radioWissen - Bayern 2   /     Angriffe statt Argumente - Wird Gewalt in der Politik salonfähig?

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Ob beim Aufhängen von Wahlplakaten, bei öffentlichen Veranstaltungen oder im Privatleben: Auseinandersetzungen finden immer häufiger pöbelnd, drohend und gewalttätig statt. Im Sommer 2024 kam es zu einer bis dahin nicht dagewesenen Anzahl von gewalttätigen Angriffen auf Politikerinnen und Politiker. Verroht unsere Gesellschaft? Von Daniela Remus

Subtitle
Duration
00:23:21
Publishing date
2024-12-12 09:20
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/angriffe-statt-argumente-wird-gewalt-in-der-politik-salonfaehig/2100865
Contributors
  Daniela Remus
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2100865/c/feed/angriffe-statt-argumente-wird-gewalt-in-der-politik-salonfaehig.mp3
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Shownotes

Ob beim Aufhängen von Wahlplakaten, bei öffentlichen Veranstaltungen oder im Privatleben: Auseinandersetzungen finden immer häufiger pöbelnd, drohend und gewalttätig statt. Im Sommer 2024 kam es zu einer bis dahin nicht dagewesenen Anzahl von gewalttätigen Angriffen auf Politikerinnen und Politiker. Verroht unsere Gesellschaft? Von Daniela Remus

Credits
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Frank Halbach
Es sprach: Hemma Michel
Technik: Anton Wunder
Redaktion: Susanne Poelchau

Im Interview:

Prof. Nicole Deitelhoff, Politikwissenschaftlerin, Leibniz Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt/M.

Prof. Claudia Gatzka, Historikerin, Universität Freiburg/Brsg.

Prof. Wilhelm Heitmeyer, Soziologe, Universität Bielefeld

Prof. Nina Kolleck, Bildungsforscherin, Universität Potsdam

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHERIN

Im Mai 2024 wird der SPD-Politiker Mathias Ecke in Dresden beim Aufhängen von Wahlplakaten von vier Männern krankenhausreif geschlagen. Nur wenige Tage später wird ein Team von Grünen-Politikern bespuckt und angegriffen, ein Kamerateam ist dabei und filmt alles – die Angreifer hält das nicht ab. Kurz darauf greift ein Mann die Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey bei einem öffentlichen Termin in einer Bibliothek an. 

MUSIK ENDE

ATMO

SPRECHERIN

Das alles passiert im Mai 2024, innerhalb weniger Tage.

SPRECHERIN

Und das sind nur die Fälle, über die in den landesweiten Nachrichten oder den überregionalen Medien berichtet wird. Angriffe auf Politiker und Politikerinnen finden aber sehr viel häufiger statt, und das nicht erst im Jahr 2024 und nicht nur in aufgeheizten Wahlkampfphasen. Vor allem gegen diejenigen, die in kleineren Gemeinden oder Kommunen arbeiten, die keinen Personenschutz haben wie diejenigen, die an der Regierung beteiligt sind.

ATMO ENDE

MUSIK privat Take 006 „On Powdered Ground (Mixed Lines)“, Album: Mr Machine; Label: !K7 Records – !K7286CD; Interpret: The Brandt Brauer Frick Ensemble, Komponist: Brandt Brauer Frick; ZEIT: 00:29

SPRECHERIN

2023 hat das Bundeskriminalamt insgesamt 2790 Angriffe auf Politiker gezählt: Davon 1219 Attacken auf Repräsentanten der Partei die Grünen, 478  auf AFD-Mitglieder. Auch Politiker und Politikerinnen der anderen Parteien sind solchen Angriffen ausgesetzt. Und es werden kontinuierlich mehr. Seit 2019 hat sich ihre Anzahl verdoppelt. So weit so ernüchternd. 

MUSIK ENDE

SPRECHERIN

Was bedeutet das für uns und unsere Gesellschaft? Verroht unser Zusammenleben, weil Konflikte und Meinungsverschiedenheiten nicht mehr ausdiskutiert werden, sondern stattdessen geschubst, gespuckt, gemobbt, gehetzt und geprügelt wird? Ist da etwas ins Rutschen geraten, was uns als gesellschaftliche Umgangsform über viele Jahre selbstverständlich erschien? 

TAKE 1 (O-Ton Gatzka) L: 0, 15

Wir haben sicherlich insgesamt in der Geschichte der Bundesrepublik eine Kultur, die gerade politische Konflikte ohne Gewalt versucht zu lösen. Die hat sich allerdings erst ausprägen müssen. Und da ist ein Konsens aktuell womöglich langsam im Aufbrechen. 

SPRECHERIN

Sagt die Historikerin Claudia Gatzka von der Universität Freiburg.

Sie forscht zur Geschichte der Bundesrepublik. 

Zunächst, nach Ende des 2. Weltkriegs, war Gewalt im politischen Umfeld nicht ungewöhnlich, es kam zu politischen Morden und tätlichen Angriffen. Manche Forschende sprechen deshalb von einer anarchischen Übergangszeit. Ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre konnte die Gewaltbereitschaft nach und nach eingehegt werden. An ihre Stelle trat eine politische, wirtschaftliche und demokratische Ordnung, die sich als Norm durchgesetzt hat. . Mit dem Ergebnis, dass Gewalt in der Folgezeit immer stärker aus dem Alltag verdrängt wurde. Und auch als Mittel der politischen Auseinandersetzung gegen Politiker und Politikerinnen war Gewalt bei der gesellschaftlichen Mehrheit verpönt.

TAKE 2 (O-Ton Gatzka) L: 0, 30

Der Gesamtkonsens, dass wir keine Gewalt in der Politik wollen, ist noch da, und der hat sich auch erst im Laufe der Bundesrepublik so herausgestellt. Das war in den 50er Jahren tatsächlich noch gar nicht so sagbar. In den 50er Jahren wurde weder von den Parteien noch von der Öffentlichkeit politische Gewalt als solche thematisiert und auch versucht zu delegitimieren. Da wurde noch nicht der Zusammenhang hergestellt zwischen Demokratie und friedlichem Konfliktaustrag. Das hat sich erst im Laufe der 60er und 70er Jahre herausgebildet. 

SPRECHERIN

Auch wenn das nicht heißt, dass es im öffentlichen Leben keine gewalttätigen Auseinandersetzungen gab: Beispielsweise die Morde, die die Terroristen der RAF auf Repräsentanten des Staates verübten. Oder die Attentate auf die Politiker Oskar Lafontaine und Wolfgang Schäuble. Die Neonazis, die in den 1980er Jahren in deutschen Großstädten linke Punks durch die Straßen hetzten oder die rechten Gruppierungen, die in den 1990er Jahren auf den Straßen Ostdeutschlands, Jagd auf Menschen machten. Ob auf vietnamesische Vertragsarbeiter oder sogenannte Links-Alternative. Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen oder Magdeburg sind dafür Beispiele. Hinzu kamen in Westdeutschland Mordanschläge auf Türkeistämmige Menschen in Mölln oder Solingen. 

MUSIK  „Radar“; ZEIT: 01:46

SPRECHERIN

Gewalt im öffentlichen Raum gab es in Deutschland also immer, aber sie ging meistens von klar benennbaren gesellschaftlichen Gruppen aus, wie etwa den RAF-Terroristen oder den Neonazis. Die breite Öffentlichkeit dagegen war sich einig, dass Gewalt abzulehnen sei. Das hat sich auch bis heute nicht grundlegend geändert, betont Claudia Gatzka. Auch Wenn sich sogenannte Reichsbürger-Netzwerke wegen mutmaßlicher Umsturzpläne vor Gericht verantworten müssen oder wenn rechtsextremistische Organisationen bei paramilitärischen Schießtrainings verhaftet werden, oder, wenn immer mehr Kommunalpolitiker wegen Drohungen gegen ihre Familie aufgeben. Es handelt sich um eine gesellschaftliche Minderheit, die Gewalt in der politischen Auseinandersetzung akzeptiert, so die Historikerin. Trotzdem ist die Entwicklung extrembeunruhigend, auch weil sie sich verstärkt, wie der Bericht des Bundeskriminalamts von 2023 zeigt.  

Denn Gewalt schädigt und verändert nicht nur diejenigen, die Opfer von Attacken und Angriffen werden, sondern letztendlich die ganze Gesellschaft, betont die Historikerin Gatzka. Gewalt,sagt sie,  schafft Unsicherheit, schürt Mißtrauen, sät Zweifel am Staat und seinen Institutionen, weil Bürger nicht geschützt werden. Deshalb ist es existentiell wichtig, zu verstehen, warum und von wem Gewalt in der Politik für angemessen gehalten werde. 

MUSIK ENDE

TAKE 3 (O-Ton Gatzka) L: 0, 20

Dass es zu diesen Gewaltausbrüchen kommt, auf offener Straße, ist, denke ich, letztlich auch dem Umstand geschuldet, dass wir eine wachsende Wut haben auf Repräsentanten der Parteiendemokratie, die in der Form neu ist.

SPRECHERIN

Schon in der alten Bundesrepublik haben Forschende in manchen gesellschaftlichen Gruppen Vorbehalte gegen die Parteiendemokratie beobachtet. Nur in der Zeit zwischen 1960 und 1975 identifizierten sich große Teile der Gesellschaft damit. Damals traten viele Menschen in die Parteien ein und engagierten sich politisch. Diese Euphorie schwächte sich dann ab den 1980er Jahren ab. Hinzu kommt die Wiedervereinigung und die Entwicklung in der sogenannten Nach-Wendezeit in Ostdeutschland. Auf die kurze Euphorie in den frühen 1990er Jahren folgen schon bald persönliche und politische Enttäuschungen, auf unterschiedlichsten Ebenen. Auch ohne sie alle hier im Einzelnen diskutieren zu können ist klar, dass diese Erfahrungen bei manchen eine Abkehr von der Parteiendemokratie bewirkt hat. Und die äußert sich heute emotional, affektiv und in Wut: 

 TAKE 4 (O-Ton Gazka) L: 0, 30

Heute haben wir eine wachsende Wut, die damit zusammenhängt, dass Erwartungen lange sehr hoch waren, weil die Bundesrepublik ja eine sehr gute Erfolgsbilanz hatte und hat. Und die seit einigen Jahren offensichtlich wegbröckelt.

SPRECHERIN

Gewaltbereitschaft kann also, zumindest in bestimmten Gruppen, mit wachsender Demokratieverdrossenheit zu tun haben. 

Und diese Demokratieverdrossenen, Wütenden sind ein bundesweites Phänomen. Selbst wenn sich die Motive zwischen Ost und West unterscheiden, diese Gruppen eint, dass sie sich nicht repräsentiert fühlen von der Mehrheit der Politiker und Politikerinnen in Deutschland. Denn, auch darauf weist die Historikerin Gatzka nachdrücklich hin, die Gesellschaft sei im Ganzen betrachtet, nicht unbedingt demokratischer und liberaler geworden: 

MUSIK  „Radar“; ZEIT: 00:55

SPRECHERIN

Gesellschaftliche Entwicklungen verlaufen nicht linear. Und nicht immer werden liberale Veränderungen beispielsweise in der Gesetzgebung von der Mehrheit der Gesellschaft mitgetragen. Besonders in unsicheren, krisenhaften Zeiten, das belegt ein Blick in die Geschichte, so Claudia Gatzka, verlieren Menschen das Vertrauen in die jeweilige Regierung oder gleich in ihren Staat. So wie wir es zurZeit auch beobachten können. In einigen gesellschaftlichen Gruppen scheint sogar das Vertrauen in die demokratische Staatsform grundlegend erschüttert zu sein. Das zeigen auch Untersuchungen der Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff vom Leibniz Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt/M. Demokratie gilt den meisten Menschen, abstrakt gefragt, zwar als die beste Staatsform.

TAKE 6 (O-Ton Deitelhoff) L: 0,30

Dann sind die Werte plötzlich ganz anders, dann sehen wir, dass sie stark abnehmen und zwar ungefähr seit 2015,16 sehen wir diesen Knick nach unten, in den ostdeutschen Ländern noch viel stärker als in den westdeutschen Ländern und bei denjenigen, die sich selbst für sozial abgehängt halten, nochmal viel stärker als bei den Gutverdienenden. 

SPRECHERIN

Und auch zwischen den Generationen sind Unterschiede sichtbar: Je älter und besser verdienend, desto größer ist die Zustimmung zur gegenwärtigen demokratischen Praxis, je sozial schwächer und je jünger die Menschen sind, desto stärker nimmt diese Akzeptanz ab. 

TAKE 7 (O-Ton Deitelhoff) L: 0, 15

Generell haben wir eher das Problem jeder findet die Demokratie als Idee noch prima, aber das Gefühl ist, dass die Demokratie, die um mich herum ist, irgendwie defizitär ist, mit der stimmt irgendetwas nicht, da hab ich nichts zu sagen, die kümmern sich nicht um mich. 

SPRECHERIN

Das diffuse Gefühl von „da hab ich nichts zu sagen”, wird nicht nur im Internet in den unterschiedlichsten Foren genährt, sondern auch von einigen Politikerinnen und Politikern. Und zwar indem diese existentielle Untergangsszenarien skizzieren. Die sind, so erklärt der Soziologe Wilhelm Heitmeyer letztendlich eine Kampfansage an das demokratische System, weil sie Zweifel daran säen, dass die Demokratie die gegenwärtigen Krisen meistern kann. 

TAKE 8 (O-Ton Heitmeyer) L: 0, 30

Wir haben es gerade auch aus dem rechten, rechtsextremen Spektrum mit einer Emotionalisierung aller Probleme zu tun, und diese Emotionalisierung führt an vielen Stellen weg von rationalen Auseinandersetzungen mit Argumenten. Sondern die Emotionalisierung liefert dann gleichzeitig auch Entsicherungen mit. Und das sind dann Legitimationen für Gewalt. 

SPRECHERIN

Diese „Entsicherungen” von denen Wilhelm Heitmeyer spricht, steigern die Bereitschaft, Gewalt anzuwenden und führen nicht selten tatsächlich zu Gewalttaten. Sie speisen sich aus Gefühlen, die vor allem mit Angst zu tun haben: Kontrollverlust, sozialer Abstieg, Arbeitslosigkeit.

Dazu kommen „sprachliche Grenzverschiebungen“ durch bestimmte Politiker, die das Klima aufheizen. Und diese Sprache bereitet den Boden für Taten, für gewalttätiges Verhalten, so der Soziologe:

TAKE 9 (O-Ton Heitmeyer) L: 0, 30

Und wenn dann …mit einer Untergangsrethorik gearbeitet wird, also Untergang des deutschen Volkes, Untergang der deutschen Kultur etc. dann kann man daraus – und wer will schon untergehen – daraus dann ein Notwehrrecht konstruieren. Und Notwehr legitimiert immer Gewalt!

SPRECHERIN

Denn Notwehr suggeriert eine existentielle Bedrohung, die „eingedämmt“ werden muss. Und damit werden diejenigen, die in der politischen Auseinandersetzung eine andere Meinung oder einen anderen Lösungsansatz vertreten, zu Gegnern, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt, sagt Claudia Gatzka:

TAKE 10 (O-Ton Gatzka) L: 0,30

Die Legitimität des Gegners wird ja fundamental in Frage gestellt, wenn ich Gewalt ausübe, ihm gegenüber. Ich möchte ihn weghaben, ich möchte ihn im Grunde eliminieren, ich erkenne ihn nicht an, auch als Mensch! 

MUSIK privat Take 006 „On Powdered Ground (Mixed Lines)“, Album: Mr Machine; Label: !K7 Records – !K7286CD; Interpret: The Brandt Brauer Frick Ensemble, Komponist: Brandt Brauer Frick; ZEIT: 00:42

SPRECHERIN

Diese Delegitimierung, also Nicht-Anerkennung, ist ein entscheidender Aspekt, um die Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker zu erklären, da sind sich die Forschenden einig. Die Ursachen dafür sind, soziologisch betrachtet, sehr komplex. Sie lassen sich nicht allein auf demokratiefeindliche, extremistische Untergangsrhetorik und die damit verbundenen Verlustängste erklären. Wilhelm Heitmeyer von der Universität Bielefeld, versteht diese Entwicklung, die er „Durchrohung“ nennt, auch als Ergebnis struktureller Ungleichheiten, die unsere Gesellschaft prägen:

MUSIK ENDE

TAKE 11 (O-Ton Heitmeyer) L: 0, 20

Die kapitalistische Gesellschaft spricht nur Anerkennung aus für Gewinner. Das heißt, für diejenigen, die sich durchsetzen…, ob das mit Geld ist oder mit Status, das sind solche Entwicklungen, die in diese Durchrohung mit hineinführen.

SPRECHERIN

Die Strukturveränderungen sind demnach ein weiterer, entscheidender Faktor um zu erklären, warum sich bestimmte Gruppierungen nicht von diesem Staat repräsentiert fühlen. Je stärker die Prinzipien der kapitalistischen Logik auch die sozialen Beziehungen formen, ihre Lebenswelten also nach Effizienz und Nützlichkeit bewerteten, desto mehr Menschen bleiben als Verlierer zurück, meint der Soziologieprofessor. Zumindest fühlten sie sich als solche, selbst wenn sie gut versorgt zur Mittelschicht gehörten. Aber das ökonomistische Denken, so Wilhelm Heitmeyer, beeinflusst die Gefühlslage vieler Menschen. Die sich deshalb, verstärkt durch die Untergangsrethorik extremistischer Gruppen, das Recht herausnehmen auf die politischen Vertreterinnen und Vertreter des Staates, emotional zu reagieren.  Hochaffektiv, mit Null-Toleranz, Wut und Gewalt:

TAKE 12 (O-Ton Heitmeyer) L: 0, 30

Kriminologen und Soziologen sprechen davon, dass je dominanter die Ökonomie wird, umso poröser werden die Bindungen an Werte und Normen. Und das hat dann durchaus Folgen, …und das setzt auch Aggressivität und verrohtes Verhalten dann frei. Also es geht immer wieder um das Verhältnis von gesellschaftlichen Strukturen und Verhaltensweisen.

MUSIK privat Take 006 „On Powdered Ground (Mixed Lines)“, Album: Mr Machine; Label: !K7 Records – !K7286CD; Interpret: The Brandt Brauer Frick Ensemble, Komponist: Brandt Brauer Frick; ZEIT: 00:56

SPRECHERIN

Dieses Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Strukturen und individuellen oder gruppenspezifischen Verhaltensweisen wird seit rund 20 Jahren zusätzlich durch die digitale Kommunikation gestaltet. Die quasi unbegrenzten Möglichkeiten im Netz, die Wut herauszulassen, den Frust in miesesten Haß-Reden abzulassen, verstärkt bei manchen das Gefühl, im Recht zu sein und endlich den Gegnern mal so richtig die Meinung zu sagen. Insofern spielen die digitalen Medien eine entscheidende Rolle bei der Radikalisierung und De-Legitimierung der vermeintlichen politischen Gegner. Denn durch die Algorithmen mit denen dort sichergestellt wird, dass Menschen mit den Inhalten bedient werden, die ihren Interessen entsprechen, verstärken sich die Gefühle derjenigen, die in diesen Gruppen unterwegs sind. Ein Effekt, der mittlerweile auch an den Schulen zu beobachten ist.

MUSIK ENDE

TAKE 13 (O-Ton Kollek) L: 0, 20

Und auch die Sprache, das lässt sich ja auch sehr gut nachzeichnen (…) da sehen wir ja auch, dass der sprachliche Austausch sich hier verändert hat und wir die Verrohung der Sprache auch sehr stark sehen, im Umgangston miteinander. Insbesondere unter jungen Menschen. 

SPRECHERIN

Sagt die Bildungsforscherin Nina Kollek von der Universität Potsdam. In Schulen und an Universitäten habe sich eine Sprache etabliert, die durchaus gewaltverherrlichend sei, antisemitisch und rassistisch. Das ist gefährlich, so die Bildungsforscherin, denn Sprache ist im¬mer beides: Einerseits formt sie das Denken und Handeln der Menschen, die sie nutzen, und an¬der¬erseits drückt sie deren Denken aus.

TAKE 14 (O-Ton Kolleck) L. 0, 30

Und die jungen Menschen, wenn man mit denen darüber ins Gespräch kommt, … die sehen das auch so, viele fühlen sich auch bedroht dadurch. Manche machen dann aber auch irgendwie mit. Das sind verschiedene Effekte, die da eine Rolle spielen, einerseits lassen sie sich davon anstecken, von dem Umgangston in den Schulen selbst, aber viele sagen auch, dass es die sozialen Medien sind, die die jungen Leute dahingehend pushen. 

MUSIK „In your head now“, ZEIT: 01:05

SPRECHERIN

Aber die sozialen Medien sind aus dem Leben nicht mehr wegzudenken, sie sind vielmehr ein fester Bestandteil davon. Beschimpfungen, Demütigungen und massive Ausgrenzungen können so eine enorme Wucht entfalten, denn dank der digitalen Medien verbreiten sie sich effektiver als je zuvor, wie verschiedene Studien gezeigt haben. Die Folge: Lügen stehen neben Fakten, haltlose Anschuldigungen neben berechtigten Klagen, Menschen werden mit Shitstorms überzogen, manche sogar in den Suizid getrieben. Und bei denen, die in diesen Foren und Chatgruppen unterwegs sind, entsteht dann der nicht zutreffende Eindruck, sie seien die Mehrheit, sie würden die Gesellschaft oder zumindest einen überwiegenden Teil davon repräsentieren. Für den Zusammenhalt in diesen Gruppen erweisen sich Verschwörungserzählungen als identitätsstiftend, zeigen Forschungen von Nina Kolleck:

MUSIK ENDE

TAKE 15 (O-Ton Kollek) L: 0, 30

Wir selber haben uns jetzt auch solche Verschwörungserzählungen angeschaut und da sehen wir, dass es schon Verschwörungserzählungen sind, verbunden mit einer Verrohung der Sprache, weil so oft dieses Freund-Feind Schema aufgebaut wird. Wir sind die Freunde und ihr seid die Feinde, und die Feinde gilt es zu bekämpfen oder gar auch zu vernichten, mit Gewalt zu vernichten! Da sehen wir, dass solche Verschwörungserzählungen in Zeiten der Unsicherheit besonders tragfähig sind, besonders weit verbreitet. 

SPRECHERIN

Im Gegensatz zur Vor-Internet- und zur Vor-Smartphone-Zeit gibt es nicht mehr die eine Öffentlichkeit, sondern es entstehen immer mehr Öffentlichkeiten. Und das bedeutet, dass sich auch normativ einiges verschiebt, was über Jahrzehnte als selbstverständlich galt. Denn jede und jeder kann in der eigenen Internet-Blase anderen Normen folgen. Und deswegen verlieren solche normativen Übereinkünfte, wie der Gewaltverzicht in der politischen Auseinandersetzung, oder das Ideal einer rationalen Diskussion, um bestmögliche Lösungen zu finden, in immer mehr gesellschaftlichen Gruppen an Rückhalt und Bedeutung. 

Verstärkend kommt hinzu, dass sich die meisten Menschen vor allem im eigenen sozialen Umfeld bewegen. Freunde, Wohnung, Schulen und Arbeitsstätte, es kommt immer seltener zu Vermischungen zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen. Und zwar in der realen Welt genauso wie im Internet, so Nicole Deitelhoff:

TAKE 16 (O-Ton Deitelhoff) L: 0, 30

Zusammengenommen ist das sehr unschön für den Zusammenhalt. Weil wir einerseits nicht mehr in Kontakt miteinander kommen und dadurch unsere Differenzen auch nicht verhandeln können, sondern eigentlich bauen wir die dadurch nur immer mehr auf und finden die immer natürlicher. Und auf der anderen Seite, wenn wir uns nicht miteinander auseinandersetzen, (…) dann sind wir auch sehr viel grober miteinander, weil wir eben denken, da gibt es nichts zu verhandeln. 

SPRECHERIN

Das Desinteresse, das durch das Schweigen, durch die Sprachlosigkeit zum Ausdruck kommt, ist für Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff ein ganz entscheidender Grund dafür, warum sich unser Umgang verändert hat, und warum Gewalttätigkeit zunimmt. Jede Gruppe interessiere sich ausschließlich für ihre eigenen Probleme, Bedürfnisse und Lebensplanungen, andere kommen dabei höchstens als Störenfriede oder als politische Gegner vor. Deshalb würden viele gesellschaftlichen Konflikte nicht mehr ausgehandelt. Da ist auch die Einschätzung von Nina Kolleck:

TAKE 17 (O-Ton Kolleck) L: 0, 30

Wir müssen auf jeden Fall viel mehr ins Gespräch gehen, wir müssen viel mehr wieder in die Gesellschaft bringen, wie wichtig es ist, auch eine Kommunikationskultur zu haben, … weil das Problem was wir haben ist, wenn wir das Ganze einfach laufen lassen, es wird überall überschwappen, es wird dann normal sein, so übereinander zu reden und zu hetzen und es wird dann in der Konsequenz auch zu noch mehr physischer Gewalt führen …wenn wir da jetzt nichts tun und Maßnahmen dagegen ergreifen, gerade auch an den Schulen, dann wird sich das höchstwahrscheinlich noch mehr zuspitzen. 

MUSIK privat Take 006 „On Powdered Ground (Mixed Lines)“, Album: Mr Machine; Label: !K7 Records – !K7286CD; Interpret: The Brandt Brauer Frick Ensemble, Komponist: Brandt Brauer Frick; ZEIT: 00:44

SPRECHERIN

Dieser Teufelskreis fĂĽhrt letztendlich dazu, dass sich manche Menschen und einige Gruppen aus unserer demokratischen Gesellschaft verabschiedet haben. Wie Studien zeigen, ist es diese Distanz zu unserer Gesellschaft und unserem Staatswesen, die dazu fĂĽhrt, Gewalt gegen Andersdenkende nicht nur fĂĽr legitim, sondern sogar fĂĽr geboten zu halten. Das ist alarmierend. Und wir alle sind aufgerufen, uns in Gesprächen, Diskussionen, bei Demonstrationen und im täglichen Leben fĂĽr unser demokratisches Gemeinwesen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt einzusetzen. Â