radioWissen - Bayern 2   /     Langeweile - Kann ein GefĂĽhl politisch sein?

Description

Auch wenn jeder weiß, wie Langeweile sich anfühlt, ist sie doch nicht für jeden gleich. Sie ist kein demokratisches Gefühl, das alle gleichermaßen trifft. Ein Problem, wenn man bedenkt, welche negativen Folgen Langeweile laut Studien haben kann: Sie fördert Glücksspiel, Essstörungen, Alkoholsucht, Drogenabhängigkeit. Von Nicole Ficociello

Subtitle
Duration
00:23:31
Publishing date
2025-02-10 09:20
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/langeweile-kann-ein-gefuehl-politisch-sein/2103164
Contributors
  Nicole Ficociello
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2103164/c/feed/langeweile-kann-ein-gefuehl-politisch-sein.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Auch wenn jeder weiß, wie Langeweile sich anfühlt, ist sie doch nicht für jeden gleich. Sie ist kein demokratisches Gefühl, das alle gleichermaßen trifft. Ein Problem, wenn man bedenkt, welche negativen Folgen Langeweile laut Studien haben kann: Sie fördert Glücksspiel, Essstörungen, Alkoholsucht, Drogenabhängigkeit. Von Nicole Ficociello

Credits
Autorin dieser Folge: Nicole Ficociello
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Joanna Semmelrogge, Peter WeiĂź, Marlen Reichert
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Bernhard Kastner

Im Interview:
Dr. Silke Ohlmeier, Soziologin und Autorin
Naqip Hakimi, Bayerischer FlĂĽchtlingsrat
Alexander Vatteroth

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ZUM PODCAST

Literatur und Quellen:

Silke Ohlmeier, „Langeweile ist politisch. Was ein verkanntes Gefühl über unsere Gesellschaft verrät“

LePera 2011: Relationships between Boredom Proneness, Mindfulness, Anxiety, Depression, and Substance Use

Blaszczynski, McConaghy, Frankova (1990): Boredom Proneness in Pathological Gambling

Sommers, Vodanovich (2000): Boredom Proneness: Its Relationship to Psychological and Physical Health Symptoms

Koball (2012): Eating When Bored: Revision of the Emotional Eating Scale with a Focus on Boredom

Kass (2001): Watching the Clock. Boredom and Vigilance Performance S.969-976

van Tilburg und Igou (2016): Going to political Extremes in Response to Boredom

Nahrstedt, Wolfgang: Lernziel "Arbeitslosigkeit". Organisierte Langeweile oder Demokratisierung der Gesamtzeit?  HIER gehts zur Website  

Wagner und Finkielsztein (2021): Strategic Boredom: The Experience and Dynamics of Boredom in Refugee Camp. A Mediterranean Case. HIER gehts zur Website  

Arbeitsverbote fĂĽr Asylbewerberinnen und Asylbewerber von 1973 bis heute:
HIER gehts zur Website  

“Arbeitsmarktzugang für Geflüchtete”, Bundesministerium für Arbeit und Soziales. HIER gehts zur Website 

Sarraj-Herzberg (2014): Arbeitsverbot für Geflüchtete. Heinrich Böll Stiftung. HIER gehts zur Website 

Wir freuen uns ĂĽber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHERIN

Naqip Hakimi kam 2010 als GeflĂĽchteter aus Afghanistan nach Deutschland. An die Anfangszeit in der Erstaufnahmeeinrichtung erinnert er sich noch gut. Auch an die Langeweile:

01 ZSP Langeweile Erstaufnahme (31 sek)

“In der ersten Aufnahmeeinrichtung hatte man gar keine Ahnung wie es weitergeht … bis man ein bisschen checkt, wie hier die Abläufe sind. Man denkt, ich bin halt hier. Ich bleibe hier. Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Wann ich überhaupt von hier wegverteilt werde, also die Langeweile ist auf jeden Fall da, weil die Nächte, wenn man morgen nichts zu tun hat, dann natürlich verbringt man einfach die ganze Nacht irgendwie mit Kumpels, spielt Karten oder so was und am Morgen kannst du schlafen, weil du hast keine Aufgabe.” 

SPRECHERIN

Richtig schlimm wird es für Naqip Hakimi aber erst, als er nach Nürnberg kommt. In eine Wohnung, die er sich mit zwei anderen Männern teilt. Was Langeweile anrichten kann, erlebt er dort hautnah mit:

02 ZSP Langeweile Mitbewohner (16 sek)

“Ich hatte meine Mitbewohner und andere Leute auch im Heim gesehen miterlebt, dass sie durch Nicht-Tätigkeit krank geworden sind, psychisch und auch körperlich. Und das war auch schlimm für mich selbst.”

SPRECHERIN

Dann wird der Asylantrag seines Mitbewohners abgelehnt. Und die Situation eskaliert: 

03 ZSP Langeweile Suizid (32 sek)

“Er hatte seine Hoffnung verloren, nachdem er zum Beispiel die Duldung bekam, also sein Asylantrag wurde abgelehnt. Er hat einfach keine andere Möglichkeit außer sich im Heim halten, aufhalten, irgendwie sich beschäftigen. Dann hat er angefangen zum Trinken und während der Trinken ist er auch sehr, sehr psychisch belastet. Und hat zum Beispiel manchmal die Tablette gegen die Psychisch mit dem Alkohol zusammen genommen und das war Katastrophe. Also der war fast am Ende, zweimal auch versucht, sich das Leben zu nehmen.”

SPRECHERIN

Um das gleich klarzustellen: Die Langeweile von der Naqip Hakimi hier erzählt, ist nicht mit der Langeweile zu vergleichen, die man fühlt, wenn man ein langweiliges Buch liest, einem langatmigen Vortrag lauscht oder in der Arztpraxis oder auf den Bus wartet. Das ist die so genannte situative Langeweile. Die kennt jeder. Und auch die ist unangenehm und schwer auszuhalten. Das sieht man zum Beispiel daran, wie schnell Menschen im Wartezimmer oder in der Bahn ihr Smartphone rausholen. In diesem radioWissen und in der Erzählung von Naqib Hakimi geht es um eine andere Form der Langeweile. Eine, die chronisch ist. Was das ist, erklärt die Soziologin und Langeweile-Expertin Silke Ohlmeier:

04 ZSP Langeweile chronisch (34 sek)

“Chronische Langeweile bedeutet, dass Menschen sich in großen Teilen ihres Lebens oft dauerhaft langweilen, also zum Beispiel ihre Partnerschaft oder ihre Arbeit oder das erste Jahr nach Geburt eines Kindes als langweilig empfinden. Zum Beispiel jetzt bei der Arbeit, also es geht nicht darum, also alle finden mal bestimmte Aufgaben langweilig. Aber wenn das so das Grundgefühl ist, dann kann man davon sprechen, dass die Langeweile chronisch ist.” 

SPRECHERIN

Neben der situativen und der chronischen Langeweile gibt es noch eine dritte Form:

05 ZSP Langeweile existentielle (18 sek)

Dann gibt es auch eine Steigerungsform davon, das ist die existenzielle Langeweile und existenzielle Langeweile bedeutet, dass Menschen ihr ganzes Leben als langweilig empfinden. Na, da sind wir schon nah dran an der Depression könnte man fast sagen.”

SPRECHERIN

So wie bei Naqip Hakimis Mitbewohner. Existentielle und chronische Langeweile sind ein Problem. Mit schlimmen Folgen für die Betroffenen: Studien zeigen, dass sie Glücksspiel, Essstörungen, Alkoholsucht, Drogenabhängigkeit und Depressionen fördert. Sie korreliert mit Angst, Einsamkeit, Wut, Aggression und erhöht das Risiko von Unfällen. Trotzdem wird sie oft nicht ernst genommen, sagt Langeweile-Expertin Silke Ohlmeier:

05 ZSP Langeweile Lappalie (17 sek)

“Da ist auch so das Thema, dass Langeweile ja häufig so als Lappalie gilt. Also Langeweile ist nicht so schlimm. Und es gibt so eine Haltung von: Wenn wir dafür sorgen, dass Menschen irgendwie Essen, Trinken, vielleicht sogar noch ein Dach über dem Kopf haben, dann haben wir hier genug getan.”

Musik 2: 1.2_1-IwillbeCTO.m4p  – 30 Sek

SPRECHERIN

Die Soziologin Silke Ohlmeier ist sich sicher: Chronische Langeweile trifft nicht alle Menschen gleich. Sie sagt, es gibt Gruppen, die stärker und häufiger davon betroffen sind – und hat ein Buch darüber geschrieben. Es trägt den Titel: “Langeweile ist politisch”. Aber kann ein Gefühl wirklich politisch sein? 

06 ZSP Langeweile politisch (43 sek)

“Politisch sind im Grunde alle Gefühle, also da zeigen die sozialwissenschaftlichen Studien einfach sehr deutlich, dass zum Beispiel die gesellschaftliche Position, also der Bildungsstand und das Einkommenslevel einen Einfluss hat auf unsere Gefühle und dass zum Beispiel die unangenehmen Gefühle, also Wut, Ärger und so weiter, Langeweile auch, eher in den unteren Schichten verstärkt aufkommen als in den oberen. Das heißt dann aber natürlich nicht, dass sich Menschen in den oberen Klassen oder mit hohem Einkommen sich nicht langweilen oder keine negativen Gefühle haben. Aber man sieht, es ist einfach mehr als die ganz individuelle Verantwortung.”

SPRECHERIN

Gefühle können also politisch sein. Das sieht man auch daran, welche Rolle sie in der Politik spielen:

Musik 3: Tears – 8 Sek

ZITATOR

Trauer

SPRECHERIN

Spanien im November 2024: Zahlreiche Menschen haben bei den Überflutungen ihre Häuser verloren, über 200 Menschen ihr Leben. Das ganze Land trauert mit den Angehörigen und den Betroffenen. 

07 ZSP Langeweile Spanierin (9 sek)

“Wir sind hilflos, traurig, wütend, am Ende, es ist unerträglich”

SPRECHERIN

Bei der so genannten “Staatstrauer” kommt das öffentliche Leben für mehrere Tage zum Erliegen. Fahnen hängen auf Halbmast, Vergnügungsveranstaltungen werden abgesagt, Geschäfte bleiben geschlossen. Diese kollektive Trauer wird meist vom Staatsoberhaupt verhängt, ist also politisch.

Musik 4: Tears – 8 Sek

ZITATOR

Angst

SPRECHERIN

Populistische Parteien und Politiker*innen zielen bewusst auf die Angst der Menschen. Angst vor Armut, Angst vor Fremden, Angst vor der Zukunft. Angst bedeutet Macht. Und deswegen dauert es selten lange, bis auch gemäßigtere Parteien mitmachen. Zum Beispiel beim Thema Migration. Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Generaldebatte im Bundestag im September 2024: 

08 ZSP Langeweile Migration Scholz (23 sek, dann Applaus) 

“Wir müssen uns aussuchen können, wer nach Deutschland kommt. Das sag ich hier ganz ausdrücklich. Und deswegen gehört auch dazu, dass wir das Management der irregulären Migration hinkriegen. Dass wir die Zahl derjenigen, die irregulär nach Deutschland kommen reduzieren und dass wir diejenigen, die nicht bleiben können, auch wieder zurückführen.”

 Musik 5: Tears – 8 Sek

ZITATOR

Liebe

SPRECHERIN

Auch positive Gefühle wie die Liebe können politisch sein. Das sieht man beim Thema “Ehe für alle”. Lange galt in der CDU/ CSU: Ehe, die gibt es nur zwischen Mann und Frau. Bis Ex-Bundeskanzlerin und Parteivorsitzende Angela Merkel den Fraktionszwang bei der Abstimmung zur Ehe für alle im Juni 2017 aufhebt. Die Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag stimmt für die Gleichstellung homosexueller Paare. Die Bundeskanzlerin stimmt dagegen:

09 ZSP Langeweile Merkel Ehe für alle (11 sek)  

“Für mich ist die Ehe im Grundgesetz die Ehe von Mann und Frau. Und deshalb habe ich heute auch diesem Gesetzentwurf nicht zugestimmt.”

Musik 6: Tears – 8 Sek

ZITATOR

Langeweile 

SPRECHERIN

Zurück zur Langeweile: Es gibt Studien, die darauf hinweisen, dass gelangweilte Menschen eher Extremisten wählen und gelangweilte Gesellschaften anfälliger für Kriege sind. Silke Ohlmeier schreibt dazu in ihrem Buch:

ZITATORIN

“Menschen meiden Langeweile, wo sie nur können. Und wenn sie liberale Politik und die demokratischen Parteien als langweilig empfinden, werden sie den Teufel tun, sich dort zu engagieren.” 

SPRECHERIN

Politikverdrossenheit nicht mehr nur durch Unzufriedenheit, sondern auch durch Langeweile. Dass Langeweile politisch ist, sieht man aber auch daran, wer von ihr am meisten betroffen ist. Laut Soziologin Silke Ohlmeier sind das vor allem die Menschen, die in unserer Gesellschaft am wenigsten Macht haben:

10 ZSP Langeweile Macht (20 sek)

“Der Gedanke, der dahintersteckt, ist einfach, dass wir alle in unserer, in der Gesellschaft unterschiedlich viel Macht haben. Macht kann Geld sein, kann Einfluss sein, kann Bildung sein und je nachdem wie viel Macht, Einfluss, Geld wie auch immer wir haben, können wir eben unser Leben selbstbestimmt gestalten.”

SPRECHERIN

Leitsymptom der Langeweile ist demnach Ohnmacht. Die Ohnmacht, sein Leben selbstbestimmt zu gestalten. Marginalisierte Gruppen haben es da besonders schwer: Kinder in der Welt der Erwachsenen. Arme Menschen, alte Menschen oder Menschen mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen in einer Gesellschaft, die auf Geld und Leistung gepolt ist. Frauen in einer Gesellschaft, die von und für Männer gemacht ist. People of Color in einer rassistischen Gesellschaft. Adultismus, Klassismus, Sexismus, Ableismus, Ageismus, Rassismus – schauen wir uns an, wie diese -ismen mit Langeweile zusammenhängen: 

Musik 7: Living in the shadows - 13 Sek

ZITATOR

Klassismus - Warum arme Menschen eher von Langeweile betroffen sind.

SPRECHERIN

Laut Definition ist Langeweile der unbefriedigte Wunsch nach einer befriedigenden Tätigkeit. Wir wollen etwas tun, dass uns Freude bereitet, das Sinn stiftet, werden aber davon abgehalten. Zum Beispiel durch Geld. Langeweile-Expertin Silke Ohlmeier:

11 ZSP Langeweile Geld (33 sek)

“Kino kostet Geld, Essen gehen kostet Geld, Busfahren, Sport kostet Geld und so weiter und so weiter. Und das sind alles Sachen, die wir so als Gesellschaft auch oft als spannend und interessant definieren, sage ich mal. Also da wird so gezeigt, hey, da pulsiert das Leben. Das ist wichtig, das macht Spaß. Und gleichzeitig werden aber arme Menschen auch systematisch davon ausgeschlossen. Und haben keinen Zugang zu sehr vielen, ich sage mal, als befriedigend propagierten Tätigkeiten.” 

SPRECHERIN

Klassismus richtet sich gegen Menschen aus der so genannten Unterschicht. Neben Geld spielt auch die Bildung eine Rolle. Je höher die Bildung, desto leichter lässt sich Langeweile vermeiden, sagt Silke Ohlmeier. Zum Beispiel bei der Arbeit: 

12 ZSP Langeweile Bildung (23 sek)

“Wenn ich einen hohen Bildungsabschluss habe und meine Qualifikation gefragt ist auf dem Arbeitsmarkt und ich vielleicht einen finanziellen Puffer habe, dann kann ich sagen: okay, das war nicht das Richtige. Ich gehe woanders hin. Aber wenn ich das alles nicht habe und angewiesen bin auf diesen Job und auch auf diesen Job, um meine Miete zu bezahlen und so weiter, dann bleibe ich darin stecken.”

SPRECHERIN

Und was ist mit Menschen, die gar keinen Job haben? Das Gegenteil von Arbeit ist Freizeit, also etwas Schönes, Erstrebenswertes. Arbeitslosigkeit ist “schlechte Freizeit” – so nannte es der inzwischen verstorbene Erziehungswissenschaftler Wolfgang Nahrstedt. Die Soziologin Silke Ohlmeier schreibt dazu in ihrem Buch “Langeweile ist politisch”:

ZITATORIN

“Arbeitslose Menschen sollen gelangweilt zu Hause sitzen, sonst wäre der Druck ja nicht mehr groß genug, sich einen Job zu suchen. So oder so ähnlich lautet wohl die Logik dahinter.” 

SPRECHERIN

Vielleicht klingt das Mantra bei der Bürgergeld-Debatte deswegen von Anfang an so wie hier 2022 bei Kai Whittaker, Bundestagsabgeordneter der CDU: 

13 ZSP Langeweile Bürgergeld (7 sek) 

“Arbeit muss sich immer lohnen, wenn das nicht mehr gilt, gefährden sie den sozialen Frieden in unserem Land.”

Musik 8: Living in the shadows - 13 Sek

ZITATOR

Sexismus - Warum Frauen eher von Langeweile betroffen sind

Musik 09: You learn – 1:33 Min

SPRECHERIN

In einem Online-Forum für Mütter schreibt Userin “nunakl1994”:

ZITATORIN

“Halli Hallo, eigentlich bin ich nur kurz hier, um zu jammern.

Mir ist soooo stink langweilig, dass glaubt ihr gar nicht. Geht es euch vielleicht genau so? Habe jetzt noch zwei Monate Elternzeit vor mir bis ich wieder berufstätig werde und das kommt mir einfach so furchtbar lange vor. Das ich mein Baby liebe und furchtbar gerne Zeit mit ihr verbringe, muss ich hoffentlich nicht nochmal erwähnen, aber einfach dieser immer gleiche Tagesablauf. Nichts Spannendes passiert. Nicht mal meine Tochter ist besonders anstrengend. Ich versuche immer etwas zu unternehmen, aber immer geht das natürlich auch nicht. (...) Mir ist langweilig, langweilig und nochmals LANGWEILIG!”

SPRECHERIN

Die Antworten unter ihrem Thread reichen von:

ZITATORIN

“Ohje du arme, noch kann ich mich nich beschweren dass mir langweilig wird, ich habe noch alle Hände voll zu tun mit dem kleinen aber er ist auch erst 4 Monate.”

SPRECHERIN

… über …

ZITATORIN

“Hey. Können gerne tauschen, mit meiner Tochter wird dir bestimmt nicht fad (...) Ich wär froh mal einen Tag langeweile zu haben – Zwinker-Smiley.”

SPRECHERIN

… bis zu …

ZITATORIN

“Mir ist auch öfters langweilig, meine Tochter ist auch sehr pflegeleicht. Ich unternehme jeden Tag etwas. Habe zwei Kurse die Woche (Yoga mit Baby und Pekip) und die restlichen Tage treffe ich mich mit anderen Mamas, meiner eigenen Mutter und Schwiegermutter oder auch einfach mit Freundinnen in deren Mittagspause.”

SPRECHERIN

Genau solche Online-Foren hat sich die Soziologin Silke Ohlmeier genauer angesehen und die Langeweile von Müttern in der Elternzeit untersucht. Bei den gelangweilten Müttern ist ihr besonders aufgefallen: 

14 ZSP Langeweile Mutterschaft (47 sek)

"Diese Mütter sind da reingegangen mit der Vorstellung, dass Mutterschaft etwas ist, was sie vollkommen erfüllen wird und so ein bisschen auch, dass es sonst eigentlich nicht viel mehr braucht als die Mutterrolle. Und dann haben sie aber ihre Mutterschaft anders erlebt, also eben als langweilig. Als: Ich habe hier nicht genug zu tun, oder ich finde, meine Arbeit ist nicht wertgeschätzt. Mir fehlt meine Erwerbsarbeit und so weiter. Aber gleichzeitig also, anstatt dann zu sagen: “da war meine Vorstellung vorher wohl falsch, ich wusste vorher nicht, wie sich das für mich anfühlen wird”, haben Sie eigentlich weiterhin festgehalten an diesem Ideal und wollten dem entsprechen und dachten dann so “ich habe selbst was falsch gemacht”.

SPRECHERIN

Langeweile als individuelles Verschulden, und nicht als Systemfehler. Auch bei den Bewältigungsmechanismen hat Silke Ohlmeier ein Muster entdeckt:

15 ZSP Langeweile Beschäftigung (31 sek)

"Dazu kommt aber auch noch, dass ganz viele Menschen denken, dass Langeweile ein Problem ist von Beschäftigung und Nicht-Beschäftigung. Was dann als Handlungsstrategie passiert ist, ist, dass die zu Mutter-Kind-Kursen gegangen sind, irgendwie Zeit totgeschlagen haben, in dem sie Einkäufe erledigt haben und so weiter. Aber im Grunde war es noch mehr in dieser Mutterrolle, anstatt irgendwie sich hinzusetzen und zum Beispiel zu überlegen, kann ich mir Carearbeit anders aufteilen? Vielleicht mit meinem Partner?”

SPRECHERIN

Dabei sei Langeweile keine entspannte Form von “Nichts-Tun”. Sondern purer Stress. Müttern zu raten, sie sollen sich eine Beschäftigung suchen und viel raus gehen, sei deshalb kontraproduktiv. 

16 ZSP Langeweile richtige Beschäftigung (16 sek)

“Mütter gerade auch im ersten Jahr sind beschäftigt. Es gibt ja total viel zu tun. Aber so da irgendwie auch zu verstehen, dass es auch darum geht, die richtige Beschäftigung zu haben, also das, was im Einklang mit den eigenen Fähigkeiten und Interessen steht.”

SPRECHERIN

Wichtig: Auch Väter können sich in der Elternzeit langweilen. Und: Nicht alle Mütter langweilen sich bei der Care-Arbeit. 

17 ZSP Langeweile Wertschätzung (24 sek)

“Gleichermaßen habe ich in meinem Datenmaterial auch Mütter gefunden, die Vollzeit zu Hause waren und die sich nicht gelangweilt haben. Und da war dann der große Unterschied, dass diese Mütter ihre Arbeit zu Hause selbst als sehr wertvoll und wichtig erachtet haben. ”

SPRECHERIN

Bei gelangweilten Müttern spielt es also eine Rolle, dass Care-Arbeit in unserer Gesellschaft nicht wertgeschätzt wird. Und sie sie selbst auch als weniger wertvoll sehen. Die Lösung gegen Langeweile heißt dann: Erwerbs-Arbeit. Aber was ist mit Menschen, für die es besonders schwer ist, eine Erwerbs-Arbeit zu finden? Menschen mit Einschränkungen zum Beispiel. 

Musik 10: Living in the shadows – siehe vorn – 13 Sek

ZITATOR

Ableismus - Warum Menschen mit Behinderung eher von Langeweile betroffen sind

Musik 11: Kat’s gut – 1:04 min

SPRECHERIN

Für Menschen mit Behinderung ist Langeweile nicht die Folge der Behinderung, sondern die Konsequenz der mangelnden Barrierefreiheit, schreibt Silke Ohlmeier in ihrem Buch “Langeweile ist politisch”. Für Menschen mit kognitiven Einschränkungen sei Langeweile ein Problem, weil über deren Freizeit bestimmt wird. Und wenn sie diese Freizeit nicht als sinnstiftend empfinden, entsteht Langeweile. Wie es für Menschen mit körperlicher Einschränkung ist, erzählt Alexander Vatteroth. Der 21-Jährige hat von Geburt an eine Spastik. Er kann laufen, aber eingeschränkt. Weil er nicht lange stehen kann, ist für ihn klar, dass er gerne einen Bürojob haben möchte. Deswegen macht er nach seinem Abschluss an der Förderschule eine Ausbildung zum Fachpraktiker für Bürokommunikation. Als er nach der Ausbildung nicht übernommen wird, beginnt die Langeweile. 

18 ZSP Langeweile nach der Ausbildung (16 sek)

“Und dann habe ich erst mal nach der Ausbildung, ja zu Hause verbracht. Lange Zeit, ein halbes Jahr. Mir war eigentlich ganz schön langweilig. Musste überlegen, was ich mache. Dadurch, dass ich halt nicht von Zuhause wegkommen bin.”

SPRECHERIN

Seitdem ist Alexander Vatteroth auf Jobsuche.

19 ZSP Langeweile Bewerbung (36 sek)

“Ich habe mich zum Beispiel auch bei einer Druckerfirma in Landshut beworben oder auch in verschiedenen Firmen beworben. Wo ich auch viele Absagen bekommen habe. Durch den Schwerbehindertenausweis habe ich halt in Firmen wenig Chancen. Eher so in Behörden, also die laden mich dann auch ein, weil sie müssen, wegen dem Schwerbehindertenausweis und in Firmen allgemein gar keine Chancen.“

SPRECHERIN

Es gibt in Deutschland noch eine andere Personengruppe, die es systematisch schwer hat, Arbeit zu bekommen. Oder besser gesagt, die systematisch davon abgehalten wird, zu arbeiten: Geflüchtete. 

Musik 12: Living in the Shadows – siehe vorn – 13 Sek

ZITATOR

Rassismus - Warum People of Color eher von Langeweile betroffen sind

SPRECHERIN

Die polnischen Langeweileforscher Izabela Wagner und Mariusz Finkielsztein [sprich: Mariusch Finkielschtein] haben für eine Studie ein Flüchtlingslager in Südeuropa untersucht. Dort sind sie auf ein Phänomen gestoßen, das sie strategische Langeweile nennen. Also Langeweile, die von der Lagerleitung gezielt als Instrument benutzt wird, um die Geflüchteten zu kontrollieren. Die These: Menschen, die gelangweilt sind, lassen sich besser leiten, weil sie antriebslos und lethargisch sind. So gab es in dem Lager, das Wagner und Finkielsztein besucht haben, weder Internet, noch Fernsehen. Und als Landwirte aus der Umgebung kamen, um im Lager nach Erntehelfern zu fragen, wurden sie von der Lagerleitung weggeschickt. Und dass, obwohl Arbeit ein zentraler Bestandteil für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft ist. Das sagt auch Naqip Hakimi vom Bayerischen Flüchtlingsrat:   

20 ZSP Langeweile Integration (36 sek)

"Und so wird die Gesellschaft funktionieren. (...) Und wenn die Menschen von anderen Ländern hierher kommen … sie sind nicht aus Faulheit gekommen, sind nicht einfach, weil sie da Lust darauf hatten, dann sollten sie so schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt gehen, damit sie sich integrieren können, damit die auch die Gesellschaft, die Werte in Deutschland verstehen.” 

SPRECHERIN

Die Situation für Geflüchtete am deutschen Arbeitsmarkt änderte sich in der Vergangenheit immer wieder. Wurden in den 1970er Jahren noch systematisch Arbeitserlaubnisse erteilt, führte die steigende Zahl von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern in den 1980er Jahren dazu, dass die Bundesanstalt für Arbeit im ersten Jahr nach der Ankunft keine Arbeitserlaubnisse mehr vergab. 1997 sorgte Arbeitsminister Norbert Blüm mit dem so genannten “Blüm-Erlass” dafür, dass Geflüchtete überhaupt nicht mehr arbeiten durften. Der Grund: die hohe Arbeitslosigkeit damals. Das Narrativ: Ausländer nehmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg. Heute gilt: Arbeitsverbot in den ersten drei Monaten, dann stufenweise Lockerung – aber nur, wenn man nicht aus einem sogenannten sicheren Herkunftsland kommt. Da gilt das Arbeitsverbot grundsätzlich. Das Narrativ: Ausländer haben es auf die Sozialleistungen abgesehen und sollen so schnell wie möglich arbeiten. Das neue Schlagwort heißt Arbeitspflicht. Ein selbstbestimmtes Leben zu führen ist so schwer. Und wer sein Leben nicht selbstbestimmt führen kann, kann kaum im Einklang mit seinen Interessen und Fähigkeiten leben. Langeweile ist bei Geflüchteten also vorprogrammiert. 

Musik 13: 1.1_5-illusionofchoice.mp3 – siehe vorn – 1:30 Min

Klassismus, Sexismus, Ableismus, Rassismus – in all diesen Diskriminierungsformen steckt chronische Langeweile. Aber: Langeweile ist intersektional. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie auftritt, steigt, je mehr marginalisierten Gruppen jemand angehört. Menschen mit wenig Geld – betroffen, Menschen mit wenig Geld und Migrationsgeschichte – stärker betroffen, Frauen mit wenig Geld und Migrationsgeschichte – noch stärker betroffen, minderjährige Frauen mit wenig Geld und Migrationsgeschichte – noch viel stärker betroffen. Langeweile ist also nicht nur ein individuelles, sondern auch ein strukturelles, gesellschaftliches Problem. Sie ist eine Folge von Machtverhältnissen. Und deswegen politisch.