radioWissen - Bayern 2   /     Provenienzforschung - Die Geschichte hinter den Kunstwerken

Description

Immer häufiger begegnen uns bei Museumsbesuchen die Ergebnisse der Provenienzforschung. Die beschäftigt sich mit der Herkunft und Geschichte von Kunstwerken. Neben dem Inhalt, den das Museumsstück darstellt, spielt heute also auch seine "Biografie" eine immer wichtigere Rolle. Von Julia Devlin

Subtitle
Duration
00:20:31
Publishing date
2025-01-31 03:30
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/provenienzforschung-die-geschichte-hinter-den-kunstwerken/2102741
Contributors
  Julia Devlin
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2102741/c/feed/provenienzforschung-die-geschichte-hinter-den-kunstwerken.mp3
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Shownotes

Immer häufiger begegnen uns bei Museumsbesuchen die Ergebnisse der Provenienzforschung. Die beschäftigt sich mit der Herkunft und Geschichte von Kunstwerken. Neben dem Inhalt, den das Museumsstück darstellt, spielt heute also auch seine "Biografie" eine immer wichtigere Rolle. Von Julia Devlin

Credits
Autorin dieser Folge: Julia Devlin
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Julia Fischer, Herbert Schäfer
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz

Im Interview:
Dr. Sven Haase, Staatliche Museen zu Berlin

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Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

Die Menschen hinter den Kunstwerken:

Kunst, Raub und Rückgabe - Vergessene Lebensgeschichten
Mit Ihrer Liebe zur Kunst prägten sie das europäische Kulturleben. Dann wurden sie von den Nationalsozialisten verfolgt, beraubt, vertrieben und ermordet - weil sie Jüdinnen und Juden waren. Einiger ihrer Lebensgeschichten werden HIER erzählt.

Zur Provenienzgeschichte der Skulptur „Susanna“:

„Susanna“, Begas, Mosse – Die Geschichte hinter dem Objekt
Oft ist es schwierig, den Weg und die Stationen eines Objekts bis zu seinem heutigen Standort nachzuvollziehen. Das Beispiel der „Susanna“ von Reinhold Begas. HIER

Literatur:

Petra Winter (Hrsg.): Die Wege der Kunst. SpurenSuchen. Begleitheft zur Provenienzforschung in der ständigen Ausstellung der Alten Nationalgalerie. Berlin 2024.

Christoph Zuschlag: Einführung in die Provenienzforschung. Wie die Herkunft von Kulturgut entschlüsselt wird. München 2022. Eine umfassende Einführung in Geschichte, Methoden und ethische Fragestellungen.

Jan Schleusener: Raub von Kulturgut. Der Zugriff des NS-Staats auf jüdischen Kunstbesitz in München und seine Nachkriegsgeschichte. Berlin/München 2016.

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHERIN

Die Museumsinsel in Berlin. Hier finden sich, von den Armen der Spree umschlossen, viele spektakuläre Museumsgebäude. Das neueste: die James-Simon-Galerie mit ihrer großen Freitreppe. Hat man die vielen Stufen erst einmal erklommen, wird man im Foyer von einem weißen Löwen begrüßt. Lebensgroß, aus hellem Kalkstein, hebt er majestätisch den Kopf, das Maul leicht geöffnet, die Ohren wachsam aufgestellt. Er scheint wie gemacht für den hellen, großzügigen Raum. Doch er stand nicht immer hier, sondern hat ein wechselvolles Schicksal durchlebt.

ATMO

Stadtgeräusche, flanierende Menschen

MUSIK  Morgenblätter Walzer 0.30

SPRECHER

Berlin, 1902. Der Berliner Zeitungsverleger Rudolf Mosse wünscht sich für den Eingangsbereich seines Stadtpalais eine Löwenskulptur. Er beauftragt den Bildhauer August Gaul, und bald schon zieht das imposante Tier im Mosse-Palais in der Vossstraße im Herzen Berlins ein.  

ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 5

8.40 Der Verleger Rudolf Mosse, ein richtiger Self-made Mann, der ein großes Medienimperium im späten 19. Jahrhundert in Berlin aufbaut, der Mann, der die Werbung in die Zeitung bringt, damit sozusagen sein Geld verdient...

SPRECHERIN

Dr. Sven Haase ist Provenienzforscher am Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin. 

O-Ton 7

12.56 Provenienz bedeutet Herkunft, und bei der Provenienzforschung geht es darum, die Herkunft der Objekte zu untersuchen. Für Museen heißt das ganz konkret, wie ist es in die Sammlung gekommen.  Wir haben den politischen Auftrag, herauszufinden, ob das, was in die Sammlung gekommen ist, dort rechtmäßig ist, ganz konkret bezogen auf die Jahre 1933 bis 45, dass wir ausschließen können, dass es NS-Raubkunst ist.

MUSIK  Morgenblätter Walzer 0.35

SPRECHER

Im Zuge der Provenienzforschung in den Staatlichen Museen zu Berlin führte die Spur in mehreren Fällen zu der Familie Mosse. Rudolf Mosse hat aus dem Nichts heraus ein Presseimperium aufgebaut. Begonnen hat er 1867 mit einer Anzeigenagentur: er pachtet weltweit Zeitungsseiten, für die er dann Annoncen vermittelt. Schon bald darauf gibt er mehrere Zeitungen und Zeitschriften heraus, darunter das progressive „Berliner Tageblatt“.  

MUSIK  The Boss 0.57

SPRECHERIN

Nach dem Tod des Firmengründers Rudolf Mosse im Jahr 1920 führen Tochter und Schwiegersohn das Unternehmen weiter. Bis Hitler an die Macht kommt. Die Nationalsozialisten verabscheuen den Mosse-Verlag – weil er liberale, demokratische Ansichten vertritt, und weil die Familie Mosse jüdischer Abstammung ist. 

SPRECHER

Der Familie gelingt die Flucht ins sichere Ausland, doch ihr Unternehmen wird zerschlagen, ihr Besitz, darunter auch die umfangreiche Kunstsammlung, beschlagnahmt. Das Mosse-Palais ist am Ende des Zweiten Weltkriegs nur noch eine Ruine. Ein historisches Foto zeigt die zerborstenen Wände des einst prachtvollen Baus und meterhohe Schutthaufen. Dazwischen ruht – der weiße Löwe. Wie durch ein Wunder hat er die Schlacht um Berlin unversehrt überstanden. Er wird aus den Trümmern geborgen und in das Depot der Nationalgalerie gebracht. 

MUSIK  Morgenblätter Walzer 0.30

SPRECHERIN

Dort ruht er jahrzehntelang auf einer Holzpalette in einem Regal zwischen anderen Skulpturen, einen Zettel um den mächtigen Hals, bis Provenienzforscherinnen der Staatlichen Museen zu Berlin die Kunstwerke im Depot in Augenschein nehmen. Sie wollen herausfinden, wem die Kunstwerke gehörten, bevor sie in die Sammlung kamen. Von dem Löwen kennt man bis dahin nur den Fundort: Die Vossstraße am Leipziger Platz. Durch diese Adresse lässt sich die Spur zu dem früheren Besitzer, dem Verleger Rudolf Mosse verfolgen. 

SPRECHER

Ein weiteres Werk aus der großen Kunstsammlung von Mosse ist die Marmorskulptur „Susanna“ in der Alten Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel. Sie stellt die biblische Gestalt der Susanna dar, eine schöne junge Babylonierin, die sich der Übergriffigkeit zweier betagter Richter erwehren muss, ein „Me Too“-Fall aus dem Alten Testament. 

Ein Auskunftsersuchen der Erben von Rudolf Mosse, die heute in den USA leben, ist der Anstoß dafür, die Provenienz zu erforschen. Im Kuppelsaal der Alten Nationalgalerie, wo die Skulptur heute steht, erzählt Dr. Sven Haase ihre wechselvolle Geschichte.

ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 1

0.36 Die Susanna von Reinhold Begas, .. 1869 in Marmor geformt, eine Tonne schwer, nahezu, kam 1994 in die Sammlung, und wird seitdem von uns als Fremdbesitz geführt. Deswegen wussten wir auch von dem Auskunftsersuchen, das von der Familie Mosse an uns herangetragen wurde, auch nicht so recht etwas anzufangen, weil wir die Geschichte des Stückes nicht kannten. ... und haben dann begonnen, das zu recherchieren. Ja, wieso eigentlich "Fremdbesitz" - wie kam denn das Stück in die Sammlung, damit ging es eigentlich los, weil wir keine Verbindung zur Familie Mosse hatten, was die Provenienz angeht, und dass sich dahinter eine irre Translokationsgeschichte verbirgt...

SPRECHERIN

Von Translokation spricht man, wenn Objekte Ortswechsel erlebt haben. Im Falle der Susanna waren das Wanderungen über zweitausend Kilometer hinweg- erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die große Skulptur fast eine Tonne wiegt. 

MUSIK Inner life 1.04

ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 2

1.25 Also 1994 überwies das Museum der Bildenden Künste in Leipzig die Susanna an die Nationalgalerie, 16 Jahre hatte die Figur in Leipzig gestanden, an unterschiedlichen Standorten, und Ende der 70er Jahre kam sie nach Leipzig aus Sankt Petersburg, .. das damalige Leningrad damals noch, wieso Leningrad, die Plastik war 1945/46 durch eine sogenannte sowjetische Trophäenbrigade dorthin gebracht worden, dann auch dort eine ganz spektakuläre Geschichte, die Kollegen aus Leipzig, die dann dorthin gefahren sind Ende der Siebziger Jahre mussten die Figur erst freilegen, die war nämlich eingemauert eingemauert im Treppenhaus der Akademie, um sie sozusagen im Rahmen der Völkerverständigung zwischen der Sowjetunion und der DDR zurück nach Berlin zu bringen.

2.09 Jetzt stand das Ding in Leipzig, eine neobarocke Skulptur, im Völkerkundemuseum in Leipzig auch nicht gerade gut aufgehoben, so dass man sie nach der Wende nach Berlin brachte. 2.20 Und so wurde sie dann hier, in guter Gesellschaft zu anderen Begas-Figuren, ausgestellt. Aber wie gesagt, es gab keine Verbindung zu der Familie Mosse.

SPRECHERIN

Durch Provenienzforschung kann schließlich die Geschichte der „Susanna“ Zug um Zug geklärt werden, und auch hier ergibt sich der Vorbesitz von Rudolf Mosse. Die Skulptur wird – wie der Löwe – an die Nachfahren von Rudolf Mosse zurückgegeben – restituiert - und anschließend für die Alte Nationalgalerie zurückerworben. 

ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 6

10.16 Was ich so spannend auch als Provenienzforscher finde, näher kommt man an die Verbindung zwischen Objekt und Geschichte nicht ran, also ein Objekt oder seine Eigentümer sind ja Protagonisten der Zeitgeschichte, und denen passieren Dinge, es geschehen Kriege, es passieren Verfolgungen, Leute gehen ins Exil, und Kunst begleitet sie, wird verloren, muss verkauft werden, bleibt unbeschadet wie der Löwe im Garten der Familie Mosse sitzen, während die Bomben auf Berlin fallen, ... und diese geschichtliche Ebene von der Provenienzforschung - wir haben auf der einen Seite die rechtliche, die Restitutionsebene, aber eben auch die historische Ebene, das ist ein ungeheuer spannendes Feld, wo ich denke, dass sie auch die Museumsarbeit bereichern kann und die Darstellung, weil zum einen erzählt sie die Geschichte eines Objekts, ... zum anderen kann sie wie im Fall Mosse auch an die ehemaligen Eigentümer erinnern. ... und das verschüttete Wissen auch wieder zurück ins Gedächtnis der Gesellschaft holen.

SPRECHER

Habent sua fata libelli, sagt das lateinische Sprichwort. Bücher haben ihre Schicksale. Was das lateinische Sprichwort über Bücher sagt, trifft auch auf Kulturgüter zu. Denn die sind begehrt, was Orts- und Besitzwechsel mit sich bringen kann. Sei es durch Raub, Tausch, Kauf, Diebstahl, durch Flucht, Migration, Handel, Schenkung – Gründe, warum Kunstwerke wandern, gibt es viele. Seit der Antike gibt es diese Translokation. Nicht immer, aber häufig hat dies mit Krieg und Gewalt zu tun. 

MUSIK  Terror warning alt 1.00

SPRECHER

Denn lange wurde es als Recht des Siegers gebilligt, Kulturgüter zu rauben – um sich zu bereichern, aber auch, um die Besiegten zu demütigen, ihre kulturelle Identität zu beschädigen oder gar auszulöschen.

SPRECHERIN

Die Römer beispielsweise plünderten die von ihnen eroberten Provinzen, darunter auch Ägypten. Davon zeugen bis heute mehrere ägyptische Obelisken, die die Sieger zum Zeichen ihrer Macht in der Hauptstadt Rom aufstellen ließen. Manche Kunstwerke wurden gleich mehrmals geraubt. So die berühmten Pferde auf dem Markusdom in Venedig. Kreuzritter plünderten zu Beginn des 13. Jahrhunderts Konstantinopel und brachten unter anderem vier antike vergoldete Pferdestatuen nach Venedig. Über dem Hauptportal der Markuskirche aufgestellt, wurden sie ein Wahrzeichen der Lagunenstadt. Napoleon, der Venedig Ende des 18. Jahrhunderts eroberte, ließ die Pferde nach Paris bringen, wo sie einige Jahre den Arc de Triomphe krönten. Bis zum Fall Napoleons: denn dann musste das besiegte Frankreich die Pferde an Venedig zurückgeben.  

MUSIK  The Boss 0.50

SPRECHER

Das nationalsozialistische Regime begann mit der Machtübernahme 1933, jüdische Bürgerinnen und Bürger zu entrechten. Dabei bereicherte es sich an deren Eigentum und raubte Kunstwerke und andere Kulturgüter – direkt, durch Beschlagnahmung, und indirekt, indem Verfolgte ihren Besitz unter Wert verkaufen mussten, weil sie durch die diskriminierenden Gesetze ihre Arbeit verloren hatten, um sich die rettende Flucht ins Ausland zu finanzieren oder die jüdischen Menschen auferlegten Abgaben zu begleichen. Adolf Hitler und hochrangige NS-Funktionäre wie Martin Bormann und Hermann Göring bereicherten sich persönlich an diesem Kunstraub. Zahllose andere Kunstwerke gelangten über Auktionen in öffentliche und private Sammlungen. 

SPRECHERIN

Nach dem Krieg kümmerten sich die westlichen Alliierten um die Rückgabe von Kulturgütern an die rechtmäßigen Eigentümer. Doch für viele Opfer war es aus persönlichen und organisatorischen Gründen nicht möglich, ihre Forderungen durchzusetzen, und ab den 1970er Jahren galten Rechtsansprüche in der BRD als verjährt. In der DDR wurden keine gesetzlichen Grundlagen geschaffen, um Verfolgten des NS-Regimes ihr geraubtes Eigentum zurückzugeben. 

SPRECHER

Mit der deutschen Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges begann eine neue Phase der Beschäftigung mit Raubkunst. Dadurch bekam auch die Provenienzforschung, die bis dahin als eine eher im Hintergrund agierende Hilfswissenschaft betrachtet wurde, mehr Beachtung. Erst recht mit der Verabschiedung der Washingtoner Prinzipien 1998. Auf einer internationalen Konferenz in Washington wurde darüber beratschlagt, wie mit den Kulturgütern umzugehen sei, die die Nationalsozialisten geraubt hatten. 

SPRECHERIN

In den nach dem Tagungsort benannten Washingtoner Prinzipien wurde festgelegt, dass geraubtes Kulturgut identifiziert werden soll und dass faire und gerechte Lösungen mit den rechtmäßigen Eigentümern, also den Beraubten oder deren Nachkommen anzustreben seien. Über vierzig Staaten, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland, unterschrieben diese freiwillige Selbstverpflichtung. 

SPRECHER

Doch richtig ins breite Bewusstsein gelangte die Provenienzforschung erst später. Das hatte mit dem sogenannten Schwabinger Kunstfund zu tun. 

MUSIK  Holy Bequerel A(2) 1.35

SPRECHER

Im Jahre 2013 wurde bekannt, dass Steuerermittler in der Münchener Wohnung von Cornelius Gurlitt rund 1200 Kunstwerke beschlagnahmt hatten. Gurlitt hatte diese Kunstwerke von seinem Vater geerbt, dem Kunsthändler Hildebrand Gurlitt, der eng mit dem nationalsozialistischen Regime zusammenarbeitete. Das Medienecho war enorm, im In- und Ausland wurde der Verdacht geäußert, dass Gurlitt NS-Raubkunst gehortet hätte - und dass Deutschland zu wenig für die Aufklärung des historischen Unrechts tue. Als Reaktion richteten die Bundesrepublik Deutschland und der Freistaat Bayern eine Taskforce ein, die die Provenienzen der Gurlitt'schen Sammlung erforschte. 

SPRECHERIN

Der Verdacht auf Raubkunst erhärtete sich nur bei einem Bruchteil der Werke, und die Rechtmäßigkeit des Vorgehens bleibt umstritten. Doch die Wahrnehmung in Politik und Gesellschaft war geschärft: für das Ausmaß und die Komplexität des NS-Kunstraubs, für die anhaltende Aktualität des Themas und für die Relevanz von Provenienzforschung. Und so wurde zunehmend die Erforschung der Herkunft von Objekten an Museen verankert. Damit einher ging auch eine Sensibilisierung für weitere Unrechtskontexte, so beispielsweise für Kulturgut, das eine koloniale Herkunft hat. 

SPRECHER

Weil die Provenienzforschung sich in einem Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Recht und Moral bewegt, wird sie auch immer wieder zum Gegenstand kulturpolitischer und medialer Diskussionen. Die mitunter, so empfindet das Dr. Sven Haase, nicht ganz konstruktiv geführt werden.

ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 11

20.38 Dieses Narrativ, dass die Museen voll mit Raubkunst sind, und dass die Museen nicht gewillt sind, das zu untersuchen, und wenn sie es herausgefunden haben, nicht rauszugeben, das kann ich für den Fall, wo ich arbeite, für die Staatlichen Museen zu Berlin, die .. Stiftung Preußischer Kulturbesitz einfach nicht bestätigen, weil wir natürlich erst mal den Auftrag haben und wenn wir was rausfinden, ... das natürlich auch zurückgeben wollen. ...

ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 12

21.43 so ein klassischer ... neuerer Kritikpunkt ist, dass die Forscher, Forscherinnen, weil sie in Museen arbeiten, befangen wären.

ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 12 Teil II

22.16 Finde ich einen schwierigen Punkt, weil so funktioniert ja Wissenschaft nicht. Natürlich muss ich ..mit einer Objektivität da ran gehen, und das heißt natürlich auch, dass wenn ich was finde,  nochmal, es gibt ja auch den gesellschaftlichen und politischen Auftrag, das dann ... öffentlich zu machen.

SPRECHERIN

Wobei Dr. Sven Haase auch die Ungeduld über die Langwierigkeit der Aufarbeitung nachvollziehen kann – die oft mangelnden Ressourcen oder der Komplexität der Fälle geschuldet ist. 

ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 15

26.06 Die Kritik ist ja auch berechtigt. Erben oder Opfervertreterverbände haben jedes Recht das auch anzumerken. ... 26.15 Manches dauert zu lange, 26.33 aber grundsätzlich ist es nicht so, dass etwas verschleppt wird. 26.47 Wenn wir eine Restitutionsforderung haben, oder einen Verdacht haben, dann kommt das sehr weit oben auf die Agenda von dem, was wir tun.

MUSIK  What is it 0.42

SPRECHER

Forschende gehen nach einem festgelegten System vor, wenn sie die Objektbiografie rekonstruieren. Zunächst wird das Objekt selber untersucht. Im Falle von Gemälden oder Drucken wird besonders die Bildrückseite genau in Augenschein genommen. Gibt es am Rahmen oder auf der Leinwand Etiketten, Stempel, Siegel, handschriftliche Vermerke? Gibt es Ziffernfolgen, die eine Inventar- oder Katalognummer sein könnten? Deuten Klebereste oder Abschabungen darauf hin, dass Eigentumsvermerke absichtlich entfernt worden sind, vielleicht um eine Herkunft zu verschleiern? Danach geht es daran, den historischen Kontext darzustellen. Dr. Sven Haase:

ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 8

13.49 Ich finde immer, dass Provenienzforschung eigentlich eine relativ klassische historische Recherchewissenschaft ist. 13.55 Wir müssen Informationen sammeln, wir sammeln die über Auktionskataloge, über persönliche Briefe, über Erwerbungsquellen in den Museen, also Archive sind ein wichtiges Thema, Primärquellen, wie kam das Stück ins Museum, steht auf der Rechnung vielleicht ein Hinweis darauf, von wem es kam, oder gibt es einen Briefverkehr dazu, es ist eine echt empirische Wissenschaft, weil wir schon auf der Suche nach einem Beleg sind, also es ist jetzt nicht so sehr die Interpretation oder die Theorie, die uns glücklich macht…

ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 9

14.44 und was immer wichtig ist, die Dinge dann zu kontextualisieren, also so Informationen, die dann z.B. auf einer Rechnung stehen, und die muss ich dann in einen zeithistorischen Zusammenhang bringen. ... Aus diesen beiden Bereichen speist sich sozusagen unsere Aufgabe. 15.02 Es sind Quellen, es sind historische Quellen, wir müssen die kritisch hinterfragen, was habe ich da eigentlich vor mir, das ist für den Historiker, die Historikerin klassisches Handwerk, die Quellenkritik.

SPRECHERIN

Anhand dieser Informations-Puzzlestücke entsteht im Idealfall eine lückenlose Provenienzkette. Mitunter erhärtet sich beim Erforschen der Provenienz eines Kunstwerks der Verdacht auf Raubkunst. Beispielsweise, weil der Besitzwechsel unter Zwang stattgefunden hat oder die Vorbesitzer für ein Kunstwerk keinen oder einen zu geringen Erlös erhielten.

ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 16

31.08 und dann, das ist auch den Washington Principles entsprechend, werden diese Dinge bei Lost Art eingestellt, quasi wie in ein Schaufenster, dass sie sichtbar sind, dass sie transparent sind.

SPRECHERIN

Lost Art ist eine im Internet verfügbare Datenbank, in der Museen und Sammlungen, aber auch Privatpersonen Werke einstellen können, bei denen ein Raubkunstverdacht besteht. Umgekehrt kann dort auch ein Gesuch nach einem vermissten Werk geschaltet werden. Überhaupt profitiert die Provenienzforschung sehr von der Digitalisierung. Viele Kataloge und Inventarbücher sind mittlerweile online einsehbar und Forschende können sich problemlos über Ländergrenzen hinweg vernetzen. 

MUSIK Unanswered questions 1.22

SPRECHERIN

So hat sich seit 1998 die Provenienzforschung von einer wissenschaftlichen Nischendisziplin zu einem selbstverständlichen Teil der Museumspraxis gewandelt.

ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 13

22.42 Es ist eine neue Disziplin, die um 1998 mit den Washington Principles nicht entstanden ist, nicht erfunden wurde, aber doch auf eine sehr neue Basis gestellt wurde und (...) 22.54 auch aus der Disziplin heraus eine Menge erreicht hat. 

SPRECHER

Auch die Erbensuche wird durch das World Wide Web erleichtert. Denn wenn klar ist, dass sich ein Kunstwerk zu Unrecht in einem Museum befindet, werden die rechtmäßigen Eigentümer gesucht, um das Kunstwerk an sie zu restituieren. Damit soll historisches Unrecht beigelegt werden. 

SPRECHERIN

Heilen kann man dieses Unrecht niemals. Doch man kann das Leid der Opfer anerkennen und ihr Leben würdigen. Häufig ist eine Restitution der Auslöser dafür, dass sich Nachkommen mit ihrer Familiengeschichte auseinandersetzen und selber Forschungen betreiben. Und so trägt die Provenienzforschung nicht zuletzt zur Erinnerungskultur bei, indem sie anhand der Biografie von Kunstwerken an die Biografie verfolgter Menschen erinnert.