radioWissen - Bayern 2   /     Kristall, Monokel, Gleitsicht - Die Geschichte der Brille

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Von Kaiser Neros grĂŒnem Smaragd, den er sich bei GladiatorenkĂ€mpfen vor die Augen hielt, ĂŒber den Lesestein der mittelalterlichen Mönche bis hin zu computergeschliffenen Gleitsicht-GlĂ€sern, von der Sehhilfe zum Mode-Accessoire: Die Geschichte der Brille erzĂ€hlt ĂŒber Jahrtausende hinweg vom Wandel der Gesellschaft. Von Florian Kummert

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Duration
00:22:51
Publishing date
2025-01-20 03:00
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/kristall-monokel-gleitsicht-die-geschichte-der-brille/2102167
Contributors
  Florian Kummert
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2102167/c/feed/kristall-monokel-gleitsicht-die-geschichte-der-brille.mp3
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Shownotes

Von Kaiser Neros grĂŒnem Smaragd, den er sich bei GladiatorenkĂ€mpfen vor die Augen hielt, ĂŒber den Lesestein der mittelalterlichen Mönche bis hin zu computergeschliffenen Gleitsicht-GlĂ€sern, von der Sehhilfe zum Mode-Accessoire: Die Geschichte der Brille erzĂ€hlt ĂŒber Jahrtausende hinweg vom Wandel der Gesellschaft. Von Florian Kummert

Credits
Autor dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Susanne Schroeder, Sebastian Fischer
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Iska Schreglmann

Im Interview:
Dr. Florian Breitsameter, Kurator fĂŒr Medizintechnik, Deutsches Museum MĂŒnchen

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Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

Literatur:
Herbert Schwind: Brillengeschichten – grandios und kurios: Eine Zeitreise (Wagner Verlag, 2015)

Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ERZÄHLERIN

Die Geschichte der Brille, sie beginnt mit einem VerrĂŒckten: dem römischen Kaiser Nero. 

BerĂŒhmt-berĂŒchtigt dafĂŒr, dass er Rom anzĂŒnden ließ, und dazu die Leier spielte. Tolle Geschichte - aber eine, die eher ins Reich der Legenden gehört. 

SOUND Ende

ERZÄHLERIN

Genauso wie die Idee zu Neros Brille. 

evtl. MUSIK Hans Zimmer GLADIATOR

ERZÄHLERIN

Der Kaiser - so schreibt Plinius der Ältere - sah leidenschaftlich gerne GladiatorenkĂ€mpfe (SOUND Schwerterkampf), auch an sommerlichen Tagen, wenn der Sand im Kolosseum hell erstrahlte. Und eben diese KĂ€mpfe - verrĂ€t Plinius - habe Nero durch einen geschliffenen Smaragd betrachtet. Konnte er so das Spektakel schĂ€rfer sehen? Der grĂŒne Edelstein als frĂŒhe antike Sehhilfe?

OTON Florian Breitsameter 1

Die Geschichte mit dem Smaragd, die mag stimmen. Das war allerdings gar kein Brilleneffekt, was man heute als Brille kennt, also zum Ausgleich einer Fehlsichtigkeit, sondern was er gemacht hat, war eigentlich sich zu schĂŒtzen vor dem grellen Licht. Das war eher die Erfindung der Sonnenbrille, mit dem Smaragd. 

ERZÄHLERIN

Sagt Dr. Florian Breitsameter. Er ist im Deutschen Museum MĂŒnchen Kurator fĂŒr Medizintechnik, und hat in der Ausstellung auch der Geschichte der Brille viel Raum gewidmet. Passend zum Thema ist Breitsameter BrillentrĂ€ger, seit seinem neunten Lebensjahr. 

OTON Florian Breitsameter 2

Wir sind jetzt in der Ausstellung Gesundheit im dritten Stock des Deutschen Museums. Und wir haben eine Vitrine, die hat ungefÀhr eine Höhe von 3,50 Meter und geht runter fast bis in Bodenhöhe und haben hier 25 Brillen, die wir hier prÀsentieren, die auch tatsÀchlich so einen Gang durch die Geschichte der Brille und die Entwicklung der Brille zeigt. Und das Àlteste Exponat, was den Ursprung zeigt, ist auf Augenhöhe hier die mittelalterliche Lederbrille.

ERZÄHLERIN

Denn die Brille als Sehhilfe ist eine Erfindung des Mittelalters. Kaiser Nero und andere antike Römer mĂŒssen sich ein paar Jahrhunderte vorher noch anders behelfen. So beklagt sich Cicero in einem Brief an seinen Freund Attikus, dass altersbedingt seine Sehkraft nachlasse und er nicht mehr lesen könne. Seine Lösung: er lĂ€sst sich alles von einem Sklaven vorlesen. 

MUSIK z.B. Der Name der Rose - Main Titles, darĂŒber:

ERZÄHLERIN

Mit dem Niedergang des Römischen Reichs verschwinden nicht nur die Vorlesesklaven, sondern auch in weiten Teilen der Gesellschaft das Interesse und die FĂ€higkeit zu lesen, auch im Adel und bei den Regenten. Das Mittelalter: eine Zeit der Analphabeten. Die Kunst des Lesens und Schreibens wird vor allem hinter dicken Klostermauern gepflegt, bei den Mönchen. Die hĂŒten in ihren Bibliotheken wahre WissensschĂ€tze und schaffen mit ihren Handschriften Kunstwerke. 

Eine Arbeit, die die Augen anstrengt. Viele Mönche leiden mit zunehmendem Alter an SehschwÀche. Ihnen hilft ein so genannter Lesestein, aus einem besonderen Mineral.

OTON Florian Breitsameter 3

Das Wort Brille, das kommt eigentlich vom Mineral Beryll, schön klar, kann man gut verarbeiten auch, und daraus waren sogenannte Lesesteine gefertigt. Lesesteine sind eigentlich was relativ Einfaches: ovale Halbkugeln, die man auf etwas drauflegen kann und durch diesen optischen Effekt, wie beim Wassertropfen, vergrĂ¶ĂŸert sich das, was drunter ist. Das kann man Zeile fĂŒr Zeile abfahren, quasi ein Lupeneffekt. 

ERZÄHLERIN

Experimentierfreudige Mönche finden heraus, dass der Lesestein nichts von seiner vergrĂ¶ĂŸernden Wirkung einbĂŒĂŸt, wenn man ihn flacher schleift. Zudem kann man ihn bequem vors Auge halten, am besten in einem Rahmen aus Holz, Knochen oder Horn, mit einem kurzen Haltegriff versehen. So wird aus dem Lesestein das Einglas. 

Es muss vor dem Jahr 1300 gewesen sein, vermutlich in Norditalien, als ein erfindungsreicher Geist auf die Idee kommt, zwei solcher EinglĂ€ser an den Enden der Haltegriffe zu vernieten. Daraus entsteht die erste Form der heutigen Brille, die Nietbrille. Allerdings kein Modell zum Aufsetzen, seitliche BĂŒgel gibt es nicht.

OTON Florian Breitsameter 4

Sie war nicht dafĂŒr gedacht, dass man die auf die Nase klemmen konnte, sondern man musste die tatsĂ€chlich vor die Augen halten, wenn man was anschauen wollte. Man hat es selber so lange eingestellt, bis man einigermaßen wieder scharf sah. NatĂŒrlich mit allen Fehlern, die das Glas damals auch hatte, das heißt, es hatte Schlieren, es hatte im schlimmsten Fall EinschlĂŒsse, war nicht sauber geschliffen, hat an dem Rand schon stark verzerrt, man hatte eigentlich bloß einen kleinen Ausschnitt, wo man wirklich einigermaßen scharf sehen konnte damit. Aber wie gesagt: besser als nichts.

MUSIK z.B. Der Name der Rose - End Titles, darĂŒber:

ERZÄHLERIN

Die Nietbrille hilft vor allem Mönchen beim Lesen und Schreiben. So wird sie beim Volk und auch in der darstellenden Kunst zum Symbol fĂŒr Bildung und Gelehrsamkeit. Bildhauer und Maler zeigen Propheten und Philosophen gern bebrillt, auch bei Petrus an der Himmelspforte darf die Nietbrille nicht fehlen. Die erste Darstellung einer Brille nördlich der Alpen findet sich 1403 auf dem Altar der Stadtkirche von Bad Wildungen. Der darauf abgebildete „Brillenapostel“ ziert heute noch das Siegel der Kirchengemeinde.

SOUND Knarzen, Buchdruck-Presse

ERZÄHLERIN

Weltliche BrillentrĂ€ger außerhalb von Klostermauern finden sich erst mit dem Beginn der Neuzeit. Als Johannes Gutenberg 1450 den Buchdruck erfindet, revolutioniert er die abendlĂ€ndische Gesellschaft. Texte sind leicht und billig zu vervielfĂ€ltigen, der Bildungsdurchschnitt steigt, immer mehr Menschen lernen lesen. 

Die Nebenwirkung: der Bedarf an Brillen wÀchst. 

Der NĂŒrnberger Ratserlass fĂŒr Brillenmacher von 1478 gibt erste schriftliche Hinweise auf die Herstellung von Brillen in der Stadt. 1535 wird in NĂŒrnberg dann die erste Brillenmacher-Zunft gegrĂŒndet, Regensburg, Augsburg und FĂŒrth folgen. Die Technik wird immer weiter verfeinert: ab dem 16. Jahrhundert sind konkav geschliffene GlĂ€ser gegen Kurzsichtigkeit nachgewiesen. 

Der im frĂŒhen 17. Jahrhundert lebende Philosoph und Naturwissenschaftler RenĂ© Descartes schreibt ĂŒber die Bedeutung der Brille: 

ZITATOR

„Unsere gesamte LebensfĂŒhrung hĂ€ngt ab von unseren Sinnen, und die Tatsache, dass das Sehen der umfassendste und prĂ€chtigste von ihnen ist, lĂ€sst keine Zweifel daran, dass alle Erfindungen, die der Erweiterung seiner Kraft dienen, zu den nĂŒtzlichsten gehören, die es gibt.“

ERZÄHLERIN

AberglĂ€ubische Menschen wiederum sehen keinen Nutzen in der Brille, sondern halten sie fĂŒr Teufelszeug. Die Wirkung des geschliffenen Glases können sie sich nicht erklĂ€ren, also mĂŒssen hier dĂ€monische ZauberkrĂ€fte mit im Spiel sein. FĂŒr dieses Klientel entwickeln findige Wunderheiler die absonderlichsten Arzneien und AugenwĂ€sserchen. 

Wie wÀre es mit diesem Rezept aus dem 14. Jahrhundert? 

ZITATOR

Eselsmilch, Majoran, Augentrost, Schöllkraut, Fenchel und RosskĂŒmmel mischen und alles trinken. 

ERZÄHLERIN

Und dann auf die heilende Wirkung warten. 300 Jahre spÀter warnt der Dresdner Okulist Georg Bartisch:

ZITATOR

Lasst euch nicht auf eine „gefĂ€hrliche“ Brille ein. Nehmet stattdessen meine Tropfen mit „gepĂŒlvert GĂ€msenleber“ und „gepĂŒlvert RebhĂŒhnerherz“. 

ERZÄHLERIN

Andere ArzneibĂŒcher empfehlen zur Verbesserung der Sehkraft, sich eine gedörrte Fuchszunge um den Hals zu hĂ€ngen.

MUSIK, evtl. Sarabande HĂ€ndel (fĂŒr Welt des reichen Adels)

ERZÄHLERIN

Wer sich dennoch fĂŒr die Brille entscheidet, hat die Qual der Wahl. Vom Billigglas bis zur Luxusvariante. Am teuersten und begehrtesten: reines, weißes Glas aus Venedig, von der GlasblĂ€ser-Insel Murano. Glas, das standesgemĂ€ĂŸ in ein exquisites, aufwĂ€ndig verziertes Gestell eingepasst wird. Vor allem der Adel entdeckt mit der neu erwachten Lust aufs Lesen auch die Brille als modisches Accessoire. Am Spanischen Hof kommt es im 17. Jahrhundert gar zu einem regelrechten Brillen-Hype. Selbst adelige Damen, die sich bester Sehkraft erfreuen, tragen - si claro - Brille, nur eben mit gerahmtem Fensterglas.

SOUND (Brillen-)Glas bricht oder knackst

ERZÄHLERIN

Kaputtes Fensterglas ist leicht auszutauschen. Kaputte geschliffene GlÀser passend zu ersetzen hingegen ein Problem. Und wer noch dazu auf edles Murano-Glas beharrt, braucht viel Geduld. Der englische Kanzler, Thomas Morus, hatte wohl eine kaputte Murano-Brille. Doch das neue Glas kam und kam nicht. So musste er sich vom Maler Hans Holbein mit gesprungenem linken Brillenglas portrÀtieren lassen. 

OTON Florian Breitsameter 5

Eine ganz interessante Entwicklung ist beispielsweise hier die Glasbrille, das ist quasi so ein VorlĂ€ufer der randlosen Brille. Das heißt, Sie haben beide GlĂ€ser und der Mittelsteg ist ein StĂŒck aus Glas und links und rechts sind bloß Ösen und damit haben Sie ein Band befestigt und das quasi um den Kopf gebunden und damit hatten Sie eine randlose Brille und konnten damit schön sehen, hatten beide HĂ€nde frei auch tatsĂ€chlich fĂŒr Ihre Arbeit und ja, es sah jetzt nicht unbedingt schön aus, aber war relativ praktisch. Aber natĂŒrlich, da das Ganze aus einem StĂŒck Glas gefertigt war: wenn die einmal runterfiel, war sie kaputt. Also in der Hinsicht dann doch eher unpraktisch. 

SOUND Glas zerbricht

MUSIK leicht ironisch, z.B. Kite Flying Society, Soundtrack Rushmore

ERZÄHLERIN

Die Brille mag zwar das Symbol fĂŒr Bildung und Gelehrsamkeit sein, schnell werden ihre TrĂ€gerinnen und TrĂ€ger aber auch Zielscheibe fĂŒr Spott. Es gibt Karikaturen ĂŒber die BĂŒchernarren, die tief in ihre Werke versunken sind und jenseits des Brillenrahmens die Welt gar nicht mehr wahrnehmen. Und neue Wortschöpfungen: Brillenschlange, Blindschleiche. Die SehkrĂŒcke oder das Spekulier-Eisen. Was vom lateinischen Wort „speculare“ fĂŒr „beobachten“ abstammt. Daher sagt man in den USA zu den Brillen auch „specs“. Aber egal in welchem Jahrhundert - mit ihren „specs“ können sich viele gar nicht anfreunden, jenseits und diesseits des Atlantiks.

MUSIK kurz hoch (leicht ironisch, z.B. Kite Flying Society, Soundtrack Rushmore)

ERZÄHLERIN

Der prominenteste Brillen-Hasser hierzulande: Deutschlands DichterfĂŒrst Johann Wolfgang von Goethe. Er ist kurzsichtig und kann bei Theaterbesuchen das Ensemble auf der BĂŒhne nur unscharf sehen, was ihn nervt. Noch mehr nerven ihn aber seine Sehhilfen, wie er schreibt:

ZITATOR

„Sooft ich durch eine Brille sehe, bin ich ein anderer Mensch und gefalle mir selber nicht. Ich sehe mehr, als ich sehen sollte. Die schief gesehene Welt harmoniert nicht mit meinem Inneren, und ich lege die GlĂ€ser geschwind wieder weg, wenn meine Neugierde, wie dieses oder jenes in der Ferne beschaffen sein möchte, befriedigt ist.“ 

ERZÄHLERIN

GesprĂ€chspartner, die Brille tragen, sind Goethe höchst suspekt. Mit ihnen könne man sich nicht unbefangen unterhalten. Außerdem – so wird es in Herbert Schwinds Buch ĂŒber „Brillengeschichten“ zitiert - habe er stets das GefĂŒhl, dass sein GegenĂŒber ihm bei der erstbesten Gelegenheit etwas UnverschĂ€mtes sagen wolle. GefĂŒhle, die Goethe 1827 in dem Gedicht „Feindseliger Blick“ verewigt:

ZITATOR

Du kommst doch ĂŒber so viele hinaus,

Warum bist du gleich außer‘m Haus,

Warum gleich aus dem HĂ€uschen,

Wenn einer dir mit Brillen spricht?

Du machst ein ganz verflucht Gesicht

Und bist so still wie MĂ€uschen.

(
)

Was ist denn aber beim GesprÀch,

Das Herz und Geist erfĂŒllet,

Als dass ein echtes WortgeprÀg

Von Aug zu Auge quillet!

Kommt jener nun mit GlÀsern dort,

So bin ich stille, stille;

Ich rede kein vernĂŒnftig Wort

Mit einem durch die Brille. 

OTON Florian Breitsameter 6 

Es klingt paradox, wir verbinden Goethe mit Dichter und Denker als einen Intellektuellen und heute werden Intellektuelle sehr gern mit Brille gesehen, eigentlich auch dargestellt. Goethe sah das anders, der war sehr eitel, wollte eben als eitler Mensch nicht mit Brille dargestellt werden. Es gibt auch keine Darstellung von ihm mit Brille, man weiß nur, dass er eine Scherenbrille benutzt hat, tatsĂ€chlich, wenn es notwendig war.

ERZÄHLERIN

Eine Scherenbrille, wie sie auch in der Ausstellung im Deutschen Museum MĂŒnchen zu sehen ist. Das Konzept der Scherenbrille ist Ă€hnlich dem der Nietbrille, nur dass man sie sich nicht von oben vor das Gesicht hĂ€lt. Stattdessen nimmt man die beiden lĂ€ngeren Griffe mit den eingefassten GlĂ€sern, klappt das Gelenk wie eine Schere auf und hĂ€lt sie von unten im passenden Abstand vor die Augen. Manche Modelle haben im Griff gleich ein Etui integriert, so dass die Brille schnell und unauffĂ€llig wieder verstaut werden kann. Scherenbrillen sind von 1750 bis ins 19. Jahrhundert hinein im Einsatz. Dann werden sie von der in Frankreich bei adeligen Damen populĂ€ren Lorgnette abgelöst, der Stiel-Brille. Bei ihr können sich Frauen wie MĂ€nner die Brille am Ende eines langen Stiels vors Gesicht halten. Dank eines Kettchens am Stil hĂ€ngen sich viele die Lorgnette wie ein SchmuckstĂŒck um den Hals, aufwĂ€ndig verzierte, silbern oder golden gefasste Miniaturkunstwerke. Florian Breitsameter zeigt ein besonderes Exemplar, das zugleich als Sehhilfe und als Hörhilfe dienen kann: die Hör-Lorgnette. 

OTON Florian Breitsameter 7

Das ist ein sehr gutes Beispiel ĂŒber die Wahrnehmung zwischen schlecht hören und schlecht sehen. Die Hörlorgnette einerseits sieht aus wie eine normale Lorgnette. Das heißt, Sie haben GlĂ€ser drin und man hĂ€lt es sich elegant vor das Auge. Und jeder denkt, ah, die Person sieht schlecht. In Wirklichkeit aber ist es eigentlich ein verstecktes Hörrohr. Wir haben oben am Ende, kurz ĂŒber den GlĂ€sern, eine kleine Olive. Die können Sie sich ins Ohr stecken. Und unten am Griff ist eine Öffnung und der ganze Griff ist hohl. Und es ist eigentlich nichts anderes als ein langes Schallrohr, ein verstecktes Hörrohr. Denn das Schlechthören war noch peinlicher als das Schlechtsehen. Schlechthören hieß auch, dass man eben GesprĂ€chen nicht gut folgen konnte. Man war schnell die Außenseite. Man ist getrennt von den Menschen. Es gibt zum Beispiel auch den Spruch: „Nicht sehen können, trennt von den Dingen, nicht hören können von den Menschen.“

ERZÄHLERIN

Die Brille als modisches Accessoire - etwa in Form einer verzierten Lorgnette. Mit Eleganz und Grazie wird die SehschwĂ€che kaschiert. Eine Eleganz, die den Hörhilfen fehlt. Das beschleunigt die gesellschaftliche Ausgrenzung und die verhĂ€ngnisvolle Haltung: Wer schlecht hört, ist auf der Seite der Dummen. Deutlich zeigt dies das englische Wort fĂŒr taub, deaf, eng verwandt mit dem deutschen Wort doof. 

OTON Florian Breitsameter 8 

Es war viel peinlicher, schlecht zu hören und ein Hörrohr benutzen zu mĂŒssen, als es peinlich war, eine Lorgnette oder eine Sehhilfe benutzen zu mĂŒssen. Und es hat sich auch heute nichts daran geĂ€ndert. Im Grunde, ein Mensch, der quasi durch eine Brille sieht, kann man sagen, der wird vielleicht wahrgenommen als intellektuell, als schlau und sonst etwas. WĂ€hrend ein Mensch, der ein HörgerĂ€t trĂ€gt, das sieht eher aus wie ein Makel, ehrlich gesagt. Das ist immer noch so in der Gesellschaft.

MUSIK preußisch streng, passend zu Monokel/Wiener Kongress

ERZÄHLERIN

Eine Gesellschaft, die lange Zeit das Tragen einer Brille vor allem den MĂ€nnern zugesteht. WĂ€hrend die Damenwelt sich nur im Bedarfsfall die Lorgnette vors aparte Gesicht halten soll, wird die Brille zum festen Bestandteil des mĂ€nnlichen Erscheinungsbilds. Preußische Strenge und AutoritĂ€t vermittelt dabei insbesondere das Monokel, das Einglas, das am Auge eingeklemmt wird. Auf dem Wiener Kongress 1814 bis 1815 zeigen sich die ersten Diplomaten mit Monokel, damals in Österreich als „Ringstecher“ bekannt. Bald wird das Monokel zum Symbol einer elitĂ€ren Aristokratie und des höheren MilitĂ€rdienstes. Als Ausdruck einer guten Erziehung zĂ€hlt in diesen Kreisen eine regungslose Mimik, und die war dringend nötig, um das Einglas im Gesicht zu behalten. Auch das aufstrebende, wohlhabende BĂŒrgertum idealisiert zunehmend eine bewusste, aufrechte Körperhaltung. Die nehmen nicht nur Monokel-TrĂ€ger ein. Ende des 19. Jahrhunderts werden auch Klemmer oder Kneifer populĂ€r. Die hĂ€lt eine elastische Federspange zwischen den GlĂ€sern auf der Nase, aber da die SeitenbĂŒgel fehlen, sind allzu hastige Bewegungen nicht ratsam. So betont der bis zum 1. Weltkrieg beliebte Kneifer eine aufrechte, militĂ€risch stramme Haltung.  

MUSIK Charleston, Roaring Twenties, kurz

ERZÄHLERIN

Mit den 1920er Jahren und den aufkommenden Roaring Twenties setzt sich dann die BĂŒgelbrille endgĂŒltig durch. Deutsche Firmen wie Zeiss oder Rodenstock revolutionieren mit ihren Patenten den Weltmarkt fĂŒr geschliffene GlĂ€ser. Carl Zeiss etwa patentiert 1936 das Verfahren zur Entspiegelung von GlĂ€sern, allerdings dauert es weitere zwei Jahrzehnte bis Zeiss 1959 als erster Hersteller fĂŒr den breiten Markt entspiegelte GlĂ€ser anbieten kann. In den 1950er Jahren werden auch die ersten Prototypen der GleitsichtglĂ€ser entwickelt, denen dank aufwĂ€ndiger Berechnungen der nahtlose Übergang von Fern- zu Nahsichtkorrekturen gelingt. 

SOUND GlÀser schleifen

ERZÄHLERIN

Der VorgĂ€nger der GleitsichtglĂ€ser, die Bifokal-Brille, hat ĂŒbrigens einen berĂŒhmten Erfinder: Benjamin Franklin. Der amerikanische Staatsmann und Verleger entwickelt unter anderem den Blitzableiter und eine frĂŒhe Form der Taucherflossen und wird einer der entscheidenden Autoren der UnabhĂ€ngigkeitserklĂ€rung und der Verfassung der Vereinigten Staaten. Ein Mann, der viel liest und schreibt und seine Augen nicht schont. Gegen seine Kurzsichtigkeit trĂ€gt Benjamin Franklin eine Fernbrille, fĂŒr die zunehmende Altersweitsicht braucht er aber eine Lesebrille. Das stĂ€ndige Wechseln der beiden Brillen wird ihm lĂ€stig. Also schneidet er um 1770 die GlĂ€ser der beiden Brillen in der Mitte auseinander und setzt die beiden TeilstĂŒcke in einer einzigen Fassung ĂŒbereinander. Mit diesem „Franklin-Glas“ bastelt er sich die erste Bifokal-Brille. Schaut Benjamin Franklin nach unten, kann er lesen. Sieht er nach oben, kann er den Blick in die Ferne schweifen lassen und die Aussicht in allen Details genießen. 

MUSIK Top Gun Anthem - Harold Faltermeyer

ERZÄHLERIN

Und heute? Hat die Brille durch die Kontaktlinsen und Laserchirurgie moderne Konkurrenz bekommen - und hat sich dennoch von den Augen dieser Welt einen festen Platz auf Millionen, ach was, auf Milliarden von NasenflĂŒgeln gesichert. Als Sehhilfe und - ebenso wichtig - als Schutz fĂŒr die Augen, als Sonnenbrille. 

Die hat sich zum Tausendsassa entwickelt. SchĂŒtzt vor der Sonne - wie einst Neros grĂŒner Smaragd. Und spielt mit der eigenen Persönlichkeit. Sie lĂ€sst einen elegant erscheinen - wie Audrey Hepburn auf Shopping-Tour in „FrĂŒhstĂŒck bei Tiffany“. Oder heldenhaft cool - wie Tom Cruise im Flieger-Abenteuer „Top Gun“. 

(Musik kurz frei bzw. hochziehen)

Er trĂ€gt eine Ray Ban Aviator, mit klassisch grĂŒn gefĂ€rbten GlĂ€sern, gut gegen UV-Strahlung. Mit ihrem ikonenhaften Design darf sie auch im Deutschen Museum in Florian Breitsameters Sammlung zur Brillengeschichte nicht fehlen. 

OTON Florian Breitsameter 9

Die klassische Ray Ban Aviator, die man aus Top Gun kennt, ist die erste Art dieser Brille, die fĂŒr die normalen Gebraucher, also fĂŒr die normalen Menschen gedacht war. Denn entwickelt wurde diese Brille tatsĂ€chlich fĂŒr Piloten. Und zwar fĂŒr amerikanische Piloten, die im Krieg sozusagen gegen die Sonne fliegen mussten und deswegen einen guten Schutz fĂŒr ihre Augen brauchten. Und deswegen hat man extra die Entwicklung einer Sonnenbrille in Auftrag gegeben. Die Besonderheit, was sozusagen immer charakteristisch war fĂŒr diese Brille, ist oben ein sehr, sehr dicker Steg. Und dieser Steg war gedacht nicht nur fĂŒr StabilitĂ€t, sondern dieser Steg sollte Schweißtropfen, die von der Stirn kommen, aufhalten.

Die Sonnenbrille hat sehr stark auch mitgeholfen, dass die Brille etwas Modisches wurde und dann wird es eben zur NormalitÀt etwas auf der Nase zu tragen und wird auch nicht mehr unterschieden, ist es jetzt wegen Kurzsichtigkeit, Weitsichtigkeit oder weil ich einen Sonnenschutz will oder ich will einfach modisch eine Brille tragen.