Um herauszufinden, was die Welt im Innersten zusammenhält, reichte dem englischen Physiker Peter Higgs eine einzige Idee: das nach ihm benannte Higgs-Teilchen. Die Suche danach erforderte einen gigantischen Teilchenbeschleuniger, Milliarden von Euro und ein halbes Jahrhundert Geduld. Von Franzi Konitzer
Um herauszufinden, was die Welt im Innersten zusammenhält, reichte dem englischen Physiker Peter Higgs eine einzige Idee: das nach ihm benannte Higgs-Teilchen. Die Suche danach erforderte einen gigantischen Teilchenbeschleuniger, Milliarden von Euro und ein halbes Jahrhundert Geduld. Von Franzi Konitzer
Credits
Autorin dieser Folge: Franziska Konitzer
Regie: Sabine Kienhhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Thomas Birnstiel, Robert Dölle, Christopher Mann, Sisi Forster
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Giulia Zanderighi, Max-Planck-Institut für Physik, Garching
Sandra Kortner, Max-Planck-Institut für Physik, Garching
Marumi Kado, Max-Planck-Institut für Physik, Garching
Spannende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
Linktipps:
Offizieller Mitschnitt des CERN des Coloquiums am 4. Juli 2012 HIER
Literatur:
Leon Lederman, „The God Particle“, 1993 erschienen, allerdings nie auf Deutsch
Frank Close, „Elusive: How Peter Higgs Solved the Mystery of Mass“, eine Biografie über Peter Higgs, die auch als fast allgemeinverständliche Biografie über das Higgs-Teilchen funktioniert
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Zitator:
„Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh' ich nun, ich armer Tor,
Und bin so klug als wie zuvor!“
Sprecherin:
In Johann Wolfgang von Goethes Werk „Faust I“ möchte der Gelehrte Dr. Heinrich Faust diesen frustrierenden Umstand nicht länger hinnehmen. Denn er will erkennen:
Zitator:
„… was die Welt
Im Innersten zusammenhält …“
Sprecherin:
Da die Wissenschaft ihm nicht zu dieser gewünschten Erkenntnis zu verhelfen mag, löst Faust das Problem auf andere Art: Er ergibt sich der Magie – und verkauft seine Seele an den Teufel. Aus heutiger Sicht vielleicht etwas voreilig: Denn inzwischen wissen wir, was die Welt zusammenhält:
ZSP 01 Zanderighi:
„What holds it together are the forces between particles. So the interactions that we have. The Standard model predicts a certain number of particles and predicts how they interact with each other. And these interactions are what hold the world together, the universe.“
VO weiblich
„Was die Welt zusammenhält, sind die Wechselwirkungen zwischen den Teilchen. Das Standardmodell sagt uns, welche Teilchen es gibt und wie sie miteinander wechselwirken. Und diese Wechselwirkungen sind es, die unsere Welt, unser Universum, zusammenhalten.“
Sprecherin:
… sagt Giulia Zanderighi vom Max-Planck-Institut für Physik in Garching bei München. Hinfort mit dem hehren Erschauern angesichts unsichtbarer Kräfte und kosmischer Mysterien: Das Standardmodell der Teilchenphysik liefert eine Art Bau-Anleitung für das Universum, sagt Sandra Kortner vom Max-Planck-Institut für Physik:
ZSP 02 kortner:
„Man stelle sich vor: eine Box mit Bausteinen. Da sind verschiedene Bausteine drinnen - ich darf jetzt vielleicht nicht Lego sagen - und wir haben auch eine Anleitung. Und diese Anleitung sagt, wie diese Bausteine zusammengehören, welche Kräfte welche Teilchen verbinden. Und das ist mehr oder weniger das Standardmodell.“
Sprecherin:
Ganz klar: Was Faust seinerzeit gefehlt hat, war das Standardmodell der Teilchenphysik. Dann hätte die ganze Tragödie mit dem Seelenverkauf, dem Teufel und dem Gretchen vielleicht ganz anders ausgehen können.
Sprecher:
Zu Dr. Heinrich Fausts Verteidigung ist vorzubringen: Johann Wolfgang von Goethe hat das Stück im Jahr 1808 veröffentlicht. Zu dieser Zeit gab es weder Klemmbausteine noch das Standardmodell der Teilchenphysik noch tausende von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich jahrzehntelang mithilfe einer wahren Weltmaschine auf die Suche begeben: nach dem letzten, entscheidenden Teilchen, das ihnen verraten würde, ob ihre Bau-Anleitung für das Universum richtig ist: dem Higgs-Boson.
Musik: Micro science (B) 0‘30
Sprecherin:
Im zwanzigsten Jahrhundert kramen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Baukasten der Natur. Sie finden dort nach und nach die kleinsten, unteilbaren Bausteine, aus denen unsere Welt besteht: sogenannte Elementarteilchen. Die Forschenden schicken sich an, jene Bau-Anleitung für diese Elementarteilchen zu schreiben, die wir heute als das Standardmodell der Teilchenphysik bezeichnen. Der englische Physiker Peter Higgs, Professor an der University of Edinburgh, möchte mitschreiben an dieser Anleitung, doch leicht ist das im Sommer des Jahres 1964 nicht:
ZSP 3: Zanderighi
„They wanted really to understand how elementary particles can have a mass. And so they were trying to understand how can you formulate a theory where elementary particles have a mass.“
VO weiblich
„Sie wollten in ihrer Theorie der Elementarteilchen verstehen, wie diese Elementarteilchen eine Masse haben können.“
Sprecherin:
… sagt Giulia Zanderighi. Keine Sorge: An dieser Stelle wollen wir uns nicht länger als unbedingt notwendig von den mathematischen Details der Quantenfeldtheorie, spontaner Symmetriebrechung und den Eichbosonen der schwachen Wechselwirkung aufhalten lassen.
Sprecher:
Aber vielleicht ist ein Beispiel hilfreich:
Musik: Micro life 0‘30
Das Elektron ist eines der bekannteren Elementarteilchen. Anzutreffen ist es beispielsweise in Atomen, als Elektronenhülle um den Atomkern. Oder aber es befindet sich in Bewegung – und wir profitieren vom so erzeugten elektrischen Strom. Jedes Elektron besitzt dieselbe, winzig kleine Masse: 9,1 mal zehn hoch minus Einunddreißig Kilogramm.
Sprecherin:
Im Sommer 1964 stockte das Schreiben der Bau-Anleitung für unsere Welt: Denn die mathematischen Gleichungen gingen nur auf, wenn Elementarteilchen wie das Elektron gar keine Masse haben. Das konnte so nicht richtig sein. Auch Peter Higgs dachte über dieses Problem nach – bis ihm eines Tages diese eine, zündende Idee kam: Was wäre, wenn das gesamte Universum von einem unsichtbaren Feld erfüllt wäre – und dieses Feld den Elementarteilchen zu ihrer Masse verhilft? Giulia Zanderighi:
ZSP 04 zanderighi:
„So the mass can be really thought of, um, as interaction with a with the Higgs field. So you can think that without a Higgs field you would have, massless, very fast particles. Instead, you have a Higgs field and particles, instead of propagating in a vacuum, they propagate in the Higgs field. And while interacting with the field, they acquire a mass. So they slow down. You can always think that mass is this inertial mass is, uh, you are slower if you have a higher mass. Right. And so the higher the interaction with the Higgs, the higher the mass of particles.“
VO weiblich
„Ohne das Higgs-Feld hätten wir masselose und sehr schnelle Teilchen. Stattdessen gibt es das Higgs-Feld. Ein Teilchen bewegt sich also nicht in einem Vakuum fort, sondern es bewegt sich durch das Higgs-Feld. Und es erhält seine Masse, indem es mit diesem Higgs-Feld wechselwirkt – und wird deshalb langsamer. Und je stärker ein Teilchen mit dem Higgs-Feld wechselwirkt, desto größer ist seine Masse.“
Musik: Cell division 0‘32
Sprecher:
Man kann sich das Higgs-Feld wie eine Art kosmischen Honig vorstellen: Elementarteilchen können nicht einfach unbeschwert durch’s Universum sausen, sondern müssen durch den Honig durch. Und das kann eine ziemlich zähe Angelegenheit sein.
Sprecherin:
Heureka! Mit dem unsichtbaren Feld hat Peter Higgs die Bau-Anleitung für unsere Welt ergänzt, die mathematischen Gleichungen stimmten wieder. Wie sich wenig später herausstellte, hatte nicht nur er diesen Geistesblitz: auch andere Wissenschaftler waren im Sommer 1964 auf die gleiche Idee gekommen.
Doch Peter Higgs war der Erste, der nicht nur die Bau-Anleitung um das Higgs-Feld ergänzte – sondern dem kosmischen Baukasten auch einen neuen Baustein hinzufügte: Peter Higgs schrieb in seinem Fachartikel, dass zu dem unsichtbaren Feld auch ein Teilchen dazugehören sollte – ein bis dato unbekanntes Elementarteilchen. Im Gegensatz zu unsichtbaren Feldern, von denen ja jeder behaupten kann, dass es sie gibt, haben Elementarteilchen einen unschlagbaren Vorteil: Sie lassen sie sich im Labor erzeugen. Und wenn man sie erzeugen kann, dann kann man sie auch finden.
Musik: Finding a way 0‘25
Sprecher:
Als ein Doktorand von Peter Higgs im August 1964 aus seinem Sommerurlaub nach Edinburgh zurückkam, fand er auf seinem Schreibtisch einen Zettel seines Doktorvaters. Auf dem stand: „In diesem Sommer hatte ich die einzig wirklich originelle Idee, die ich je hatte.“
ZSP 05 kado:
„I think it was in 1993, when I first came to CERN. I was a young student at the time and I visited CERN and visited the experiments. And I think it's about at that time when I first heard of the existence - of the possible existence - of the Higgs boson.“
VO männlich
„Das muss 1993 gewesen sein, als ich zum ersten Mal das CERN besucht habe, als junger Student. Ich glaube, da habe ich zum ersten Mal vom Higgs-Boson erfahren – und dass es dieses Teilchen geben könnte.“
Sprecherin:
… erzählt Marumi Kado vom Max-Planck-Institut für Physik.
Sprecher:
Das CERN ist eine europäische Großforschungseinrichtung. Es liegt in der Nähe von Genf, teilweise in der Schweiz, teilweise in Frankreich. Über 10.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind dort an den Experimenten beteiligt. Die Spezialität des CERN sind riesige Teilchenbeschleuniger – hochkomplexe Maschinen, mit denen sich Forschende auf die Jagd nach neuen Elementarteilchen begeben können.
Musik: Perpetual motion machine (a) 0‘41
Sprecherin:
Als Marumi Kado zum ersten Mal vom Higgs-Teilchen hört, läuft die Suche danach schon seit Jahrzehnten – ohne Ergebnis. Die Jagd gestaltet sich als so schwierig, dass dieses eigentlich unbescholtene Teilchen just in jenem Jahr 1993 einen Spitznamen erhält, den es zum Leidwesen aller Beteiligten bis heute nicht mehr losgeworden ist: das Gottesteilchen.
Sprecher:
Das Problem bei der Suche nach dem Higgs-Teilchen:
ZSP 06 kado:
„So the Standard Model was not predicting the mass of the Higgs boson. It was predicting the existence of the Higgs boson, but not its mass.“
VO männlich
„Das Standardmodell hat uns zwar gesagt, dass es das Higgs-Boson geben müsste, aber es hat uns nicht seine Masse verraten.“
Sprecherin:
… sagt Marumi Kado. Das ist ungünstig. Denn so ein Higgs-Teilchen ist nicht so wie andere Elementarteilchen, beispielsweise wie die Elektronen, die uns gute Dienste in unseren Atomhüllen leisten. Nein, ein Higgs-Teilchen fliegt nicht einfach so auf der Erde herum. Will man es finden, muss man sich schon selbst eins bauen:
ZSP 07 kado:
„So the way we see the Higgs boson, we need to generate a sufficient amount of energy to be able to generate it from the vacuum, if you wish.“
VO männlich
„Um das Higgs-Boson zu sehen, müssen wir genügend Energie erzeugen, um es wie aus dem Nichts zu erzeugen.“
Musik: Micro metric (e) 1‘00
Sprecher:
Und das geht so: Man nehme Albert Einsteins berühmte Formel E = mc zum Quadrat. In dieser Formel steht das E auf der linken Seite für die Energie. Das c zum Quadrat auf der rechten Seite ist eine Konstante, die immer gleich bleibt – nämlich die Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat. Sie braucht uns für die Rechnung nicht weiter zu interessieren und dann, ebenfalls auf der rechten Seite: Das m, das ist die Masse. Die Formel besagt: Energie und Masse sind – im Grunde genommen – das Gleiche. Das bedeutet: Physikerinnen und Physiker können neue Teilchen erzeugen, indem sie Energie auf einen möglichst klitzekleinen Punkt quetschen: und zwar so viel Energie, dass es laut E = mc zum Quadrat für die Masse des gesuchten Teilchens reicht.
Sprecherin:
Womit wir wieder in der Forschungseinrichtung CERN und ihren Teilchenbeschleunigern angekommen wären. In einem Teilchenbeschleuniger fängt alles mit einer Flasche voller Wasserstoff an, sagt Sandra Kortner:
ZSP 08 kortner:
„Aus der Flasche kommen dann Wasserstoffatome raus, dann werden die Elektronen weggeschoben und es bleiben nur Wasserstoffkerne. Und dann werden diese Wasserstoffkerne in so kleinen Bunches, ganz, ganz winzige Gruppen von 100 Milliarden Protonen pro eine Gruppe durch diesen Beschleunigerring geschleudert. Dann mithilfe von elektrischen und magnetischen Feldern, werden sie auf den Kreisbahnen gehalten und beschleunigt.“
Sprecherin:
Die Teilchen sausen um den Ring herum, und noch einmal und noch mal. Mit jeder Runde werden sie schneller und schneller, bis sie nach mehreren Minuten fast Lichtgeschwindigkeit erreicht haben.
ZSP 09 kortner:
Und wenn sie dann genug Energie haben, werden sie aufeinandergestoßen. Und das passiert dann einmal in 25 Nanosekunden, das heißt 40 Millionen Mal in der Sekunde. Wir haben 40 Millionen Kollisionen pro Sekunde.“
Musik: Eco statistics 0‘25
Sprecherin:
Durch diese Kollisionen wird möglichst viel Energie auf einen möglichst klitzekleinen Punkt gequetscht – so können neue Elementarteilchen entstehen. Nur: Trotz jahrzehntelanger Suche mit Teilchenbeschleunigern war das Higgs-Boson nicht dabei – jenes Elementarteilchen, von dem das Standardmodell der Teilchenphysik behauptet, dass es existieren muss.
ZSP 10 kado:
„We've looked for it ever since the theory was there, but the colliders did not have sufficient amount of energy to actually produce it.“
VO männlich
„Wir haben nach ihm gesucht, seit die Theorie gesagt hat, dass es da sein muss. Aber unsere Teilchenbeschleuniger hatten nicht genügend Energie, um es zu erzeugen.“
Sprecherin:
… sagt Marumi Kado. Die Masse des Higgs-Teilchens war so groß, dass die Energie der bisherigen Teilchenbeschleuniger nicht ausgereicht hat, um es zu erzeugen. Doch die Forschenden geben nicht auf. Sandra Kortner erzählt:
ZSP 11 Kortner:
„Und da wir nicht wussten genau, welche Masse das Higgs Teilchen hat, wollten wir eine Maschine bauen, die den ganzen Massenbereich bis zu 1000 Gigaelektronenvolt komplett durchforscht. Weil laut Theorie ist jenseits dieser Masse, dieser höchsten Masse, die Theorie schwierig. Da müsste wirklich was Neues passieren und nicht nur das Higgs Boson, damit wir unsere Welt erklären können. Also wollten wir wirklich bis zu dem höchsten möglichen vorstellbaren Maße alles erforschen. Und dafür war die Maschine genau richtig.“
Musik: Rotor energy 0‘36
Sprecher:
Die „Maschine“ – etwas poetischer könnten wir sie auch als „Weltmaschine“ bezeichnen. Immerhin handelt es sich dabei um die größte Maschine der Welt, den leistungsfähigsten Teilchenbeschleuniger der bisherigen Menschheitsgeschichte: der Large Hadron Collider, kurz LHC. Der LHC wurde in einen 27 Kilometer langen, unterirdischen Ringtunnel am CERN gebaut, um dem Standardmodell der Teilchenphysik seine letzten Geheimnisse zu entlocken.
Sprecherin:
Da bauen Forschende eine Weltmaschine, mit der sie Teilchen bis auf annähernd Lichtgeschwindigkeit beschleunigen und dann kollidieren wollen, sodass am Ende hoffentlich ein Teilchen herausploppt, von dem bis dato noch niemand weiß, ob es überhaupt existiert. Und, ach ja, direkt sehen kann man davon natürlich nichts. Stattdessen sollen zwei Teilchendetektoren, jeweils größer als ein Einfamilienhaus, die Spuren dieser Teilchenkollisionen auffangen, sodass anschließend hunderte von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die unfassbaren Datenmengen durchkämmen können, um herauszufinden, ob es denn geklappt hat, das mit der Erzeugung von diesem Teilchen.
Musik: Corporate questions red. 0‘48
Sprecherin:
Einfach würde es nicht werden, selbst mit der Weltmaschine des LHC nicht: Denn es werden zwar dauernd Kollisionen herbeigeführt, aber nur selten erzeugen die das gesuchte Teilchen. Und selbst wenn es gelingt, zerfällt ein Higgs-Teilchen sofort in andere Teilchen, und diese Teilchen zerfallen wieder in andere Teilchen. Forschende müssen Tausende, Millionen, Milliarden von Kollisionen analysieren, um daraus das Signal des Higgs-Teilchens herauszufischen und um sicherzugehen, dass das Signal echt ist. Sandra Kortner und Marumi Kado waren an einem der beiden Teilchendetektoren beteiligt, die das Higgs-Teilchen finden sollten.
Sprecher:
Und dann ging auf einmal alles doch ganz schnell. Marumi Kado:
ZSP 12 kado:
„It happened very fast. We did not expect it to be so fast. Essentially, everything happened in one year. Because the LHC started really producing more data and that was around 2011.“
VO männlich
„Es ging so schnell. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde – innerhalb eines einzigen Jahres. Ab 2011 hat der LHC erstmals mehr Daten geliefert.“
Sprecherin:
Und bereits kurz darauf sahen Marumi Kado und seine Kolleginnen und Kollegen in diesen Daten Anzeichen des Higgs-Bosons: Sollte das so lange gesuchte Teilchen einfach aufgetaucht sein – oder seiner angeblich niederträchtigen Natur wieder einmal alle Ehre machen?
ZSP 13 kado:
„The fun fact about this is that we were always thinking that maybe we were doing something wrong. Maybe we're systematically generating this excess. And the fact that it persisted in time made us very worried. And also, you know, by making the discovery of, this magnitude, when you’re doing the analysis and the work of trying to see whether your statement is correct, the only thing you think of is where you could go wrong.“
VO männlich
„Naja, wir haben die ganze Zeit gedacht, dass wir etwas falsch machen würden. Vielleicht ist da ein Fehler, der es nur so ausschauen lässt, als ob da ein mögliches Signal wäre. Wir waren sehr besorgt, als es nicht verschwunden ist. Wenn es um so eine Entdeckung geht und du rauszufinden versuchst, ob deine Ergebnisse richtig sind, dann ist das Einzige, woran du denkst, wo du etwas falsch gemacht haben könntest.“
Musik: Take off 0‘30
Sprecherin:
Nicht einmal die Kolleginnen und Kollegen fragen konnte man: Die Teams der zwei Teilchendetektoren arbeiteten strikt getrennt voneinander, um sich nicht gegenseitig zu beeinflussen. Doch dann war der Tag gekommen – der 4. Juli 2012: Der damalige Generaldirektor des CERN Rolf-Dieter Heuer lud ein zu einem Colloquium mit dem schnöden Titel: „Update zu den Suchen nach dem Higgs-Boson am LHC“.
Sprecher:
So ein Colloquium darf man sich nicht vorstellen wie einen Raketenstart inklusive spannungsgeladenem Countdown und rauschendem Lift-Off. Da weiß man sofort, ob es geklappt hat oder nicht. Aus den Präsentationen der zwei Sprecher der Teilchendetektoren wird man als Laie nicht so recht schlau. Über anderthalb Stunden lang präsentieren die Beiden ihre Ergebnisse, bis schließlich …
ZSP 15 cern and thank you – fadeout in den Applaus, Applaus bleibt unter den O-Tönen:
„… thank you.“
Sprecher:
lang anhaltender Applaus. Sandra Kortner erinnert sich:
ZSP 16 kortner:
„Es war unbeschreiblich und ich kann es immer noch nicht nach zehn oder zwölf Jahren nicht beschreiben. Aber es war ein wirklich großer Glücksmoment.“
Sprecherin:
Im Publikum, ziemlich weit vorne, da sitzt auch Peter Higgs. Der Mann, der von sich selbst behauptet hat, in seinem Leben nur eine einzig wirklich originelle Idee gehabt zu haben, kramt ein Stofftaschentuch hervor, nimmt die Brille ab. Peter Higgs ist zu diesem Zeitpunkt 83 Jahre alt. Fast fünfzig Jahre lang hat er gewartet, um herauszufinden, ob diese eine Idee richtig war. Er setzt die Brille wieder auf und klatscht mit.
ZSP 17 kado:
„And I have to say, it's when Rolf Heuer, who was director general of CERN during those times when he said at the end of the two talks, he said:“
VO männlich
„Ich muss zugeben: Es war erst als Rolf Heuer, der damalige Generaldirektor am CERN, am Ende der beiden Präsentationen gesagt hat:“
ZSP 18 cern i think we have it:
… „I think we have it.“
ZSP 19 kado:
„Then I realized that actually we made the discovery.“
VO männlich
„Da habe ich realisiert, dass wir es wirklich gefunden haben.“
ZSP 20 kortner:
„Und wir haben das Teilchen wirklich gesehen, und das war die größte Erfüllung - Vielleicht neben meinen zwei Kindern - die ich je erlebt habe in meinem Leben.“
Musik: Baby walk B 0‘45
Sprecher:
Am 8. Oktober 2013, ein gutes Jahr später, verlässt ein unauffällig gekleideter älterer Herr am Morgen seine Wohnung im schottischen Edinburgh und geht zur Bushaltestelle. Er fährt zu einem Pub, wo er in aller Ruhe ein frühes Mittagessen zu sich nimmt. Auf dem Heimweg begegnet ihm eine ehemalige Nachbarin, ganz aufgeregt: Sie habe von ihrer Tochter gehört, dass er den Preis gewonnen habe! Und Peter Higgs, denn das ist unser unauffällig gekleideter älterer Herr, will sich den Spaß nicht nehmen lassen und fragt: Welchen Preis?
Sprecherin:
Natürlich wusste er, welcher Preis gemeint war: der Nobelpreis für Physik, der ihm zusammen mit François Englert zugesprochen wurde:
Sprecherin:
Peter Higgs hatte das Haus verlassen, um den unweigerlichen Medienrummel zu vermeiden. In der Geschichte des nach ihm benannten Teilchens ist er ein eher zurückhaltender, wenn nicht gar widerwilliger Held. Ganz und gar nicht zu vergleichen mit den Gefühlsausbrüchen und drastischen Maßnahmen eines Faust, der um jeden Preis erkennen will, was die Welt zusammenhält. Aber wo wir schon dabei sind: Wissen wir selbst denn nun wirklich, was die Welt zusammenhält – dem Higgs-Teilchen und Standardmodell der Teilchenphysik sei Dank? Sandra Kortner sagt: Jein.
ZSP 21 Kortner:
„Wir wissen viel mehr, als wir wussten, zu Fausts Zeit. Und zumindest. Können wir etwas besser auf die Frage beantworten. Woraus materiell besteht unsere Welt? Natürlich können wir nicht auf philosophische Fragen der Existenz des Lebens antworten, aber natürlich kann man durch unser Verständnis der mikroskopischen Welt erklären, wie alles zusammengebaut wird.“
Musik: Unanswered question 1‘20
Sprecher:
Allerdings gilt das nur für die sichtbare Welt – also alles, was wir prinzipiell sehen können, ob mit eigenen Augen oder mithilfe von riesigen Teilchenbeschleunigern. Wir wissen aber auch, dass nur fünf Prozent des gesamten Universums aus dieser Art von Materie bestehen. Über die restlichen 95 Prozent in Form von Dunkler Materie und Dunkler Energie steht leider nichts in unserer Bau-Anleitung für das Universum. Und deshalb verbleiben am Ende nicht nur ein paar wenige Detailfragen, sagt Giulia Zanderighi:
ZSP 22 Zanderighi:
„It's not a question of figuring out a few details about the standard model. It's still a question of understanding, really, a huge open question. So the standard model has been amazing. I think the proposal and then the confirmation from experiment. But I think it's a kind of a first step in a long journey.“
VO weiblich
„Es geht nicht jetzt nicht nur noch darum, ein paar Details zum Standardmodell der Teilchenphysik zu klären. Sondern da gibt es riesige, offene Fragen. Das Standardmodell ist toll – die Theorie dahinter und die Bestätigung in den Experimenten. Aber ich denke, dass es wie der erste Schritt auf einer langen Reise ist.“