Ganz im Norden Skandinaviens ist Europas einziges indigenes Volk zu Hause: die Sami. Sie leben mit und von der arktischen Natur. Ihre jahrtausendealte Geschichte ist auch eine Geschichte der Kolonialisierung. Heute stellen Klimawandel, internationale Politik und die Energiewende die traditionelle Lebensweise vor neue Herausforderungen. Von Andreas Pehl
Ganz im Norden Skandinaviens ist Europas einziges indigenes Volk zu Hause: die Sami. Sie leben mit und von der arktischen Natur. Ihre jahrtausendealte Geschichte ist auch eine Geschichte der Kolonialisierung. Heute stellen Klimawandel, internationale Politik und die Energiewende die traditionelle Lebensweise vor neue Herausforderungen. Von Andreas Pehl
Credits
Autor dieser Folge: Andreas Pehl
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Katja Schild, Rahel Comtesse
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Mari Boine (OV weiblich), Kyrre Frank, Henrik Gaup, Andreas Klein, Rune Norman (OV männlich), Bjørnar Julius Olsen (OV männlich), Liss Ellen Ramstad (OV weiblich)
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
01 OT Mari Boine 920-58
Overvoice
Es ist wichtig, dass unser Wissen, wie man mit der Natur lebt, dass dieses Wissen überlebt. Denn das werden wir brauchen. Ich bin nicht sicher, dass das ganze Technologische ewig währt.
SPRECHERIN
Mari Boine ist als Sängerin auf den Bühnen der Welt zu Hause. Ihre Heimat in Norwegens nördlichstem Landesteil, der Finnmark, gehört zu Sapmi, dem Land der Sami. Es erstreckt sich von der russischen Kola-Halbinsel über Finnland und Schweden bis nach Norwegen. Mari Boine ist Sami, gehört zu Europas einzigem indigenen Volk.
MUSIK
Mari Boine: Elle, 4. Strophe bei 2:10
OVERVOICE Mari Boine
Wenn du mit deiner Herde bist,
die Rentiere mit dem stolzen Geweih ziehen siehst,
erwacht der Himmel zum Leben, beginnt, sich zu bewegen,
geliebter Sohn des Windes.
02 ATMO
Rentiermarkierung
SPRECHERIN
Steile Berge, tiefe Fjorde, weite Tundra mit verkrüppelten Birken, darüber der farbenreiche Himmel des Nordens – und eine Rentierherde. Fast ikonisch steht das Rentier für die samische Kultur.
03 MUSIK
Johan Sara Jr., Ensemble Noor: Dálvi (Winter) aus: „Gávcci jahkodaga/ Die acht Jahreszeiten“ 0‘28
04 OT Henrik Gaup 618
SPRECHERIN
Die Monate heißen Miessemánnu – Kälbermonat, Borgemánnu – Fellwechselmonat“ oder Golggotmánnu – Monat des erschöpften Bockes, erzählt Henrik Gaup aus Tromsø, dessen Rentiere im Sommer in den Lyngenalpen, im Winter in Kautokeino in der inneren Finnmark stehen. Das Jahr ist in acht Jahreszeiten unterteilt, die mit dem Zyklus der arktischen Natur verbunden sind: Frühlingswinter, Frühling, Frühlingssommer, Sommer, Herbstsommer, Herbst, Herbstwinter und Winter.
05 OT Henrik Gaup 602
SPRECHERIN
Henrik Gaup ist in zwei Welten zu Hause: als Rentierbesitzer in der samischen Kultur, als städtischer Verwaltungsangestellter in der westlichen Welt. Job, Arbeit – das sei ein westlicher Gedankengang, der alles gerne in Schubladen sortiert, meint er. Natürlich sei das mit den Rentieren Arbeit, aber nicht so, wie der Westen Arbeit definiert. Es sei ein Lebensstil, Teil der Identität.
06 OT Henrik Gaup 601
SPRECHERIN
Zwar leben und lebten nur rund 10% der Sami oder auch Samen genannt, hauptberuflich von der Rentierwirtschaft. Trotzdem haben rund zwei Drittel im Nebenerwerb oder in der Freizeit mit den Tieren zu tun. Henriks Brüder, die zu den 10% gehören, sagen: Wir arbeiten nicht. Henrik, der arbeitet. Der arbeitet im Büro.
07 OT Henrik Gaup 604
Die meisten Sami heute wohnen in Städten, haben gewöhnliche Berufe und pflegen ihre Kultur zwischen Mitternachtssonne und Nordlicht, samischer Tradition und einem Leben als Teil der westlichen Welt.
08 OT Henrik Gaup 605
Henrik Gaup meint: Hier passiert eine Kollision zwischen der westlichen und der samischen Art zu denken. Und das führe natürlich auch weit über die Familie hinaus zu Konflikten.
09 OT Henrik Gaup 617
Man muss sich anpassen an den westlichen Gedankengang, an die westliche Art, Dinge zu tun, davon ist Henrik Gaup überzeugt, der Betriebswissenschaft studiert hat und sich trotzdem in einem Spagat zwischen den Kulturen immer wieder fragt: was ist eigentlich lohnend? Sein nebenberuflicher Umgang mit den Rentieren jedenfalls nicht.
10 ATMO
Rentiermarkierung
SPRECHERIN
Wer im Urlaub in den hohen Norden fährt, trifft auf Sami in rot-blauen, fremdartigen Trachten, die Rentierfelle, Geweihe und mehr oder weniger traditionelles Handwerk verkaufen, der Rentiersame wird umfassend und sehr erfolgreich touristisch vermarktet.
11 OT Andreas Klein 200
Ich denke, dass die Samen doch recht häufig als die nicht-europäischen Europäer wahrgenommen wurden. D.h., dass man die gerne in Zusammenhang gebracht hat mit außereuropäischen Völkern. Immer auf so eine exotisierende Art.
SPRECHERIN
Andreas Klein ist Bibliothekar an der Universitätsbibliothek in Tromsø und hat sich mit dem Blick von außen auf die Sami beschäftigt.
12 OT Andreas Klein 201
Es gibt immer so diese romantisierenden Vorstellungen, das wird auch gerne vermittelt von der Tourismusindustrie. Bei dem Stichwort Samen denkt man in der Regel sofort an Rentiere.
SPRECHERIN
Das Rentier und die Sami – vielleicht hängt dieses Bild auch damit zusammen, dass die Menschen hier im Norden schon immer auch mit und von Rentieren gelebt haben. Die Tiere liefern Fleisch, Milch, Fell und Leder, Knochen und Horn für Werkzeuge und Kultgegenstände, sie sind Zugtiere und Weggefährten in der Wildnis.
13 O-TON Rune Normann 903a-25
OVERVOICE Rune Normann
Am Ende der Eiszeit, als das Eis sich zurückgezogen hat, sind die Rentiere hinterher gezogen. Und die Menschen sind ihnen gefolgt.
SPRECHERIN
Rune Normann ist Archäologe. Er arbeitet im Museum in Alta, 200 Kilometer unter dem Nordkap. Die Felsritzungen von Alta, die UNESCO-Welterbe sind, zeigen rund 6000 Figuren, davon 1500 Rentiere: Szenen aus dem Leben der Menschen vor etwa 7000 Jahren. Die Darstellungen zeigen weit mehr als nur Rentier- oder Bärenjagden und Fischfang.
14 O-TON Rune Normann 907-28
OVERVOICE Rune Normann
Die zahmen Rentiere wandern im Laufe eines Jahres von der Küste ins Inland und zurück. Die Menschen ziehen hinterher. Das ist eine ganz natürliche Wanderung.
SPRECHERIN
Rune Normann betont, dass es keine durchgehende Linie aus der Steinzeit zur samischen Kultur heute gibt.
15 O-TON Rune Normann 919a-32
OVERVOICE Rune Normann
Man muss hier von den Rentieren leben, wenn man ein Naturvolk ist. Das bedeutet nicht, dass es samisch ist oder norwegisch. Das bedeutet nur, dass die Menschen von der gleichen Natur gelebt haben.
Musik: Di Dien Luohkkai 0‘22
SPRECHERIN
Ab wann lässt sich eine samische Kultur erkennen? Erste archäologische Belege sind sogenannte Geröll-Gräber, erzählt Bjørnar Julius Olsen. Er ist Professor für samische Archäologie an der Universität in Tromsø.
16 OT Bjørnar 511-12
OVERVOICE Bjørnar
Geröll-Gräber liegen oft in Geröllfeldern, in denen man eine Kammer eingerichtet hat. Man hat die Toten in Birkenrinde eingehüllt begraben. Die ersten Geröll-Gräber sind etwa 800-900 Jahre vor unserer Zeitrechnung zu finden und das hält sich bis ins 18. Jahrhundert. Das ist wirklich eine sehr lange Tradition.
SPRECHERIN
Bereits der Begriff „Sami“ zeigt, welche Bedeutung der Austausch und der Blick von Außen hatten. Die Eigenbezeichnung „Sami“ bedeutet „Land“, „Menschen, die im Land wohnen“. Im Altnordischen wurden sie als „Finnen“ bezeichnet, als Wanderer, Spurensucher . Im Russischen, Finnischen und Schwedischen nannte man sie „Lappen“, ein Begriff, der heute nur noch abwertend gebraucht wird. Ursprünglich bedeutete er wohl „Handelspartner“ . Ein solcher kultureller Austausch lässt sich auch archäologisch belegen.
18 OT Bjørnar 504
OVERVOICE Bjørnar
Es gibt in der Eisenzeit ein paar deutliche Identifizierungsmerkmale als samisch oder als germanisch und altnorwegisch: rituelle Plätze, Begräbnistraditionen, landwirtschaftliche Siedlungen gegenüber Jagd- und Fangsiedlungen; Langhaus in der landwirtschaftlichen Bevölkerung und runde Häuser, zeltartige Gebäude im samischen Bereich.
SPRECHERIN
Auch ein halbnomadisches Leben hinterlässt deutliche Spuren: regelmäßige Siedlungsplätze, Rentierzäune oder Fanggruben bleiben in der arktischen Landschaft sehr lange erkennbar – ähnlich wie rituelle Stätten und Opferplätze.
21 OT Bjørnar 509a-09+10
OVERVOICE Bjørnar
Das religiöse Leben entfaltete sich an Opferplätzen in der Natur. Aber auch die Wohnung, die Gamme, war ein Ort für rituelle Aktivitäten. Die drei wichtigsten samischen Göttinnen wohnten jeweils in ihrem Teil des Hauses. Sáráhkká, Göttin der Schwangerschaft und der Geburt, wohnte unter der Feuerstelle. Uksáhkká, die das Geschlecht des Kindes im Mutterleib bestimmte, wohnte unter der Türschwelle des Haupteingangs. Und Juoksáhkká, die Jagdgöttin, wohnte unter dem hinteren Eingang.
SPRECHERIN
Die Gamme war in gewisser Weise ein Mikrokosmos, der die große Welt im Kleinen gespiegelt hat.
22 OT Bjørnar 509c-11
OVERVOICE Bjørnar
Viele der Werte, das Wissen und die rituelle Praxis, aber auch das Verständnis der Welt, wurden dadurch gelernt und gelehrt, dass man in der Gamme zusammenlebte.
SPRECHERIN
Das Christentum kam spät nach Sapmi. Während es sich in den Gebieten der Wikinger schon im Mittelalter etablierte, gab es lange Zeit nur vereinzelte Missionierungsbemühungen in den hohen Norden. Nach der Reformation begann jedoch eine Welle der Christianisierung durch reformierte, pietistische Missionare.
23 OT Bjørnar 516-16
OVERVOICE Bjørnar
Diese Missionare gingen sehr direkt zu Werke: mit der Zerstörung von Opferplätzen. Hunderte von samischen Trommeln wurden eingesammelt und vernichtet. Das war eine sehr konfrontative Linie im Verhältnis zur samischen Religion.
SPRECHERIN
Zu unbekannt und seltsam erschien die animistische Weltauffassung der Sami dem christlichen Europa, erklärt Andreas Klein aus Tromsø.
Nicht nur Missionare, auch Forscher machten sich auf in den Norden, um dieses fremde, seltsame Volk zu studieren. Einer von ihnen war Johannes Scheffer aus Strasburg, Professor in Uppsala. Sein Buch „Lapponia“, eine Beschreibung Lapplands, seiner Bewohner und ihrer Sitten, erschien 1673.
25 OT Andreas Klein 209
Er schreibt über ein reiches Kulturvolk mit sehr vielen Bräuchen und mit einer aus mitteleuropäischer Sicht bewundernswerten Geeignetheit, in dieser feindseligen Natur zu überleben. Und zugleich schreibt er über die Samen als natürlich zum schwedischen Königreich gehörenden Untertanen.
SPRECHERIN
Untertanen, die natürlich Steuern zahlen konnten und sollten. Zugleich versuchte Scheffer, Gerüchte über die Sami zu entkräften, die vor allem im katholischen Heiligen Römischen Reich verbreitet waren.
26 OT Andreas Klein 205 / a
Diese Gerüchte, die waren unter anderem die, dass man geglaubt hat, im Dreißigjährigen Krieg haben die Schweden nur deswegen gewinnen können, weil sie so viele samische Zauberer in ihren Reihen hatten.
SPRECHERIN
Heidnische Zauberer aus dem geheimnisvollen Norden hätten also den Sieg des Schwedenkönigs Gustav Adolf gegen die Katholische Liga ermöglicht…
27 OT Andreas Klein 205 / b
So etwas passt einer protestantischen Großmacht nicht.
28 ATMO
Trommelkurs
29 OT Andreas Klein 215
Die Trommel ist sehr zentral. Von den 25 Illustrationen sind elf in einem Kapitel zum Thema Religion untergebracht. Und da sind viele Trommelfelle mit den verschiedenen drauf dargestellten Symbolen abgedruckt. Und dann werden die Symbole erklärt. Man versucht, das Ganze irgendwie vertraut zu machen, dass man das verstehen kann. Und dann werden verschiedene Symbole zum Beispiel christlich interpretiert. Und das ist nicht immer falsch. Aber es ist auch nicht immer richtig.
ATMO
Trommel hoch
SPRECHERIN
Ein Lávvu, ein aus Holz nachgebautes samisches Zelt im lichten Wald im Tromsdal. Die Stadt Tromsø ist in Sichtweite. In der Mitte des Lávvu brennt ein offenes Feuer, Kyrre Frank und eine Handvoll Menschen sitzen im Kreis und trommeln. Kyrre Frank trägt eine lange samische Jacke aus Rentierleder, dazu einen reich verzierten Gürtel, an dem Messingringe hängen. Er ist samischer Noaidi, was sich am Ehesten mit „Schamane“ übersetzen lässt.
30 OT Kyrre Frank 818-35
SPRECHERIN
Die Trommel sei eines seiner wichtigsten Werkzeuge, erzählt Kyrre Frank. Nicht nur der Noaidi, jede Familie hatte ihre Trommel. Genutzt wurden sie vor allem bei Ritualen, bei denen man in Kontakt mit den geistigen Mächten kommen wollte, um das Wetter vorherzusagen, bei Krankheit oder um den Namen eines Kindes zu bestimmen.
Atmo
Trommel hoch
SPRECHERIN
Kyrre vertritt die Spiritualität der samischen Urvolksreligion, die er erforscht, revitalisiert und adaptiert.
31 OT Kyrre Frank 811-37
SPRECHERIN
Es gab auch weibliche Noaidi in der samischen Kultur. Aber wie die männlichen Kollegen waren sie in Lebensgefahr, als die Missionierung der Sami begann. Die Trommeln wurden ihnen weggenommen. Sie wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Und später hatten sie dann auch ein Stigma durch die Sami selbst, die sich inzwischen mehrheitlich zum Christentum bekannten.
32 MUSIK-0K
Mari Boine – Vuoinnadan Baiki Liekkuslas 0‘26
SPRECHERIN
Ab dem 17. Jahrhundert untermauerte die große Missionsbewegung zugleich die territorialen Ansprüche der Staaten im Norden Europas. Die Nationalstaaten zogen Grenzen in das grenzenlose Land der Sami. Die Kirche repräsentierte den Staat. Samische Sprache und Kultur wurden als „halbwild“ und „teuflisch“ gebrandmarkt, erniedrigt, unterdrückt und verboten. Christlich-pietistische Theologie und Assimilierungspolitik verbanden sich zu einem machtvollen Werkzeug gegen alles Samische.
33 OT Mari Boine 907-26
OVERVOICE
Wenn du unsere Musik verbietest, unsere Kultur, dann sagst du damit: Ein Teil von dem, was dich ausmacht, ist nicht gut. Vergiss das! Werde ein anderer! Das ist Gewalt gegen ein Volk. Und genau das wurde mit den Sami gemacht. Über Generationen wurden die Menschen einer Gehirnwäsche unterzogen, so dass sie glauben, dass ihr kulturelles Erbe Teufelswerk ist. Erst heute können Familien damit anfangen, offen darüber zu reden. Dann heißt es: Ja, wir hatten einen samischen Großvater, die Oma, die hat auch samisch gesprochen. Aber das sollten wir nicht laut sagen. Wenn man überlegt, was das mit den Menschen gemacht hat – das waren ungeheuerliche Übergriffe.
34 MUSIK 0N
Mari Boine – Gula-Gula 1’54
SPRECHERIN
Die samische Kultur und Sprache wurden in einer Mischung aus Religion, Rassenideologie, Nationalstaatsidee und Weltpolitik an der Russischen Grenze im Kalten Krieg als minderwertig abgestempelt. Neben den skandinavischen Staaten und ihren mitteleuropäischen Nachbarstaaten hat auch die Kirche eine sehr große Rolle gespielt.
35 OT Mari Boine 910-34a
OVERVOICE
Ich wusste: An dem Tag, an dem ich selbst die Trommel in die Hand nehme, provoziere ich den Teil meines Volkes, der glaubt, dass das vom Teufel kommt.
MUSIK
hoch
36 OT Mari Boine 909 mit Erweiterung-38
OVERVOICE
Die alten Rhythmen, die alten Erzählungen, all das war bei mir zu Hause verboten. Das sollte man vergessen. Das gehörte zum Teufel. Trotzdem begann ich, Musik zu machen aus diesen alten Rhythmen heraus. Und auf einmal hatte ich das Bedürfnis, Trommel zu spielen. Ich begann mit einer afrikanischen Trommel, das war sicherer. Viele Jahre lang spielte ich diese afrikanische Trommel, bis ich merkte: nein, ich brauche eine samische Trommel!
SPRECHERIN
Heute sind nur noch rund 80 dieser historischen Kultinstrumente erhalten. Die meisten samischen Trommeln außerhalb Skandinaviens liegen in den Depots deutscher Museen – die Sammelbegeisterung deutscher Fürsten und später deutscher Reisender kannte keine Grenzen.
MUSIK
hoch
SPRECHERIN
In Norwegen zog sich die Norwegisierungspolitik von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.
37 OT Liss Ellen Ramstad 351
OVERVOICE
Das war eine offizielle Politik, die darauf zielte, die samische Kultur und Sprache abzuschaffen. Die norwegische Kultur sollte gestärkt werden. Man versuchte das unter anderem durch die Bildungspolitik. Unterricht gab es nur auf Norwegisch. Das war ein ganz starkes Druckmittel. Mit der Zeit hat sich das dann in alle Bereiche der Gesellschaft ausgebreitet: in die Wirtschaftspolitik, in die Gesundheitspolitik, in die Kirchenpolitik. Es wurde allumfassend. Das Ziel war eine Nation und eine Kultur. Und da war kein Platz mehr für das Samische.
SPRECHERIN
Liss Ellen Ramstad arbeitet in der Justizabteilung des samischen Parlaments. Diese Politik war nicht nur auf Norwegen beschränkt. Oslo handelte in mancher Hinsicht stellvertretend für ganz Europa, etwa im Hinblick auf die norwegisch-russische Grenze im Kalten Krieg.
38 OT Liss Ellen Ramstad 352
OVERVOICE
Das war Weltpolitik. Das gab eine Einigkeit unter den norwegischen Politikern, dass das eine offizielle Politik war, die in die Zukunft führen sollte und Norwegen stärken sollte. Und so wurde die samische Kultur, die immer in Norwegen ihren Platz hatte, unsichtbar.
SPRECHERIN
Erst in den 1980er-Jahren unternahm Norwegen als Vorreiter in Skandinavien erste Schritte zur Anerkennung der samischen Kultur. Im norwegischen Karasjok arbeitet seit 1989 das länderübergreifende beratend tätige samische Parlament, das „Sámediggi“. 1990 ratifizierte Norwegen die ILO-Konvention 169 über verbindliche Rechte der Urbevölkerung. 1997 drückte König Harald V. sein Bedauern aus für das Unrecht, das im Namen des Staates am samischen Volk verübt wurde. Trotz solcher Fortschritte kämpfen die Sami mit den Nachwirkungen der Geschichte, setzen sich für ihre Rechte ein, die immer noch übersehen werden.
39 OT Liss Ellen Ramstad 354-367
OVERVOICE
Wir arbeiten ganz intensiv daran, die Sichtbarkeit zurückzubekommen.
Worüber sich die Menschen nicht im Klaren sind, wenn sie auf Norwegen schauen, die mächtige Natur sehen und durch die Landschaft reisen: Das hier ist keine unberührte Landschaft. Hier waren schon immer Menschen unterwegs, die Natur wurde genutzt, zum Fischen, zum Ernten, für die Rentierwirtschaft. Die ursprüngliche samische Lebensweise ist eine sehr achtsame Art, die Natur und unsere Ressourcen zu gebrauchen.
SPRECHERIN
Sami wehren sich heute gegen einen sogenannten grünen Kolonialismus mitten in Europa, also gegen Windparks und Wasserkraftwerke auch deutscher Investoren, die Rechte und Lebensgrundlage der samischen Gemeinschaft einschränken. Sie warnen vor Land- und Flächenverbrauch für Siedlungen, Rohstoffe und Energiegewinnung, vor Umweltverschmutzung und Ressourcenverschwendung auch im Zuge vermeintlicher Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen. Auch wenn sie selbst ein Teil der modernen Welt sind: Viele sind unbequeme Mahner in schwierigen Zeiten.
40 MUSIK-0T
Dehtie baeleste – Marja Mortensson: Raajroe / The reindeer Caravan 0‘53
41 OT Liss Ellen Ramstad 356
OVERVOICE
Die Norwegisierungspolitik liegt in der Vergangenheit. Aber die Folgen sind noch immer allgegenwärtig. Der Druck auf die Sprache und Kultur setzt sich fort.
SPRECHERIN
Im Juni 2023 veröffentlichte die norwegische Wahrheits- und Versöhnungskommission einen Bericht, der sich mit der Geschichte der Diskriminierung und Unterdrückung der Sami und anderer indigener Völker in Norwegen auseinandersetzt. Liss Ellen Ramstad war Geschäftsführerin der Kommission.
42 OT Liss Ellen Ramstad 358
OVERVOICE
Es wurden Linien gezogen zwischen der Politik, die gemacht wurde und den Folgen, die man bis heute sieht. In der Gesamtschau ist der Bericht eine nachdrückliche Dokumentation darüber, wie sehr das eine Gesellschaft verändern kann.
Musik: Mari Boine: Elle 0‘45
SPRECHERIN
Es wird einige Generationen dauern, bis die Verletzungen geheilt sind; bis Vertrauen, Wissen und Dialog zwischen den Sami und der Majoritätsbevölkerung wieder eine stabile Basis haben; bis die Sami von den Touristen nicht mehr nur als dekorative Exoten mit Rentier am Straßenrand wahrgenommen werden. Der Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission bietet eine Grundlage, um Sapmi, die samische Kultur und das Leben in acht Jahreszeiten ins öffentliche Bewusstsein zu bringen.