisten, auf mitgebrachten Wagen durch die Tiefebene Richtung Osten – bis die Siedler schlieĂźlich 1724 in das Gebiet namens Szent Marton, das spätere Sanktmartin, gelangten. Weitere Auswanderer-Gruppen sollten in den Jahren 1725 und 1726 folgen. Was die Gerolzhofener in dieser Region des Banat vorfanden, entsprach kaum den Versprechungen, die man ihnen in der alten Heimat gemacht hatte.Â
O-Ton 8 Fackelmann Teil 1
„Man hat gesagt, sie bekommen ungefähr fünf Hektar Feld. In welchem Zustand dieses Feld war, dass alles versumpft war, hat man wahrscheinlich schon ein bisschen verschwiegen, weil ansonsten hätten sich die meisten nicht auf den Weg gemacht. (…)
Sprecher
Die Versorgung mit trinkbarem Wasser war schlecht. Bald breitete sich die Cholera aus – und raffte die Siedler in Scharen dahin.
O-Ton 8 Fackelmann Teil 2Â
 Also wir sagen so, die Ersten, die kamen, fanden den Tod. Ihre Kinder die Not und erst die Enkelkinder fanden das Brot. Das heißt, es hat ungefähr 70, 75 Jahre gedauert, bis diese Moorlandschaft dann weg war.“
Sprecherin
Die Siedler aus dem Fränkischen verfügten über die notwendigen Ressourcen, um das unwirtliche Land im Osten urbar zu machen, sagt die Forscherin Katrin Boeckh. Sie hatten Geld, denn sie waren von den Erben der elterlichen Höfe ausgezahlt worden. Und sie brachten das Wissen einer modernen Landwirtschaft mit in die ungarische Tiefebene.
O-Ton 9 Boeckh
„Vorher war es vor allem extensive Weidewirtschaft, die von etwa von Slaven oder von romanischen Wanderhirten betrieben worden ist. (...)Die ansässige bäuerliche Bevölkerung war zunächst ja noch in Leibeigenschaft und die hatten kein groĂźes Interesse dran, die allgemeine Produktivität zu erhöhen. Und das ist jetzt eben das, was die Kolonisten neu mitgebracht haben: das Wichtigste, was sie mitgebracht haben, war natĂĽrlich ihr landwirtschaftliches Know-how. Also sie haben die modernen Methoden des Ackerbaus beherrscht. (...)Also konkret wussten sie Bescheid ĂĽber Fruchtwechsel, sie haben gearbeitet mit DĂĽngung, mit Brache. Also insgesamt das System der Drei-Felder-Wirtschaft ist es, was sie angewendet haben und dazu auch neue Instrumente benutzt. Also schwere EisenpflĂĽge, mit denen man tiefer in die Erde reingraben konnte, also tiefes PflĂĽgen wurde damit möglich.“Â
Sprecherin
Zum Erfolg der Landwirtschaft trugen auch Kulturpflanzen bei, die die Siedler aus Gerolzhofen neu pflanzten.
O-Ton 10 Boeckh
„Also sie haben Kartoffeln mitgebracht, Futterrüben, Kraut, Tabak und Wein. Und das hat sie abgehoben von dem, was vorher an Wirtschaftsform, an agrarischer Wirtschaftsform bestanden hat.(...) Sie haben gewusst, wie man eine bäuerliche Wirtschaft führt, auch wie man landwirtschaftliche Produkte vermarktet. (...)Und dann nach wenigen Generationen begann eine Expansion. Also Kolonisten haben begonnen, in anderen Dörfern Land zu pachten und dann durch ihre Anbaumethoden so viel Geld zu verdienen, dass sie das auch kaufen konnten. Das heißt, der soziale Aufstieg ging weiter.“
Sprecher
Es waren nicht nur landwirtschaftliche Traditionen, die die Gemeinde Sanktmartin aufblĂĽhen lieĂź – und die Samatimer unterschied von den wenigen ursprĂĽnglichen Bewohnern der Region. Die Siedler aus Franken bewahrten und pflegten auch das Eigene ihrer Sprache. Diese ist heute Anker und Identität fĂĽr die Sanktmartiner, wohin auch immer es sie verschlagen hat. Diese Sprache der Samatimer, wie sie sich gemäß ihrem Dialekt selber nennen – die sei nochmal besonders – selbst unter der deutschsprachigen Minderheit des Banats, betont Bernhard Fackelmann.Â
O-Ton 11 Fackelmann
„Wir Sanktmartiner sind das einzige Dorf, die aus Franken kommen. Und wenn man unter uns Samatimern redet, dann redet man natürlich Dialekt. Also nie Hochdeutsch, weil wir sind ja noch stolz auf unseren Dialekt. (…) Also wenn ich samatimerisch rede, dann rede ich ganz anders.(…) Aber ich kann auch samatimerisch reden und das gewinnt ein bisschen zwischen fränkischen und zwischen österreichischen. Weil im Laufe der Zeit, wir waren ja 200 Jahre unter österreichischen Monarchie. Und natürlich haben wir da eine Menge Wörter von den Österreichern übernommen. Also wir sagen nicht Tomaten, wir sagen Paradeis. Und wir sagen auch nicht Mais, sondern Kukuruts. Das kommt alles aus dem Österreichischen. (...)Heimat ist ja in erster Linie der Dialekt, in zweiter Linie die Gemeinschaft und der Zusammenhalt.“
Sprecher
Gelebt werden Sprache und Tradition im Dorf: Nicht umsonst tragen die „Samatimer“ den Namen ihres Dorfes: „Sanktmartin“.Â
O-Töne 12 + 13 entfallen
Sprecher
Stets waren die Samatimer allerdings auch Wanderer zwischen den Welten, mussten sich auch als Vermittler begreifen: Zwischen ihrem Dorf fränkischer Kultur und Sprache – sowie einer Umgebung, die zunächst österreichisch-ungarisch war, dann rumänisch. Die Wurzeln, sagt Elisabeth Illich, haben die Sanktmartiner über die Jahrhunderte nie aus dem Blick verloren. Scheinbar unscheinbare Gegenstände wurden und werden für sie zu einem Anker der Erinnerung, in der alten, wie in der neuen Heimat. Die grünen, bauchigen Weinflaschen etwa, wie man sie im Fränkischen überall sieht.
O-Ton 14 Illich
„Ich war total ĂĽberrascht, (...)dass es hier sogar, wenn Feste sind, das dekoriert wird, einfach mit diesen Flaschen. Und es ist wunderbar. Wir hatten den fränkischen Wein, der Gerolzhofener Wein. Meine GroĂźmutter hatte immer diese Flaschen in Sanktmartin. Wir haben aber die Tomaten eingefĂĽllt, weil das ĂĽberwintern sollte. Und weil die so dick, das Glas ist ja unwahrscheinlich dick, von diesem fränkischen, beziehungsweise Gerolzhofener Wein. Und ich habe nie gewusst, dass die wirklich aus Gerolzhofen sind, und dass die Hunderte von Jahren ĂĽberlebt haben.“ Â
Sprecher
„GlĂĽck und Glas, wie leicht bricht das“….auch fĂĽr die Samartimer sollte dieses alte Sprichwort gelten. Zwei Mal stand ihre ganz spezielle Gemeinschaft im 18. und 19. Jahrhundert durch Cholera-Epidemien vor dem Aussterben. Ăśberlebenschancen hatten nur diejenigen Siedler, die kein Wasser tranken. Die Samartimer besannen sich in der Sumpflandschaft der ungarischen Tiefebene alter fränkischen Tugenden – und bauten auf Wein statt auf Wasser. So entstanden die ersten Rebgärten von Sanktmartin. Â
Sprecherin
Doch schon lauerte eine weitere existentielle Bedrohung auf das einzige „fränkische“ Dorf im Banat: Der Nationalismus. In der Doppelmonarchie mit Ă–sterreich pochte der ungarische Reichsteil zunehmend auf kulturelle Homogenität. In Kindergärten und Schulen, in Behörden von den Beamten sollte nur noch ungarisch gesprochen werden. In der Bedrohung vor und auch nach dem Ersten Weltkrieg wurde der deutschen Minderheiten im Banat das Besondere ihrer Sprache und Kultur immer mehr bewusst. Katrin Boeckh:Â
O-Ton 15 BoeckhÂ
„Nach dem Ersten Weltkrieg mussten sie durchaus ringen um ihre eigene Kultur, um ihre eigene Sprache, auch um ihre politische Repräsentanz. Also das Wichtigste waren meistens kulturelle Fragen, Schulen. Ist es das, was sie haben wollten, behalten wollten? Sie wollten einfach ihr Erfolgsmodell behalten - und auch ihre eigene Identität behalten.“Â
Sprecherin
Die Sanktmartiner – sie waren so leicht anfällig für die Versprechungen der Nationalsozialisten, sagt Bernhard Fackelmann.
O-Ton 16 Fackelmann
„1939 hat die damalige Jugend und die damalige Gemeinschaft mit Hitler-Deutschland zusammengearbeitet. (…) Das heißt, unsere Banater-Führer haben sich für das Deutsche Reich interessiert. Sie haben Vereine, alles nach dem Vorbild in Deutschland, gegründet. Sie haben so weit Druck gemacht auf der damaligen rumänischen Regierung, dass wir unabhängig wurden von dem rumänischen Staat.(…) Und all das hat dazu geführt, dass (...)sich Deutsche aus Rumänien schuldig gemacht haben für den Tod von 120.000 Rumänen im Zweiten Weltkrieg.“
Atmo Kriegsgeräusche, Kanonendonner, MaschinengewehrfeuerÂ
Sprecherin
FĂĽr ihren Kampf in der Wehrmacht an der Seite Hitlers, fĂĽr ihre Teilnahme am nationalsozialistischen Vernichtungsfeldzug im Osten: DafĂĽr sollten die deutschen Minderheiten einen hohen Preis zahlen. Als sich der Kriegsverlauf gegen das Deutsche Reich wendete, mussten viele Sanktmartiner vor den anrĂĽckenden sowjetischen Truppen fliehen. Denjenigen, die blieben, erwartete der Entzug ihrer BĂĽrgerrechte, Enteignungen - und die Deportation in russische Arbeitslager. Es seien wohl gemeinsame Erfahrungen solcher Art, die Gruppen wie die Samatimer zusammenschweiĂźten, sagt die Regensburger Professorin Katrin Boeckh.
O-Ton 17 Boeckh
„Ich sehe das so, diese Gruppenidentität kann auch gekommen sein aus der Dynamik der Familien, die einfach zusammenbleiben wollten, auch auf der Flucht vor der heranrückenden Roten Armee, dass man einfach versucht hat, in der neuen Heimat, in die man gezwungen worden ist, in der Bundesrepublik vor allem, zusammenzubleiben.“
Sprecherin
Nach dem Krieg und während der kommunistischen Diktatur in Rumänien siedelten die verbliebenen Sanktmartiner nach und nach aus. Die Wirtschaftsmisere in Rumänien und die Perspektivlosigkeit der Jugend trieb immer mehr von ihnen dazu, die Koffer zu packen. Zudem kaufte die Bundesregierung in großem Stil Rumäniendeutsche frei. Mehr als 200.000 von ihnen kamen so ab 1967 nach Deutschland. Die meisten Samatimer wohnen auch heute nicht weit voneinander entfernt, vor allem in der Nähe von Stuttgart sowie in der Gegend von Augsburg. Dies liege nicht nur daran, dass sie einfach dorthin zogen, wo bereits Familienangehörige wohnten, oder in der Nähe von Übergangswohnheimen eine Bleibe suchten. Bernhard Fackelmann:
O-Ton 18 Fackelmann
„Weil die Gesamtheit, der Zusammenhalt und die Gemeinschaft auch heute noch wichtig ist. Der Mensch ist ja ein Herdentier. Und in der Herde fühlt man sich wohler. Erst wenn man die Heimat verlässt, wenn man eine Heimat verliert, dann kommt erst richtig das Bewusstsein, wer bin ich, wo komme ich her.(…) Ich bin 1980 nach München gekommen. Und ich habe jemanden kennengelernt aus unserer Heimatgemeinde nebenan. Einen Mann, der damals schon über die Geschichte der Auswanderung berichtet hat. Und aus diesem heraus habe ich gesagt: Jetzt habe ich die Wurzeln“
Sprecherin
Bernhard Fackelmann wurde so zum „Geschichtsschreiber“ der ausgewanderten Gerolzhofener. Zu einem, der historisch den groĂźen Bogen spannt, der die Gemeinschaft der Samatimer bis heute zusammenhält.Â
  O-Ton 19 Fackelmann
„Das Spannendste war ja, dass ich herausgefunden habe, warum unsere Ahnen kamen, wer unsere Ahnen waren. Also die ersten, die ausgesiedelt sind, die 380. Ich hab für alle Sanktmartiner, die damals kamen, einen Namen gefundenUnd einer dieser Vorfahren hieß „Deutsch“. Und ich habe herausgefunden, dass dieses Haus, von dem dieser Deutsch ausgewandert ist, hier gleich neben dem Weißen Turm in Gerolzhofen steht. Und wir haben die Familie Deutsch. Da gibt es zwei junge Mädels. Die sind auch hier heute in der Tracht. als wir das erste Mal da waren, habe ich denen schon gesagt, in diesem Hause wohnt eure Verwandtschaft.“
O-Ton 20 Elisabeth IllichÂ
„Und dann habe ich gesagt: Ich weiß, woher ich bin, (...), ich will die Familie kennenlernen.“
Atmo Schritte, Passanten in der Altstadt von Gerolzhofen, darĂĽberÂ
Sprecher
...sagt Elisabeth Illich. Wie damals steht sie an steinernen Stufen, die hinauf führen in das altehrwürdige, rot-weiße Fachwerkgebäude. Seinerzeit war sie unschlüssig: Kann sie das Heimathaus ihrer Urahnen so einfach betreten, nach 300 Jahren?
O-Ton 21 Illich
„Mein Mann sagt: Wir wollen ja nichts... dass die Leute meinen, wir wollen was von denen. Sag ich: Nein! Ich muss die Familie kennenlernen, das ist meine Familie. Das ist die Treppe zur Buchhandlung des Teutschhauses. Ich bin rein, und dann habe ich mich vorgestellt: „Ich bin eine geborene Deutsch!“ (…) Für mich ist es unwahrscheinlich wichtig, weil der Name „Deutsch“ ist etwas, auch in unserer Heimat, etwas ganz Besonderes gewesen. Hier schreibt man das mit „hartem T“, diese Familie Deutsch. In Rumänien wurde es vereinnahmt, wurde ein „weiches D“ gemacht. Das heißt aber nichts, ob wir mit harten oder mit weichen T: Wir gehören zusammen! Und das Gefühl ist auch direkt da gewesen: Es ist Heimat, obwohl wir das hier nie gelebt haben, hier in diesen Räumen. Es ist mehr, als wenn man ein Urlaubsort nochmal besucht, sondern: Man fühlt sich hier direkt zu Hause.“
 Sprecher
Mit der Rückkehr an den Ort, von dem aus ihre Ahnen einst gen Sanktmartin auszogen, schließe sich ein Kreis. Illich spricht von Fügung. Und doch, betont Elisabeth Illich, sei ihr Glück stets begleitet von dem Bewusstsein dafür, mit wie viel Fährnissen Migration und Flucht, wie sie die Sanktmartiner erlebt haben, letzten Endes sein kann.