Die PoincarĂ©-Vermutung erfasst Geometrie höherer Dimensionen - und bringt uns damit nichts weniger als die Form des Universums nĂ€her. Ăber 100 Jahre blieb diese Vermutung eines der schwersten mathematischen RĂ€tsel der Welt. Von Lavina Stauber
Die PoincarĂ©-Vermutung erfasst Geometrie höherer Dimensionen - und bringt uns damit nichts weniger als die Form des Universums nĂ€her. Ăber 100 Jahre blieb diese Vermutung eines der schwersten mathematischen RĂ€tsel der Welt. Von Lavina Stauber
Credits
Autorin dieser Folge: Lavina Stauber
Regie: Irene Schuck
Es sprach: Berenike Beschle
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Prof. Dr. Michael Eisermann, Abteilungsleiter fĂŒr Geometrie und Topologie an der UniversitĂ€t Stuttgart
George Szpiro, Mathematiker, Journalist und Autor
Dr. Johann Beurich, Mathe-Youtuber âDorFuchsâ
Dr. Norbert Blum, theoretischer Informatiker und emeritierter Professor an der UniversitÀt Bonn
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Literatur:
Der Geschichte des Beweises der PoincarĂ©-Vermutung geht George Szpiro in seinem Buch âDas PoincarĂ©-Abenteuer: Ein mathematisches WeltrĂ€tsel wird gelöstâ nach.
Eine Biographie ĂŒber Gregori Perelman liefert Masha Gessen mit: âDer Beweis des Jahrhunderts â Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigori PerelmanâÂ
Einen Ăberblick ĂŒber alle sieben ausgeschrieben Millennium Probleme beschreibt Keith Delvin in: âThe Millenium Problems â The Seven Greatest Unsolved Puzzles of Our Timeâ
Und die wichtigsten mathematische RĂ€tsel, auch diejenige, die Hilbert auf seiner Liste 1900 stehen hatte, fasst Ian Stewart in seiner Publikation âDie letzten RĂ€tsel der Mathematikâ niedrigschwellig zusammen.Â
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Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
"It's an Abstract" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und AusfĂŒhrender: Daniel Pemberton - LĂ€nge: 0'24
SPRECHERIN:Â
Russland, im November 2002. Es ist ein Montagnachmittag, kurz nach 16 Uhr, als auf der Plattform âarXivâ ein neuer Artikel hochgeladen wird. In Mathematiker-Kreisen wird kurz darauf gemunkelt, dass hier etwas ganz GroĂes publiziert wurde: die Lösung eines Jahrhundert-RĂ€tsels.Â
ZSP 01_rW_Poincare-Vermutung_Szpiro
Also die Nachricht schlug wie eine Bombe ein. Niemand hatte das erwartet. Perelman war bekannt, schon damals als brillanter Mathematiker, aber niemand wusste, dass er an der Poincaré-Vermutung arbeitet. Innerhalb von Stunden ging die Nachricht um die ganze Welt.
Musik 2
"It's an Abstract" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und AusfĂŒhrender: Daniel Pemberton - LĂ€nge: 0'7
SPRECHERIN:
Dass das Who is Who der Mathematik so schnell von diesem Artikel erfĂ€hrt, liegt auch an der Art der Veröffentlichung. Â
ZSP 02_rW_Poincare-Vermutung_Beurich
Das arxiv ist ein sogenannter Preprint Server, wo die Leute ihre PDFs einfach ablegen können und andere das dann auch im vollkommen offenen freien Zugang kostenlos herunterladen und anschauen dĂŒrfen.
Musik 3
"It's an Abstract" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und AusfĂŒhrender: Daniel Pemberton - LĂ€nge: 0'35
SPRECHERIN:
Die Dokumente, die dort hochgeladen werden, durchlaufen keine Peer-Review wie es bei wissenschaftlichen Publikationen sonst ĂŒblich ist. Das, was dort geschrieben steht, ist nicht zuvor auf die Korrektheit ĂŒberprĂŒft worden.Â
Und dennoch haben viele bedeutende Mathematiker dieses BauchgefĂŒhl; dass der Urheber dieses Artikels eine korrekte Lösung fĂŒr ein mathematisches RĂ€tsel gefunden hat, das seit fast hundert Jahren ungelöst ist. Die sogenannte PoincarĂ©-Vermutung, benannt nach dem Mathematiker Henri PoincarĂ© aus Frankreich.
ZSP 03_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
In den 100 Jahren ihres Bestehens von 1904, als Poincaré sie formuliert hat, hat diese Vermutung ja viel schöne Mathematik generiert. Viele Menschen haben versucht, diese Vermutung zu lösen, zu beweisen oder zu widerlegen. Das hat nicht geklappt, aber dabei sind viele neue Erkenntnisse entstanden. Also man hat sich daran die ZÀhne ausgebissen. Aber vielleicht positiv formuliert, man hat die Werkzeuge geschÀrft.
SPRECHERIN:
Michael Eisermann ist Professor an der UniversitĂ€t Stuttgart am Institut fĂŒr Geometrie und Topologie, also genau dem Fachbereich, dem die PoincarĂ©-Vermutung zuzuordnen ist.
ZSP 04_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
In der Geometrie geht es um LĂ€ngen und Winkel und FlĂ€cheninhalt und solche Dinge. Also Dinge, die man messen kann. Das heiĂt ja das Wort: Geometrie ist die Vermessung der Erde. Und in der Topologie versucht man, von diesen MaĂzahlen etwas wegzukommen. Was dann ĂŒbrig bleibt, ist sozusagen die globale Form.
Also wenn Sie auf der ErdoberflĂ€che umherwandern, können Sie sich fragen, hat die ErdoberflĂ€che die Form einer Scheibe? Oder ist vielleicht die OberflĂ€che einer SphĂ€re, also einer Kugel? Oder ist es die OberflĂ€che eines Schwimmreifens? Das wĂŒrde man einen Torus nennen. Und da geht es nicht mehr um Geometrie. Da geht es nicht darum, wie groĂ oder klein das ist, wie sind die Winkel? Sondern da geht es um die globale Form, um die Topologie dieses Raumes, in dem wir uns da bewegen.
Musik 4
"It's an Abstract" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und AusfĂŒhrender: Daniel Pemberton - LĂ€nge: 0'40
SPRECHERIN:
Also um den ganz groĂen Blick auf unsere Welt. Ein Mathematiker, der auch in der Topologie zu Hause ist, ist: Gregori Perelman. Jener Mann, der 2002 den Artikel zu PoincarĂ©-Vermutung veröffentlicht und damit ein RĂ€tsel löst, das ihn 1-Million-Dollar und eine Fields-Medaille reicher hĂ€tten machen können.Â
Johann Beuerich hat in Mathematik promoviert und sich dann mit dem YouTube-Kanal âDor Fuchsâ selbststĂ€ndig gemacht, um die Faszination der Mathematik mit der Welt zu teilen. Auch ĂŒber die sieben sogenannten âMillennium-Problemeâ informiert er dort, die PoincarĂ©-Vermutung ist eine davon:Â
ZSP 05_rW_Poincare-Vermutung_Beurich
Inhaltlich sind das Fragen aus der Forschung, die auch bewusst aus sehr breiten Themenspektren gewĂ€hlt wurden, also von eher informatischen, eher physikalischen Themen bis zu reiner Mathematik, so dass jedes Fachgebiet so sein Millenniumproblem bekommen hat, wo man sagen kann: so jeder Mathematiker arbeitet in irgendeiner Weise an einem Thema, was irgendwo zu so einem Problem fĂŒhren könnte.
SPRECHERIN:
Die Wurzeln der Millennium-Probleme fĂŒhren zurĂŒck auf den bedeutenden deutschen Mathematiker David Hilbert - genau 100 Jahre bevor der 1-Million-Dollar-Preis eingefĂŒhrt wird.
ZSP 06_rW_Poincare-Vermutung_Beurich
Hilbert war, als er die Probleme vorgestellt hat, im Jahr 1900 auf dem Internationalen Mathematikerkongress als Redner eingeladen. Das ist schon eine der höchsten Ehren, die man als Mathematiker bekommen kann, wenn man auf dem internationalen Kongress dort ein Plenarvortrag halten darf. Und Hilbert dachte sich halt: Na ja, jetzt beginnt ein neues Jahrhundert. Deswegen spreche ich mal so ein paar Probleme an, die das nĂ€chste Jahrhundert prĂ€gen könnten.Â
SPRECHERIN:
Und er behielt Recht. Was Hilberts Probleme so auĂergewöhnlich macht, ist, dass sie nicht nur Antworten auf mathematische Fragen verlangt, sondern neue Wege des Denkens erschlieĂt. Seine RĂ€tsel inspirieren, provozieren, und oft fĂŒhren sie zu völlig neuen mathematischen Disziplinen. Sie erinnern daran, dass Mathematik nicht statisch ist, sondern sich stetig erweitert, wie ein unaufhörlich wachsender Kosmos des Wissens.
Musik 5
"It's not working" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und AusfĂŒhrender: Daniel Pemberton - LĂ€nge: 0'37
SPRECHERIN:
Paris, im Mai 2000 â zwei Jahre, bevor Gregori Perelman seinen Artikel auf arXiv hochladen wird.
Gerade hat die Welt das neue Jahrtausend, also das Millennium, gefeiert und kluge Köpfe aus Mathematik und Naturwissenschaft sitzen im CollĂšge de France zusammen, brĂŒten darĂŒber, was in ihren Fachgebieten heute wohl die schwersten und entscheidenden RĂ€tsel sind. RĂ€tsel, die wegweisend fĂŒr die Mathematik des kommenden Millenniums sein werden.Â
Und fĂŒr die Lösung setzt das Clay Mathematics Institute ein Preisgeld aus von: jeweils 1 Million Dollar.Â
ZSP 07_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
Jeder kann 1 Million Dollar verstehen, aber kaum jemand kann die Schwierigkeit der PoincarĂ©-Vermutung einschĂ€tzen. Insofern sind diese Preise auĂerhalb der Mathematik ein soziales Signal, sozusagen fĂŒr die WertschĂ€tzung, die Schwierigkeit der Arbeit und die soziale Anerkennung.Â
ZSP 08_rW_Poincare-Vermutung_Beurich
Ich glaube, die meisten Mathematiker waren schon sehr ĂŒberrascht, dass es nur nach zwei Jahren schon möglich war, eins der Millennium-Probleme zu lösen.
SPRECHERIN:
Und dann steht diese erste Lösung sogar noch öffentlich einsehbar, fĂŒr jeden, nicht nur fĂŒr die Abonnenten der wissenschaftlichen Fachzeitschriften, sondern fĂŒr die ganze Welt zugĂ€nglich im Netz.Â
ZSP 09_rW_Poincare-Vermutung_Beurich
Und das ist im Prinzip das Interessante bei Perelman, dass er es nicht fĂŒr nötig gehalten hat, das auch noch einem Journal zu schicken und sozusagen in diese peer-reviewten Fach-Publikationsliste aufnehmen zu lassen.
SPRECHERIN:
Die PoincarĂ©-Vermutung ist nach dem französischen Mathematiker Henri PoincarĂ© benannt. Sie sagt etwas sehr Grundlegendes und Wichtiges ĂŒber die Topologie aus.Â
Genau darĂŒber hat der studierte Mathematiker George Szpiro ein Buch veröffentlicht: âdas PoincarĂ©-Abenteuerâ.
ZSP 10_rW_Poincare-Vermutung_Szpiro
PoincarĂ© war ein brillanter Mathematiker. Eigentlich hatte er Ingenieurstudien gemacht, aber dann wandte er sich der Mathematik und der Physik zu. Und da hat er wirklich Bahnbrechendes geleistet in der Physik. Die Himmelsmechanik, wie Planeten herumfliegen im Weltall, in der Optik, ElastizitĂ€t, Thermodynamik und auch, was viele vielleicht nicht wissen, die RelativitĂ€tstheorie hĂ€tte er fast noch vor Albert Einstein entwickelt.Â
Musik 6
"It's an Abstract" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und AusfĂŒhrender: Daniel Pemberton - LĂ€nge: 0'21
SPRECHERIN:
Doch was verbirgt sich hinter dieser Vermutung, deren Lösung 1 Million Dollar wert ist?
Stellen wir uns eine Kugel vor, wie sie unsere Erde ist. In der Topologie spricht man da von einer SphĂ€re.Â
ZSP 11_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
Wenn Sie irgendwo einen Pflock in die Erde rammen und eine Reise von dort aus starten und hinter sich so eine Schnur herziehen, dann können Sie eine Rundreise machen und kommen irgendwann zu diesem Pflock zurĂŒck und können dort die Schnur wieder schlieĂen.
Musik 7
"It's an Abstract" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und AusfĂŒhrender: Daniel Pemberton - LĂ€nge: 0'34
SPRECHERIN:
Wenn wir den Versuch aber auf einem Schwimmreifen wiederholen, dann verfÀngt sich die Schnur in dem Loch in der Mitte und kann nicht zusammengezogen werden. So lÀsst sich der Unterschied zwischen der OberflÀche einer SphÀre und eines Torus, also einem Ball und einem Schwimmreifen, messen.
Die PoincarĂ©-Vermutung besagt nun genau dasselbe in weiteren Dimensionen â also dass Ball und Schwimmreifen immer unterschiedlich sind. So lassen sich durch sie Aussagen und Gedanken ĂŒber die Beschaffenheit unseres Universums formulieren.Â
ZSP 12_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
Wie sieht denn unser Universum, in dem wir leben, global aus? Wir kennen so einen kleinen Teil, das ist dreidimensional, aber wir wissen nicht, wie das global aussieht. Ist das eine SphĂ€re oder ist das ein komplizierter Raum? Das hat natĂŒrlich starke physikalische HintergrĂŒnde, aber es ist auch eine topologische Frage. Welche RĂ€ume sind denn ĂŒberhaupt denkbar?
SPRECHERIN:
Es geht um das VerstĂ€ndnis, das wir von unserer Welt haben. Leider können wir uns mehr als drei Dimensionen aber nicht vorstellen und schon gar nicht ein Experiment dazu machen â die Lösung kann nur eine mathematische sein.Â
Aber PoincarĂ©s Vermutung konnte lange nicht bewiesen werden. PoincarĂ© selbst schrieb seine Entdeckung auf, aber ohne Beweis blieb seine Vermutung eben genau das: eine Vermutung. Etliche hatten sich schon an PoincarĂ© versucht und behauptet, das Problem gelöst zu haben. Sie alle irrten.Â
ZSP 13_rW_Poincare-Vermutung_Beurich
Aber bei Perelman war es halt wirklich tatsĂ€chlich so, dass er eine vernĂŒnftige Theorie weiterfĂŒhren konnte und auch die AnsĂ€tze, die schon andere Leute auch vor ihm hatten, weiterfĂŒhren konnte.
Musik 8
"Life out Balance" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und AusfĂŒhrender: Daniel Pemberton - LĂ€nge: 0'42
SPRECHERIN:
1966 wird Grigori Perelman in Leningrad geboren, dem heutigen St. Petersburg. Schon frĂŒh zeigt sich seine auĂergewöhnliche Begabung fĂŒr die Mathematik, die er wohl von seiner Mutter geerbt hat. Auch sie ist Mathematikerin, ihr Talent wird in den 1960er Jahren der Sowjetunion aber nicht weiter gefördert, als Frau und JĂŒdin.
Sie aber tut alles in ihrer Macht Stehende, um ihren Sohn zu fördern. Sie schickt ihn in einen Matheclub, in dem er bald als unbestrittene Nummer Eins gilt, spĂ€ter wird er an einer renommierten Leningrader mathematischen Fachschule unterrichtet.Â
ZSP 14_rW_Poincare-Vermutung_Szpiro
Mathematik wurde in der Sowjetunion als Symbol fĂŒr die intellektuelle Ăberlegenheit und den Fortschritt des sozialistischen Systems betrachtet. Mathematiker wurden als Helden der Wissenschaft gefeiert und ihre Leistungen galten als Beweis fĂŒr die StĂ€rke und den Fortschritt der Nation.
Musik 9
"Life out Balance" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und AusfĂŒhrender: Daniel Pemberton - LĂ€nge: 1`04
SPRECHERIN
Zu dieser Zeit ist Mathematik in der Sowjetunion beinahe wie ein Nationalsport. Das sowjetische Team dominiert regelmĂ€Ăig die Mathematik-Olympiade. In Budapest 1982 nimmt auch Perelman daran Teil, im Alter von 16 Jahren. Er bekommt am Ende die Goldmedaille ĂŒberreicht, einen Sonderpreis, weil er die höchstmögliche Punktzahl erreicht hat, und eine automatische Zulassung an einer UniversitĂ€t.
Perelman ist erst 24 Jahre jung, als er promoviert und die Uni auf der Suche nach einer Anstellung verlĂ€sst. Und er hat das GlĂŒck, in eine Zeit desÂ
Wandels hineinzuwachsen, als die Sowjetunion eine Modernisierung ihres politischen und wirtschaftlichen Systems angeht. Anfang der 90er-Jahre kann Perelman so in die USA reisen, er forscht und lehrt ein paar Jahre, bevor er wieder zurĂŒckkehrt und sich einem mathematischen Teilgebiet zuwendet: der Topologie.
Und damit verschwindet er zunĂ€chst von der BildflĂ€che â zu diesem Zeitpunkt ist er 29 Jahre alt.
ZSP 15_rW_Poincare-Vermutung_Szpiro
Niemand wusste mehr, wo er war. Niemand wusste auch genauer, woran er arbeitete. Deswegen war es dann so ĂŒberraschend, dass er die Vermutung bewiesen hat.
SPRECHERIN:
Perelman gilt als Eigenbrötler unter den Mathematikern, als jemand, der nur fĂŒr die Mathematik lebt und dabei strenge moralische Erwartungen an sich selbst und sein Arbeitsumfeld hat. Gut 7 Jahre arbeitet er an der PoincarĂ©-Vermutung und zieht sich in der Zeit immer weiter zurĂŒck.Â
ZSP 16_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
Das Klischee der Mathematikerin, des Mathematikers ist natĂŒrlich wirklich: Die sitzen in einem stillen KĂ€mmerlein und brĂŒten da ĂŒber Probleme, die auĂer ihnen kaum jemand versteht. Also, Perelman entspricht diesem Klischee in extremer Weise, das muss man schon sagen.
Ich denke, dass dieses Klischee auch dadurch bestĂ€tigt wird, dass man ĂŒber diese FĂ€lle halt besonders gerne redet. Die sind extrem und man spricht natĂŒrlich ĂŒber die ExtremfĂ€lle am liebsten.
SPRECHERIN:
Ein anderer, berĂŒhmter Extremfall ist die Lösung von âFermats letztem Satzâ. Pierre de Fermat wird Anfang des 16. Jahrhunderts in Frankreich geboren, arbeitet als Anwalt, auch wenn seine Liebe der Mathematik gilt. Er veröffentlicht wenig, sondern schreibt ĂŒber seine mathematischen Entdeckungen in Briefen.
Im Laufe der Zeit werden viele seiner SĂ€tze bewiesen, bis auf einen: sein letzter Satz. Es dauert fast 400 Jahre, bis in England Ende der 1970er der Mathematiker Andrew Wiles von diesem Satz so eingenommen wird, dass er gut 30 Jahre im Geheimen daran arbeitet, grĂŒbelt, ausprobiert, bis er ihn schlieĂlich beweisen kann. Â
ZSP 17_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
Die meisten Mathematikerinnen sind vermutlich nicht so, sondern eher extrem kommunikativ in ihrer Arbeit. Insbesondere in den letzten Jahrzehnten werden viele mathematische Probleme im Team und manchmal sogar in weltweiten Kollaborationen gelöst. Das Eigenbrötlerische, das gibt es. Es kommt vor, es ist Teil der Arbeit. Manchmal muss man alleine arbeiten, aber dann will man sich auch wieder mit anderen austauschen, prĂŒfen, nachdenken, neue Ideen sammeln.
SPRECHERIN:
Denn von mathematischen RĂ€tseln, gerade solchen, an denen sich schon seit Jahrzehnten Mathematiker die ZĂ€hne ausbeiĂen, geht eine besondere Faszination aus. Von diesem Reiz berichtet auch Nobert Blum, ein ehemaliger Professor an der UniversitĂ€t Bonn fĂŒr das Fachgebiet der theoretischen Informatik. 2017 war er selbst nah dran, eines der sieben Millennium-Probleme zu lösen.Â
ZSP 18_rW_Poincare-Vermutung_Blum
Andere haben es probiert, haben es vielleicht rausgekriegt und das hat mich dann gereizt. Wenn das andere gute Leute probiert haben und ich probier's. Da hab ich sehr hĂ€ufig auch nichts rausbekommen, aber manchmal doch. Und das hat auf mich schon ungeheuren Reiz ausgeĂŒbt
SPRECHERIN:
Norbert Blum hat das Millennium-Problem, an dem er gearbeitet hat, nicht gelöst. Kollegen fanden einen Fehler in seinem Beweis, den er mit seinen Methoden nicht korrigieren konnte.
ZSP 19_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
Bei Perlmanns Beweis war es ja auch so, dass kleinere LĂŒcken aufgetaucht sind bei der PrĂŒfung, die aber dann geschlossen wurden. Das heiĂt, man hat es nicht nur geprĂŒft, sondern auch verbessert. Dieser Prozess ist ganz normal, dass man das nicht nur als fertiges Produkt prĂŒft, sondern auch verbessert, durcharbeitet und dadurch besser versteht.
Musik 10
"It's not working" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und AusfĂŒhrender: Daniel Pemberton - LĂ€nge: 0'26
SPRECHERIN:
Die Welt benötigt zunĂ€chst Zeit, um Grigori Perelmans Beweis zu verstehen. Gute 2 Jahre dauert es, bis Expertengruppen gemeinsam Perelmans Artikel ĂŒberprĂŒfen und fĂŒr richtig empfinden können.
Und doch: es bleibt eine Rest-Unsicherheit, ob Grigori Perelman durch die Veröffentlichung auf einer Plattform wie arXiv einen Beweis erbracht hat, den man als solchen anerkennen kann.
ZSP 20_rW_Poincare-Vermutung_Beurich
Eigentlich hat das Clay Mathematics Institut gesagt: Wir akzeptieren eine Lösung erst, wenn sie wirklich in einem Fachjournal angekommen ist. Und auch dann muss noch mindestens ein Jahr vergangen sein. Und eigentlich hat das Institut auch die Regel: man soll auch zu seiner Lösung bereit sein, FachvortrĂ€ge zu halten und seinen Kollegen das zu erklĂ€ren und auf Konferenzen damit VortrĂ€ge zu halten, damit wirklich die Fachwelt darĂŒber diskutieren kann und auch Nachfragen stellen kann.
SPRECHERIN:
Obwohl Perelman die Poincaré-Vermutung bewiesen hatte, bleiben die Auszeichnungen, die Ehrungen, die mit der Lösung solch eines RÀtsels zu erwarten waren, also zunÀchst aus.
ZSP 21_rW_Poincare-Vermutung_Szpiro
Sein Beweis ist so kompliziert. Er wusste, das wird lange dauern. Ich glaube, es war ihm mehr oder weniger egal auch. Am Anfang hat er Leuten geholfen, wie er in Amerika war, zu erklĂ€ren, und dann hatte er gesagt: KĂŒmmert euch darum, mich geht es nichts mehr an! Er ist völlig von der BildflĂ€che verschwunden.
SPRECHERIN:
Drei Jahre nach seiner Lösung der PoincarĂ©-Vermutung legt er seine Stelle nieder und zieht sich komplett aus der Mathematik zurĂŒck. Er sei enttĂ€uscht, lĂ€sst er die Welt wissen. Die Mathematik hat ihr Wunderkind vergrault.
Musik 11
"It's not working" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und AusfĂŒhrender: Daniel Pemberton - LĂ€nge: 0'39
SPRECHERIN:
Und dann geschieht etwas Eigenartiges: im darauffolgenden Jahr erscheint eine wissenschaftliche Publikation zweier Kollegen, die behaupten, in ihrem Artikel einen vollstĂ€ndigen Beweis der PoincarĂ©-Vermutung zu liefern. IhrerÂ
Ansicht nach hat Perelman nur den Anfang eines Beweises geliefert, sie jedoch die letzten Sprossen der Leiter erklommen, die zu einem tatsĂ€chlichen Ergebnis fĂŒhren.
Es ist Gesetz der Mathematik, dass derjenige, dem der allerletzte Schritt eines Beweises gelingt, die ganzen Lorbeeren dafĂŒr erhĂ€lt.
ZSP 22_rW_Poincare-Vermutung_Szpiro
Vor allem Perelman hat alle seine Vorarbeiter benannt. NatĂŒrlich wird ein mathematischer Beweis nicht aus dem Nichts erschaffen. Immer steht man auf den Schultern vom anderen Riesen und er hat Vorarbeiten anderer Mathematiker benĂŒtzt und erwĂ€hnt.
SPRECHERIN:
So ist sein Beweis auch nach ihm und seinem mittlerweile verstorbenen Vorarbeiter Richard Hamilton benannt.
Wie sich spÀter jedoch herausstellen wird, ist der angebliche Beweis der Kollegen ein Plagiat. Durch diesen Artikel aber scheint sich die Welt der Mathematiker letztlich einen Ruck zu geben:
Musik 12
"Life out Balance" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und AusfĂŒhrender: Daniel Pemberton - LĂ€nge: 0'38
SPRECHERIN:
2006 beim internationalen Mathematikerkongress wird Perelman endlich als derjenige anerkannt, der die Poincaré-Vermutung gelöst hat.
FĂŒr Grigori Perelman aber hat diese Anerkennung zu lange auf sich warten lassen. Als er 2006 mit der Fields-Medaille ausgezeichnet werden soll, lehnt er ab. Und auch als 2010 das Clay Institut ihm den Millennium-Preis und das dazugehörige Preisgeld von einer Million Dollar zuspricht, lehnt er ab.
ZSP 23_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
Perelman war unzufrieden mit der Verleihung des Preises oder mit der WertschĂ€tzung, die verschiedenen BeitrĂ€gen seinem und anderen gegenĂŒber gebracht wurde und hat deshalb gesagt: Diesen Preis, den unterstĂŒtze ich nicht. Ich will damit nichts zu tun haben.Â
SPRECHERIN:Â
Grigori Perelman demonstriert, dass der Antrieb fĂŒr mathematische Forschung die Suche nach Wahrheit und Erkenntnis ist, dass Mathematik nicht nur ein abstraktes Schulfach, sondern eine sich stĂ€ndig entwickelnde Disziplin voller Herausforderungen und RĂ€tseln ist, die unser VerstĂ€ndnis der Welt erweitern kann.
ZSP 24_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
Eines von den sieben ist jetzt gelöst, die anderen sechs sind noch offen und wenn es nach mir geht, dĂŒrfen die auch noch eine Weile offen bleiben, weil der Prozess da wirklich sehr wichtig ist und Mathematik erzeugt.
Musik 13
"It's an Abstract" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und AusfĂŒhrender: Daniel Pemberton - LĂ€nge: 0'34
SPRECHERIN:
Wer auch immer sich an ihrer Lösung versuchen wird, eines steht aber jetzt schon fest:Â
ZSP 25_rW_Poincare-Vermutung_Beurich
Die Millenium-Probleme zu lösen, ist der wahrscheinlich schwerste Weg, um an 1 Million Dollar zu kommen.Â
ZSP 26_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
Ich zitiere Carl Friedrich GauĂ, der gesagt hat: Es ist nicht das Wissen, sondern das Lernen, nicht das Besitzen, sondern das Erwerben, nicht das da sein, sondern das Hinkommen, das den gröĂten Genuss gewĂ€hrt.