Wenn wir Angst haben, schlägt unser Herz schneller. Oder haben wir Angst, weil unser Herz schneller schlägt? Es ist ein kleiner, aber wichtiger Unterschied. Einige Forschende sprechen von einer Art "innerem Sinn", mit dem wir Prozesse im Körper wahrnehmen. Wie beeinflusst uns das? Von Maike Brzoska
Wenn wir Angst haben, schlägt unser Herz schneller. Oder haben wir Angst, weil unser Herz schneller schlägt? Es ist ein kleiner, aber wichtiger Unterschied. Einige Forschende sprechen von einer Art "innerem Sinn", mit dem wir Prozesse im Körper wahrnehmen. Wie beeinflusst uns das? Von Maike Brzoska
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Amberger, Friedrich Schloffer
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Thomas Forkmann, Professor an der Universität Duisburg-Essen
Beate Herbert, Professorin an der Hochschule Fresenius München
Christian Roggenhofer, Psychologe und Psychotherapeut in Pforzheim
Wolfgang Tschacher, emer. Professor an der Universität Bern
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
Linktipps:
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
JETZT ENTDECKEN
Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Vor einigen Jahren machte ein Hautarzt in den USA eine erstaunliche Entdeckung. Seinen Patientinnen und Patienten spritzte er regelmäßig das Bakteriengift Botulinumtoxin, besser bekannt als Botox.
01 OT (Tschacher)
Also Botox ist ja so ein Gift, das man injizieren kann in kleinen Dosen und dann gehen die Falten weg.
SPRECHERIN
Sagt der Psychologe Wolfgang Tschacher. Er ist emeritierter Professor an der Universität Bern. Botox lähmt die Muskeln, in die es gespritzt wird. Wird es zum Beispiel in die tiefe Stirn injiziert, verschwindet die Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen. Eine gängige Behandlung, die auch der Dermatologe in den USA regelmäßig vornahm. Dabei fiel ihm mit der Zeit auf, dass bei einigen Patienten durch die Behandlung nicht nur die Sorgenfalten verschwanden – sondern auch die Sorgen. Der Faltenkiller Botox ein Antidepressivum? Mittlerweile haben auch Forschende das Phänomen untersucht.
02 OT (Tschacher)
Tatsächlich hat man einen geringen Effekt gefunden von solchen Interventionen. Also ich bin jetzt selbstverständlich nicht dafür, dass man Depressionen mit Botox-Injektionen behandeln sollte. Ich denke, da gibt es bessere psychologische und psychotherapeutische Verfahren. Aber der Effekt ist auch in dem Zusammenhang vorhanden.
SPRECHERIN
Die Muskeln in der Stirn haben also offenbar einen Einfluss auf die Stimmung. So als würden sie melden: Alles entspannt an der Stirnfront!
03 OT (Tschacher)
Mein Gesichtsausdruck ist so, als ob es mir gut geht. Und dann geht es mir ein kleines bisschen wirklich besser.
MUSIK 2 ( Lisa-Maria Puy: Hey Lovely (Instrumental)1‘10)
SPRECHERIN
Ähnliche Effekte haben Forschende auch in anderen Experimenten gefunden. So führte ein erzwungenes Lächeln dazu, dass die Teilnehmenden einen Cartoon lustiger fanden. Das Lächeln kam so zustande, dass die Probanden beim Anschauen des Cartoons einen Stift zwischen den Zähnen halten mussten. Auf diese Weise wird ein Muskel aktiviert, der auch beim Lächeln angespannt wird. Und auch hier zeigte sich: Eine körperliche Veränderung führte zu einer veränderten Stimmung, und – in diesem konkreten Fall – zu einer anderen Bewertung des Cartoons. Im Gesicht haben wir besonders viele Muskeln, um Stimmungen und Gefühle auszudrücken. Wenn wir lächeln, spannen wir Mund- und Augenpartien an. Wir runzeln die Stirn, wenn wir nachdenken oder zweifeln. Und wir machen große Augen, wenn wir erstaunt sind. Aber auch unser ganzer Körper spiegelt wider, wie es uns geht. Das zeigt sich zum Beispiel beim Gehen.
04 OT (Tschacher)
Wir gehen je nach Emotion unterschiedlich. Die Gangart, die ganze körperliche Koordination beim Gehen, beim alltäglichen Gehen ist geprägt durch die Stimmung. Wir gehen unterschiedlich, wenn wir trauriger Stimmung sind, als wenn wir fröhlich sind.
SPRECHERIN
Wenn Menschen bedrückt sind, niedergeschlagen, dann bewegen sie auch entsprechend: Sie gehen eher nach vorne gebeugt und sind gekrümmt. Sind sie hingegen fröhlich, dann gehen sie aufrecht und federn leicht nach oben. Und auch hier kann man über den Körper – genauer: über die Körperhaltung – Einfluss nehmen auf die Gefühle. Das zeigen entsprechende Studien, aber ein Stück weit ist das auch Alltagswissen. So sagen wir zu jemandem mit gedrückter Stimmung: Kopf hoch! Oder nach vorne schauen! Wir empfehlen also Körperhaltungen, bei denen man sich eher aufrichtet.
05 OT (Tschacher)
Und wenn man das Gehen beeinflusst, dann hat es ne Rückwirkung auf die Psyche, auf die Emotion. Also es geht in beide Richtungen, und das findet man nicht nur beim Gehen, sondern in vielerlei anderer Hinsicht auch.
SPRECHERIN
Körper und Psyche beeinflussen sich gegenseitig. Forschende sprechen von Embodiment, zu deutsch: Verkörperung. Das bedeutet, Stimmungen, Gedanken und Gefühle auf der einen Seite und Mimik, Haltung und vegetative Reaktionen, wie ein beschleunigter Puls, auf der anderen Seite sind untrennbar miteinander verbunden. Es gibt ständig wechselseitige Rückmeldungen – ähnlich wie in einem Pingpong-Spiel. Dieses Wissen macht man sich inzwischen bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen zunutze.
06 OT (Tschacher)
Das ist was, was sich schon durchgesetzt hat in vielen Bereichen, also man macht Yoga, man macht Kampfsportarten, man macht Achtsamkeitstraining und Meditation, was sehr stark körperlich fundiert ist, durch geregeltes Atmen, spezielle Form des Sitzes. Also da ist es schon so, dass man sich in bestimmte psychische Zustände hineinbegeben kann, und zwar dadurch, dass man den Körper variiert und in die richtige Position und Positur bringt.
MUSIK 3 ( Konstantin Gropper & Ziggy Has Ardeur - Lesson 3 – Communication 0‘40)
SPRECHERIN
Eine beliebte Achtsamkeitsübung ist der sogenannte Body-Scan. Dabei wird die Aufmerksamkeit nacheinander auf verschiedene Körperteile gelenkt.
ZITATOR
Richte deine Aufmerksamkeit nun deine Füße. Was nimmst du wahr? Den Kontakt mit dem Boden? Vielleicht Wärme oder Kälte? Nun wandere mit deiner Aufmerksamkeit von deinen Zehen über die Füße und Knöchel weiter zu den Unterschenkeln….
SPRECHERIN
Durch den Body-Scan kann man lernen, den eigenen Körper besser wahrzunehmen, ihn besser zu spüren. Denn darin unterscheiden sich die Menschen. Das zeigt zum Beispiel der sogenannte Herzraten-Test.
07 OT (Forkmann)
Der klassische Test sieht vor, dass man im Prinzip seinen Herzschlag zählen soll, ohne Hilfsmittel, also ohne die Uhr zur Hilfe zu nehmen oder den Puls zu fühlen.
MUSIK 4 ( Massive Attack: Teardrop 1‘00)
SPRECHERIN
Sagt der Psychologe Thomas Forkmann. Er ist Professor an der Universität Duisburg-Essen.
08 OT (Forkmann)
Und gleichzeitig wird ein EKG aufgezeichnet, das heißt, die tatsächlich stattfindenden Herzschläge werden gemessen und aufgenommen. Und dann kann man daraus eine Übereinstimmung berechnen, also letztlich errechnen, wie gut die eigene gezählte Wahrnehmung der Herzschläge mit der objektiv gemessenen übereinstimmt.
SPRECHERIN
Es zeigte sich, dass die meisten Menschen eine ungefähre Ahnung haben, wie oft ihr Herz schlägt. Aber ein kleiner Teil, etwa 10 bis 20 Prozent, nimmt den eigenen Herzschlag ganz genau wahr, kann also praktisch mitzählen, wie oft das Herz schlägt. Der Herzraten-Test gilt als Maß für die sogenannte Interozeption. Das ist eine Art innerer Sinn für die Signale aus dem eigenen Körper.
09 OT (Forkmann)
Unter Interozeption verstehen wir quasi den Prozess, mit dem das Nervensystem Signale vom Körperinneren wahrnimmt, interpretiert und integriert. Also das heißt zum Beispiel unseren Herzschlag oder unsere Atmung oder die Körpertemperatur, die werden wahrgenommen und vom Gehirn weiterverarbeitet.
MUSIK 5 ( Lisa-Maria Puy - My Secret Language (Instrumental) 0’30)
SPRECHERIN
Auch Hunger oder Durst sind Signale aus dem Körperinneren.
10 OT (Herbert)
Das ist ja sehr wichtig, weil wenn wir Hunger empfinden – das müssen wir können – dann müssen wir handeln. Dann muss ich losgehen, muss ich mir was zu essen holen.
SPRECHERIN
Sagt die Psychologin Beate Herbert. Sie ist Professorin an der Hochschule Fresenius München.
11 OT (Herbert)
Und wenn ich dann esse, dann muss ich auch wahrnehmen können: Jetzt muss ich aufhören, jetzt bin ich voll.
SPRECHERIN
Neben diesen Signalen, die wir bewusst wahrnehmen, gibt es aber auch eine ganze Reihe von Signalen, die unbewusst ablaufen.
12 OT (Forkmann)
Wir können sicherlich davon ausgehen, dass ein Großteil dieser Signale eher unbewusst weiterverarbeitet werden und wir das in vielen Fällen gar nicht mitkriegen. Die Organe melden eigentlich über sogenannte afferente Nervenbahnen, also Nervenbahnen von den Organen zum Gehirn, mehr oder minder fortlaufend so was wie Statusmeldungen, Informationen darüber, was in den Organen gerade so passiert. Und da kann man sich gut vorstellen, dass wir vieles davon nicht bewusst verarbeiten.
SPRECHERIN
Die interozeptive Wahrnehmung ist eng verknüpft mit Gefühlen wie Angst, Trauer oder Freude. Zum Beispiel, wenn wir körperliche Veränderungen bemerken und bewerten. Etwa wenn das Herz plötzlich sehr schnell schlägt. Dann kann das daran liegen, dass man gerade die Treppe hochgelaufen ist…..
13 OT (Forkmann)
Oder aber, wenn es keine gute, naheliegende Erklärung dafür gibt, kann es auch schon mal sein, dass das Ganze irritierend oder vielleicht auch als gefährlich bewertet wird. Und das ist ein Beispiel, wo Körperwahrnehmungen ganz unmittelbar auch Gefühle auslösen können.
SPRECHERIN
Zum Beispiel Angst vor einem Herzinfarkt.
14 OT (Forkmann)
Aber auch, wenn wir das nicht so direkt bewusst wahrnehmen, was wir bewerten, spielen diese körperlichen Aspekte bei der Entstehung von Gefühlen immer eine große Rolle.
MUSIK 6 ( Aus.Gleich – Libellenflug 0’37)
SPRECHERIN
Wie hängen Körperwahrnehmung und Gefühle zusammenhängen? Was bedeutet es, dass wir etwa über ein erzwungenes Lächeln unsere Stimmung verändern können? Im Grunde sind das sehr alte Fragestellungen, die Forschende diskutieren. Angestoßen hat die Debatte der Psychologe William James bereits Ende des 19. Jahrhundert.
15 OT (Herbert)
William James hat sozusagen die Wissenschaftswelt damals etwas auf den Kopf gestellt und hat gesagt: Gefühle entstehen aus der Wahrnehmung von körperlichen Veränderungen und nicht umgekehrt.
SPRECHERIN
Also zum Beispiel:
16 OT (Herbert)
Wir weinen nicht, weil wir traurig sind, sondern wir sind traurig, weil wir weinen.
MUSIK 7 ( Shanice – I Love Your Smile 0’30)
SPRECHERIN
Ebenso könnte man fragen: Lächeln wir, weil wir gute Laune haben? Oder haben wir gute Laune, weil wir lächeln? Schlägt unser Herz schneller, weil wir Angst haben? Oder haben wir Angst, weil unser Herz schneller schlägt? Bis heute ist nicht ganz klar, wie Emotionen entstehen und was zuerst da war – aber dass unser Körper dabei eine bedeutende Rolle spielt, bezweifelt heute kaum noch jemand.
Das war ein Stück weit anders Ende des letzten Jahrtausends.
17 OT (Herbert)
Wo George W. Bush sozusagen diese decade of the brain ausgerufen hat.
SPRECHERIN
… also die Dekade des Gehirns …
18 OT (Herbert)
Die praktisch eine Initiative darstellen sollte zur Intensivierung der neurowissenschaftlichen Forschung, um mehr über uns herauszufinden. Und da hat man sich eben lange Zeit primär auf das Gehirn konzentriert. Also nur das Gehirn.
SPRECHERIN
Man hoffte, auf diese Weise, menschliches Verhalten, auch Emotionen, entschlüsseln zu können.
19 OT (Herbert)
Wir haben tolle neue Technologien, wir haben bildgebende Verfahren, und dann hat man auch ganz viele Erkenntnisse hervor befördert. Hat aber schnell gemerkt, das langt nicht. Wir verstehen diese Befunde gar nicht.
SPRECHERIN
Beate Herbert, die sich schon sehr lange mit dem Thema Körperwahrnehmung beschäftigt, wundert das nicht.
20 OT (Herbert)
Unser Gehirn ist im Prinzip ja eingeschlossen in so einem knöchernen Schädel. Das hat ja überhaupt keinen Zugang, weder zur externen Welt als auch nicht zum eigenen Körper, sondern dieser Zugang geschieht im Prinzip über Sensoren.
SPRECHERIN
Also über externe Sinne wie Sehen, Riechen oder Schmecken. Aber eben auch über den inneren Sinn für die Signale aus dem Körper.
21 OT (Herbert)
Das heißt, nur dadurch ist das Gehirn in der Lage, Reize zu bekommen aus der Welt, aber auch aus dem eigenen Körper, die es dann zusammenbringen muss, um die Bedeutung dieser Reize zu entschlüsseln.
MUSIK 8 ( Mittekill – Krittler 0’55)
SPRECHERIN
Wir sind mehr als unser Gehirn. Auftrieb bekam diese Sichtweise auch aus einer ganz anderen Richtung – der Robotik-Forschung.
22 OT (Herbert)
Weil die Künstliche-Intelligenz-Forschung auch ganz schnell verstanden hat: Um intelligent zu sein, braucht man einen Körper, der mit der Umwelt interagieren kann. Ich brauche Sensoren, ich brauche Extremitäten. Und dann kann ich sozusagen intelligentes Verhalten ermöglichen.
SPRECHERIN
Das gilt für Roboter, aber auch für uns Menschen. Denn es hat sich gezeigt: Je besser unser innerer Sinn, also unsere Interozeption, desto besser ist auch unsere Intuition.
23 OT (Forkmann)
Es gibt eine Reihe von Studien, die nahelegen, dass sozusagen ein guter Zugriff auf diese körperinneren Informationen von Vorteil sind, zum Beispiel bei Entscheidungsaufgaben. Oder anders formuliert: Menschen, die da weniger guten Zugriff darauf haben, die neigen dazu, zum Beispiel riskantere Entscheidungen zu treffen in Studien, wo letztlich bestimmte Verhaltensweisen dann erfragt werden.
SPRECHERIN
Eine gute interozeptive Wahrnehmung ist also so eine Art Bauchgefühl.
24 OT (Forkmann)
Man geht davon aus, dass eben diese körperinneren Informationen eine wichtige Informationsquelle darstellen und letztlich so was wie eine somatische Repräsentation, ne körperliche Repräsentation von Vorerfahrungen darstellen kann, die dann in solchen Kontexten, wo es wenig klare Argumente für eine Entscheidung gibt, den Personen, die solche Entscheidungen treffen müssen, eben zu Hilfe kommen können und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine günstigere Entscheidung getroffen wird. Es geht dabei natürlich nicht um die Frage, möchte ich mir lieber einen roten und blauen Pullover kaufen, sondern eher bei wirklich so unklaren Situationen, die dann aus dem Moment heraus letztlich entschieden werden müssen.
SPRECHERIN
Der Herzraten-Test ist ein sehr häufig eingesetztes Maß dafür, wie stark jemand eigene Körpersignale spürt. Aber es gibt auch noch andere. Beate Herbert hat selbst Testverfahren mitentwickelt, vor allem im Bereich des Hunger- und Sättigungsgefühls.
25 OT (Herbert)
Das interessiert mich auch in den letzten Jahren ganz besonders, weil das eben mit so ganz vielen wesentlichen Prozessen assoziiert ist, also mit der Verhaltensregulation beim Essen, Übergewicht, Adipositas, aber auch den Bereich der Essstörungen, da gabs lange Zeit gar nicht so viel. Da muss ich natürlich mir dann auch Gedanken darüber machen, wie kann ich denn gastrische Funktionen untersuchen?
SPRECHERIN
Mithilfe neuer Technologien ist auch das heute möglich.
26 OT (Herbert)
Das heißt, ich kann gastrische Aktivität messen mit dem Elektrogastrogramm, um zu prüfen, was macht denn der Magen im Moment? Und dann haben wir uns da auch Paradigmen überlegt, die es ermöglichen, den Magen auf kontrollierte Art und Weise zu befüllen, zum Beispiel mit Flüssigkeiten verschiedener Art. Also dass der Proband diese Flüssigkeiten trinkt und dann den Probanden immer zu befragen, dass er angibt, wann fühle ich denn schon erste Signale von Völle-Empfindung. Und dann kann ich das abschätzen, wie gut ist denn diese Völle-Wahrnehmung. Fängt die schon früh an in Relation zur eigentlichen Füllung des Magens oder fängt die erst ein bisschen später an?
SPRECHERIN
Bei solchen Tests zeigte sich zum Beispiel, dass übergewichtige Menschen die Fülle ihres Magens weniger gut wahrnehmen. Ob das allerdings Ursache des Übergewichts ist oder die Folge davon, ist unklar. Man sieht lediglich, dass es einen Zusammenhang gibt.
Auch viele psychische Erkrankungen gehen mit einer gestörten Interozeption einher.
27 OT (Herbert)
Man kann sagen, dass eine gestörte Interozeption so ein transdiagnostischer Prozess ist, der bei ganz vielen psychischen Störungen eine ganz wesentliche Rolle spielt. Das fängt an bei affektiven Störungen wie einer Depression oder Angststörungen. Bis hin aber auch zu solchen Störungen wie eben Essstörungen.
MUSIK 9 ( BenFolds – Waiting For Snow 1’05)
SPRECHERIN
Eine Depression ist eine sehr komplexe Erkrankung, die sich auf vielfältige Weise äußern kann. Dennoch gibt es inzwischen viele Hinweise darauf, dass Depressionen einhergehen mit einer verringerten interozeptiven Wahrnehmung.
28 OT (Forkmann)
Das zeigt sich am stärksten bei mittelgradig depressiv erkrankten Menschen. Und die Befunde legen auch nahe, dass wenn eine Depression vorliegt, dann scheint so eine verringerte interozeptive Genauigkeit auch einherzugehen mit Schwierigkeiten bei Entscheidungsaufgaben oder auch einer verringerten Intensität in der Emotionswahrnehmung.
SPRECHERIN
Mit anderen Worten: Depressive Menschen haben Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen, sie nehmen eigene Gefühle schlechter wahr und sie spüren ihren eigenen Körper weniger gut. Und aus Sicht der Embodiment-Forschung hängt das vermutlich alles zusammen. Daneben sind depressive Menschen oft antriebslos und bewegen sich wenig. Im Rahmen einer Therapie geht es deshalb auch darum, wieder körperlich aktiver zu werden.
29 OT (Tschacher)
Da gibt es Aktivierungstherapien, die erstens mal darin bestehen, dass man sagt okay, erste Aufgabe ist, jeden Tag Sport treiben, jeden Tag eine Aktivität durchführen und nicht zu Hause hocken bleiben. Und das hat eine Wirkung. Ich denke, die Aktivierung spielt eine große Rolle im Rahmen der psychotherapeutischen Behandlung von Depression.
SPRECHERIN
Bei Angst- und Panikstörungen ist die gestörte Körperwahrnehmung ein sehr wichtiger Aspekt der Erkrankung. Denn es kommt zu einer Angststörung, wenn körperliche Veränderungen, etwa ein schnell klopfendes Herz oder starker Schwindel, falsch interpretiert werden. Am Anfang einer solchen Angststörung steht oft eine schwere Panikattacke, sagt der Psychologe und Psychotherapeut Christian Roggenhofer.
30 OT (Roggenhofer)
Dass wir aus heiterem Himmel einen ganz massiven Angstzustand erfahren, der wirklich nicht nur durch ganz heftiges Angstgefühl gekennzeichnet ist, sondern auch durch körperliche Symptome wie Herzrasen, Übelkeit, Schwindel, Zittern und auch ganz starke Hitzewallungen.
MUSIK 10 ( Lisa-Maria Puy - Exploring Bliss (Instrumental) 0’45)
SPRECHERIN
Häufig ist eine Panikattacke ein sehr einschneidendes Erlebnis für die Betroffenen.
31 OT (Roggenhofer)
Und deshalb suchen ganz viele Betroffene dann eben auch den Arzt auf. Oder es wird der Krankenwagen gerufen, um dann aber die Rückmeldung zu bekommen, dass keine lebensbedrohlichen Ursachen zu finden sind.
SPRECHERIN
Nicht selten war übermäßiger Stress letztlich Auslöser für eine solche Panikattacke. Das massive Erleben der Angst kann dann aber zur Folge haben, dass allein schon die körperlichen Symptome – Herzklopfen, Schwindel – angstauslösend sind. Es könnte ja wieder der Beginn einer Panikattacke sein.
32 OT (Roggenhofer)
Sprich das, was der Patient wahrnimmt aus seinem Körper, wird bei den Patienten oftmals als bedrohlich, als lebensgefährlich interpretiert, und daraus entsteht dann die eigentliche Angstreaktion, die Panik.
SPRECHERIN
In Studien zeigte sich, dass Menschen mit einer Panikstörung oft eine stark ausgeprägte interozeptive Wahrnehmung haben.
33 OT (Roggenhofer)
Das heißt, sie können relativ genau wahrnehmen, was im Körperinneren passiert. Und oftmals bezieht sich das vor allem auf die Herztätigkeit.
SPRECHERIN
Roggenhofer geht davon aus, dass Betroffene die intensive Körperwahrnehmung bereits vor ihrer Angststörung hatten. Die Erkrankung selbst führt dann aber oft dazu, dass Betroffene noch mehr in sich hineinhorchen. Schlägt mein Herz gerade schneller? Fange ich an zu schwitzen? Warum kriege ich so schlecht Luft?
34 OT (Roggenhofer)
Ich beobachte auf einmal Dinge im Körper, im Inneren, über die ich mir zuvor nie Gedanken gemacht habe. Und je aufmerksamer ich da ins Körperinnere hinein höre, hinein fühle, hinein spüre, werde ich da auch Dinge entdecken, die ich als nicht gesund oder bedrohlich bewerte.
MUSIK 11 (Warhaus – Shadow Play 1’10)
SPRECHERIN
Im Rahmen einer Therapie geht es dann in der Regel um zweierlei: Einerseits lernen Betroffene, was eine Angststörung ist und was sie ausgelöst haben könnte. Das ist, wenn man so will, die Ebene des Verstehens, also die kognitive Ebene. Andererseits sollen sie aber auch am eigenen Körper spüren, dass bestimmte körperliche Empfindungen nicht lebensbedrohlich sind.
35 OT (Roggenhofer)
Speziell bei der Panikstörung macht man ganz bestimmte körperliche Übungen. Also man sucht quasi bestimmte Körperzustände auf, die eigentlich mit dem Angsterleben eine Panikattacke assoziiert sind.
SPRECHERIN
Zum Beispiel soll der Patient 30 Sekunden lang Kopfschütteln, bis ihm schwindelig wird. Oder er läuft ein paar Minuten möglichst schnell auf der Stelle, bis das Herz rast, der Körper schwitzt und er nach Luft schnappt.
36 OT (Roggenhofer)
Und dann wird quasi der Patient angehalten, diese Übungen zu wiederholen, um dadurch Schritt für Schritt eine Gewöhnung, eine sogenannte Habituation, an diese unangenehmen Körpersymptome zu erfahren.
SPRECHERIN
Auf diese Weise lernen Betroffene, Körperwahrnehmungen wieder richtig einzuschätzen. Sie verstehen, dass sie körperliche Veränderungen fehlinterpretiert haben. Aber sie spüren es eben auch am eigenen Leib. Denn beides gehört zusammen: Verstehen und fühlen. Man könnte auch sagen: Gehirn und Körper.
MUSIK 12 ( BenFolds – Waiting For Snow 0’20)
37 OT (Tschacher)
Wir sind nicht einfach nur unser Gehirn, sondern wir sind Gehirn und Körper und überhaupt alles zusammen in dauernder Wechselwirkung.