"Remigration" ist heute ein Leitbegriff identitärer und völkisch-nationaler Politik, wobei meist unklar bleibt, wer eigentlich genau "remigriert" werden soll und wie. Ursprünglich wurde der Begriff in einem ganz anderen Kontext geprägt: Er bezeichnete die selbstgewählte Rückkehr Exilierter ins Heimatland. Von Marita Krauss
"Remigration" ist heute ein Leitbegriff identitärer und völkisch-nationaler Politik, wobei meist unklar bleibt, wer eigentlich genau "remigriert" werden soll und wie. Ursprünglich wurde der Begriff in einem ganz anderen Kontext geprägt: Er bezeichnete die selbstgewählte Rückkehr Exilierter ins Heimatland. Von Marita Krauss
Credits
Autorin dieser Folge: Marita Krauss
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle, Thomas Birnstiel, Friedrich Schloffer, Katja Schild
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN
„Remigration“ war 2023 das „Unwort des Jahres“. Es ist ein Leitbegriff rechter, völkisch-nationaler Politik. Und es ist ein gekaperter Begriff. Aus Frankreich kommend entwickelte sich „Remigration“ zu einem Schlüsselbegriff der sogenannten „identitären“ Bewegungen. Er wird als verharmlosender Begriff für die Ausweisung ganzer Bevölkerungsgruppen verwendet. Ein Beispiel aus Deutschland:
Björn Höcke, rechtsextremer Vorsitzender der AFD Thüringen, schrieb bereits 2018 in seinem Buch Nie zweimal in denselben Fluss:
ZITATOR (Höcke)
Man wird, so fürchte ich, nicht um eine Politik der „wohltemperierten Grausamkeit“ […] herumkommen. Existenzbedrohende Krisen erfordern außergewöhnliches Handeln. Die Verantwortung dafür tragen dann diejenigen, die die Notwendigkeit dieser Maßnahmen mit ihrer unsäglichen Politik herbeigeführt haben. […] Ich bin sicher, dass – egal wie schlimm sich die Verhältnisse auch entwickeln mögen – am Ende noch genügend Angehörige unseres Volkes vorhanden sein werden, mit denen wir ein neues Kapitel unserer Geschichte aufschlagen können. Auch wenn wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind, sich der fortschreitenden Afrikanisierung, Orientalisierung und Islamisierung zu widersetzen. (…) Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen. Dann werden die Schutthalden der Moderne beseitigt, denn die größten Probleme von heute sind ihr anzulasten.
Musik 2
"Schieflage" - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) Länge: 0'11
ERZÄHLERIN
Björn Höcke fasst diese Überlegungen unter dem Schlagwort „großangelegtes Remigrationsprojekt“ zusammen. Der Begriff Remigration bezeichnet aber eigentlich etwas ganz anderes: die Rückkehr von Menschen, die viele Jahre in einem anderen Land gelebt hatten in ihre Heimat. Diese Rückkehr ist biografisch meist eine ganz eigene Entscheidung mit allen Schwierigkeiten des Ankommens und der Integration. Remigration ist ein statistisch schwer greifbares, individuelles Migrationsphänomen, das bis in die 1960er Jahre kaum beforscht wurde. Vor allem die Sozialwissenschaften und die Exilgeschichte nahmen sich dann des Themas an.
ERZÄHLER
Heute halten Rechtsextreme bei Demonstrationszügen Schilder mit „Remigration jetzt“ oder „Schnelle Remigration schafft Wohnraum“ hoch. Was diese Demonstranten unter Remigration verstehen, ist im Einzelnen schwer nachvollziehbar. Es kursieren in den Medien und den Sozialen Netzwerken verschiedene Versionen von Remigrations-Konzepten, die mindestens eines gemeinsam haben: Sie richten sich gegen zugewanderte Geflüchtete und verlangen deren Abschiebung. Dieses Hin und Her um die Frage, wer eigentlich das „Remigrations-Potential“ sein soll, ist fatal: Sind nicht integrierte Migrantinnen und Migranten gemeint? Oder auch Deutsche mit Migrationshintergrund? Oder weitere Gruppen? Gerade die offenen Formulierungen ermöglichen es der eigenen Klientel, ihre jeweiligen Feindbilder beliebig damit zu verbinden. Remigrations-Propagandisten können sich dann mit ihrem Publikum darauf verständigen, man wisse ja, was und wer eigentlich gemeint sei. Der Begriff Remigration ist jedenfalls inzwischen ideologisch kontaminiert. Er bezeichnet nun definitiv etwas ganz anderes, als ihn die Migrationsforschung definierte.
Musik 3
"Fallen" - Ausführende: Balanescu Quartet - Album: Diaz (Un film di Daniele Vicari) [feat. Il balanescu quartet] - Komponist: Teho Teardo-
Länge: 1'25
ERZÄHLERIN
Remigration als Phänomen ist alt: Schon immer wanderten Menschen aus und suchten ihr Glück in anderen Ländern und Kontinenten. Große weltgeschichtliche Mythen wie die Odyssee thematisieren Irrfahrten durch die Welt und die schwierige Heimkehr. In der Bibel ist es die Geschichte des verlorenen Sohnes, bei dessen Rückkehr der Vater ein gemästetes Kalb schlachtet. Weggehen und Rückkehr werden hier zu Bildern für die Lebenswanderung.
Die Rückkehr nach einer Auswanderung ist, wie die Geschichte vom verlorenen Sohn zeigt, nicht immer Zeichen von Erfolg; die Betroffenen versuchen meist schnell wieder in der Herkunftsgesellschaft aufzugehen und nicht über ihre Erfahrungen zu sprechen. Oft löst auch Heimweh den Wunsch aus, etwa den Ruhestand wieder im eigenen Land mit der eigenen Sprache zu verbringen; viele Italienerinnen und Italiener beispielsweise zog und zieht es nach der Auswanderung zurück. Es gibt aber auch die Rückkehr der Erfolgreichen, die als wohlhabende Leute in die alte Heimat kommen. Wenig bekannt ist über diejenigen, die im Einwanderungsland neue Ideen aufgreifen und nun versuchen, diese im Herkunftsland fruchtbar zu machen.
ERZÄHLER
Geforscht wird in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften über die Rückkehr von Arbeitswanderern des 19. und 20. Jahrhunderts, die eigentlich nur kurz im Zielland bleiben wollten, dann aber doch ihr ganzes Berufsleben dort verbrachten. Oft blieben die Alten und die Kinder zurück. Nach einer Rückkehr war die Heimat zur Fremde geworden.
ERZÄHLERIN
Und dann gab und gibt es die Opfer von Verfolgung und Vertreibung, die viele Jahre im Exil zubringen müssen, bevor sie nach dem Sturz des verfolgenden Regimes in die alte Heimat zurückkehren können. Ihre Migration ist nicht freiwillig, oft erleben sie Entrechtung und Demütigung, bevor sie ins Exil entkommen können. Dort sind sie auf Hilfen der Aufnahmegesellschaft angewiesen und müssen ihr Leben mühsam neu beginnen. Eine Rückkehr ist daher keine leichte Entscheidung.
MUSIK 4
"Rythmus Rythme" - Komponist: Bugge Wesseltoft - Album: Playing Länge: 0'45
ERZÄHLERIN
Die Remigration nach dem Ende der Hitlerdiktatur wird als Teil der deutschen Exilgeschichte erforscht. Der Weg über viele Grenzen ins Exil war ein lebensgeschichtlich nicht revidierbarer Prozess, eine „journey of no return“, wie sich der emigrierte Schriftsteller Carl Zuckmayer ausdrückte: „Einmal Emigrant, immer Emigrant“. Schmerzhafte Abschiede und tiefe Verletzungen, aber auch neue Erfahrungen und eine gewisse Weltläufigkeit gehörten zum Emigrationsgepäck. Nach 1945 reaktivierten die Überlegungen, ob man zurückkehren sollte, zunächst alle Traumata. Eine solche Rückkehr bedeutete eine erneute Entscheidung zur Migration und eine Lebensbilanz des Exils.
ERZÄHLER
Man schätzt die gesamte deutschsprachige Emigration nach 1933 auf etwa eine halbe Million Menschen. Die meisten von Ihnen, wohl fast 95 Prozent, waren durch rassistische Verfolgung wegen ihres jüdischen Familienhintergrunds zur Auswanderung gezwungen worden. Die Grenzen sind jedoch nicht immer genau zu ziehen, wurden doch etliche der von den Nationalsozialisten zu Juden erklärten Menschen gleichzeitig politisch verfolgt. Das Kriegsende 1945 bedeutete für sie den entscheidenden Einschnitt.
O‘Ton 1 („Kampf um die Ätherwellen“, W1215234 01/001):
BBC-Zeichen: Big Ben schlägt – Beethoven, 5. Symphonie – Victory-Pauke: „Hier ist England – Hier ist England – Hier ist England“
O’Ton 2 (Bestand: DRA / Tonträger DRA Frankfurt: Archivnummer / Take: 9201051 01/015)
Deutsche Hörer! Wie bitter ist es, wenn der Jubel der Welt der Niederlage der tiefsten Demütigung des eigenen Landes gilt. Wie zeigt sich darin noch einmal schrecklich der Abgrund, der sich zwischen Deutschland, dem Land unserer Väter und Meister, und der gesitteten Welt aufgetan hatte. ... Der Deutsche aber, der von den Allerunberufensten einst sein Deutschtum abgesprochen wurde, der sein grauenvoll gewordenes Land meiden und sich unter freundlicheren Zonen ein neues Leben bauen mußte, er senkt das Haupt
in der weltweiten Freude. Das Herz krampft sich ihm zusammen bei dem Gedanken, was dies für Deutschland bedeutet, durch welche dunklen Tage, welche Jahre der Unmacht zur Selbstbestimmung und der Erniedrigung es nach allem, was es schon gelitten hat, wird gehen müssen. Und dennoch. Die Stunde ist groß. Nicht nur für die Siegerwelt, auch für Deutschland. Die Stunde, wo der Drache zur Strecke gebracht ist. Das wüste und krankhafte Ungeheuer, Nationalsozialismus genannt, verröchelt, und Deutschland von dem Fluch wenigstens befreit ist, das „Land Hitlers“ zu heißen.
ERZÄHLERIN
Der in die USA emigrierte deutsche Literaturnobelpreisträger Thomas Mann hielt zum Kriegsende am 10. Mai 1945 über den „Deutschen Dienst“ der BBC eine viel beachtete Rede an seine ehemaligen Landsleute. Wie er sahen sich auch andere Emigrierte als Vertreter eines „anderen Deutschlands“, eines Deutschlands, das den Weg ins „Dritte Reich“ nicht mitgetragen hatte. Dazu gehörten Schriftsteller und Journalisten, aber vor allem Politiker der von den Nationalsozialisten gehassten linken Parteien.
ERZÄHLER
Die Gesamtzahl der Rückkehrer und Rückkehrerinnen nach Deutschland wird auf etwa 30.000 geschätzt. Die meisten von ihnen hatten politische Emigrations- und daher auch Remigrationsgründe. Es gibt keine genaueren Zahlen. Das hängt nicht zuletzt mit der Definition zusammen: Remigration führte nicht zwangsläufig in die ehemalige Heimat- oder Geburtsstadt oder in die ehemalige Heimatregion. Remigranten und Remigrantinnen in diesem Sinne sind vielmehr Personen, die durch nationalsozialistische Verfolgung emigrieren mussten und mit der Erfahrung von Vertreibung und Exil nach 1945 zurückkamen, um zumindest eine gewisse Zeit wieder in Deutschland zu leben.
ERZÄHLERIN
Die Juden, die im Nationalsozialismus verfolgt und vertrieben wurden, sahen sich meist als Auswanderer, nicht als Exilierte, und blieben in den Aufnahmeländern. Viele der aus politischen Gründen Verfolgten wollten hingegen am Neuaufbau des zerstörten Landes mitarbeiten und suchten Wege der Rückkehr: Je „politischer“ der Emigrationsgrund, desto größer der Rückkehrwunsch. Es kamen aber auch Emigranten und Emigrantinnen aus beruflichen oder wirtschaftlichen Gründen zurück, sei es die Rückkehr zur deutschen Sprache bei Schriftstellern, Journalisten oder Theaterleuten, sei es die Wiedergewinnung entzogenen Besitzes bei Geschäftsleuten oder verlorener Pensionsansprüche bei ehemaligen Beamten und Beamtinnen.
ERZÄHLER
Weit größer, wenn auch noch schwerer fassbar, ist der Anteil derer, die niemals ganz zurückkamen, die jedoch mit Korrespondententätigkeit, mit Beteiligungen an Anwaltskanzleien, mit Gastdozenturen oder als Vortragsreisende wieder in Deutschland aktiv wurden. Diese Rückkehr auf Zeit bildet einen wichtigen Teil der Wirkung des Exils, ohne Remigration im eigentlichen Sinne zu sein.
MUSIK 5
"Rythmus Rythme" - Komponist: Bugge Wesseltoft - Album: Playing Länge: 0'35
ERZÄHLERIN
Willkommen waren die Remigrantinnen und Remigranten in Deutschland erst einmal nicht. Lange genug hatte die NS-Propaganda sie als „Vaterlandsverräter“ gebrandmarkt, als Menschen, die ihr Land im Stich gelassen hatten. Dass dies nur unter Lebensgefahr geschah, wurde verdrängt. Dazu 1947 der Nürnberger Schauspieler und Spielleiter Franz Cuno:
ZITATOR
Einfache Menschen verstehen unter Emigranten Personen, die sich vor ihrer Verantwortung als Deutsche dadurch gedrückt haben, dass sie 33 oder später ins Ausland gingen. Im großen und ganzen sehen sie auf diese herab und stehen ihnen misstrauisch gegenüber.
ERZÄHLERIN
Außerdem standen die Emigrierten nun auf der Seite der Sieger, auch das konnte man ihnen nicht verzeihen. Hinzu kam die Furcht vor der Rache der Vertriebenen; hatte man ihnen nicht genug Grund gegeben, zu hassen? Wie die Rede von Thomas Mann zum Kriegsende zeigt, gab es auch Emigrierte, die Anklage erhoben und Forderungen stellten, zumindest Forderungen nach einem Schuldeingeständnis. In einer Umfrage von 1947 im Nachkriegsbayern, ob Thomas Mann nach Deutschland zurückkehren solle, entluden sich Groll und Wut. Thomas Manns Haltung sei „fragwürdig“, er habe bewiesen, dass man ein „großer Schriftsteller und dennoch ein sehr zweifelhafter Mensch“ sein könne, er habe sich „schlecht benommen“ und müsse nun gut über die Deutschen schreiben, „um seinen ehemals guten Ruf bei den Deutschen zurückzuerobern“.
MUSIK 6
"Rythmus Rythme" - Komponist: Bugge Wesseltoft - Album: Playing Länge: 0'40
ERZÄHLER
Hinzu kam, dass der Antisemitismus 1945 nicht wie durch Zauberhand verschwunden war. Offen oder versteckt stand er hinter den Stellungnahmen gegen Remigrantinnen und Remigranten. Der emigrierte Schriftsteller und Journalist Hans Habe, damals als Chefredakteur der in München erscheinenden „Neuen Zeitung“ im Dienste der amerikanischen Besatzer in Deutschland, beschrieb das so:
Zitator
Sie kehrte nicht zurück, die Hitleremigration, sie rieselte zurück, tropfte ein, oder blieb draußen ... Als ein emigrierter Schauspieler zum ersten Mal wieder auftrat, in München, erhob sich das Publikum, es applaudierte fünf lange Theaterminuten lang, gleich darauf schrieb ein Kritiker, wie denn ein solcher Mann einen deutschen Klassiker inszenieren könne.
ERZÄHLER
Es war der große Schauspieler und Regisseur Fritz Kortner, den das Premierenpublikum der Münchner Kammerspiele im Oktober 1949 bei seinem Auftreten in Strindbergs „Der Vater“ mit minutenlangem Applaus auf offener Szene begrüßte. Im Rückblick schrieb Fritz Kortner in seinen Erinnerungen „Aller Tage Abend“:
ZITATOR (Kortner)
Ich sah mich mit den Augen der Betrachter: ein herausgefressener Amerikaner, der keine Ahnung von den durchgestandenen Höllenqualen haben kann. Ich bemerkte, dass das meinesgleichen Zugefügte im Bewusstsein der Mehrzahl derer, denen ich begegnete, keine Rolle spielte. Erwähnte ich – in einem Verteidigungsversuch, denn die Rolle des schicksalsverwöhnten Juden lag mir nicht – dass allein meiner Familie elf Verwandte vergast worden waren, so war die Reaktion darauf kondolenzartig höflich. Ich kämpfte um die Anerkennung meiner Gleichberechtigung am Unglück, am erlittenen Elend. … Die meisten verharrten im Gefühl, kein Leid reiche an ihres heran. Wahrscheinlich brauchten sie das Bewusstsein des am schwersten erlittenen Unrechts zur Beruhigung ihres Unterbewusstseins.
Musik 7
"Fallen" - Ausführende: Balanescu - Album: Diaz (Un film di Daniele Vicari) [feat. Il balanescu quartet] - Komponist: Teho Teardo-
Länge: 1'25
ERZÄHLERIN
Es gab aber auch einen ganz anderen Blick auf die Rückkehr. Dazu die Schriftstellerin Hilde Domin:
ZITATORIN (Domin)
Vielleicht hat mich das Glück der Rückkehr in das Land meiner Sprache, meiner Kindheit, also mein Land, blind gemacht. Ich war ja ganz betrunken vor so viel Wiedersehen ... Sicher hat dabei eine Rolle gespielt, dass in der Rückkehr Freiheit war; im Gegensatz zu all den Fluchten und Exilen, Freiwilligkeit der Entscheidung. Die Rückkehr, nicht die Verfolgung, war das große Erlebnis meines Lebens. Ein Erlebnis von äußerster Zerbrechlichkeit.
ERZÄHLER
Remigration war keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Sie war ein höchst schwieriger Schritt, den jeder und jede einzelne genau überlegen musste. Wer nicht klare politische Aufgaben für sich in Deutschland sah, hatte meist gute Gründe, im Exilland zu bleiben und von dort aus zunächst die Entwicklung in Deutschland zu verfolgen. Die Erkenntnis über das volle Ausmaß der Judenverfolgung machte es den meisten Juden unmöglich, an eine Rückkehr auch nur zu denken. Deutschland, das war keine Heimat mehr, das war das Land der Mörder.
ERZÄHLERIN
Diese Perspektive änderte sich, je mehr die Bundesrepublik zum festen Bestandteil der westlichen Staatengemeinschaft wurde. Der Internationalisierungsschub seit Ende der 1950er Jahre führte immer mehr Studierende sowie junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Stipendien in die USA oder nach England, sie kamen mit neuen Ideen zurück. Gastprofessorinnen oder Gastprofessoren aus Emigrantenkreisen wirkten an westdeutschen Universitäten, sie veränderten den Unterrichtsstil und die Inhalte.
ERZÄHLER
Die Erfolgsgeschichte der internationalen Wissenschaft, um diese hier exemplarisch zu benennen, schließt immer mit ein, dass etliche Emigrantinnen und Emigranten nicht zurückkamen, weil sie zu alt, zu müde oder zu traurig waren, dass sie im Exil vergessen wurden und nach 1945 keine wissenschaftliche Wiedergeburt erlebten; dass einige zurückkamen, die hier nicht mehr Fuß fassten; dass Begegnungen zwischen den dagebliebenen Profiteuren und den Emigranten schwierig blieben; dass Ablehnung und Vorurteile zumindest die ersten zwanzig Jahre mitprägten, also bis Mitte oder Ende der 1960er Jahre. An Einzelschicksalen und ihrer Tragik lässt sich das Verbrecherische jeder Vertreibung zeigen.
MUSIK 8
"Schieflage" - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) Länge: 0'20
ERZÄHLERIN
Trotz des Wissens um die deutsche Geschichte, um Vertreibung und millionenfachen Mord, wird der Begriff "Remigration" inzwischen umgedeutet und neu aufgeladen:
ERZÄHLER
Zum Schlagwort der Neuen Rechten wurde „Remigration“ von Frankreich ausgehend im Rahmen rechter Verschwörungstheorien. Es sei angeblich ein „großer Bevölkerungsaustausch“ durch „Masseneinwanderung“ und „Islamisierung“ geplant, dem man durch „Rückführung“ „kulturfremder Menschen“ begegnen müsse.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz spricht hier von einer „Handlungsanweisung“, die auf „die Ausweisung aller Volksfremden“ abstelle.
ZITATOR (Bundesverfassungsschutz, Glossar, s.v. Remigration)
Dieser Leitvorstellung folgend setzen sich neurechte Akteure in Deutschland die Bewahrung der „ethnokulturellen Identität und Substanz“ des deutschen Volkes zum Ziel.
Musik 9
"Schieflage" - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) Länge: 0'25
ERZÄHLERIN
Mit solchen Konzepten dreht sich das Schreckenskarussell von der „Remigration“ zurück zu den Ursachen der Emigration nach 1933. Damals wurden diejenigen aus Deutschland vertrieben, die aus politischen oder rassistischen Gründen nicht in die angebliche nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ passten.