In wenigen Tagen, am 28. Februar wird in Finnland der Kalevala-Tag begangen. Denn der Sammler des Kalevala, der Arzt Elias Lönnrot, datierte das Vorwort der Erstausgabe auf den 28. Februar 1835. Von Julia Devlin
In wenigen Tagen, am 28. Februar wird in Finnland der Kalevala-Tag begangen. Denn der Sammler des Kalevala, der Arzt Elias Lönnrot, datierte das Vorwort der Erstausgabe auf den 28. Februar 1835. Von Julia Devlin
Credits
Autorin dieser Folge: Julia Devlin
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Stefan Wilkening, Sven Hussock
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Christian Niedling, Universität Turku
Arnika Groenewald-Schmidt, Belvedere Wien
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Weiterführende Links:
Die Gesellschaft für Finnische Literatur bietet das Epos in mehreren Sprachen auf ihrer Webseite an HIER
Literatur:
Hans und Lore Fromm, Kalevala - Das finnische Epos des Elias Lönnrot. Mit einem Nachwort von Hans Fromm. Wiesbaden 2005 - gute zeitgenössische Übersetzung
Christian Niedling, Zur Bedeutung von Nationalepen im 19. Jahrhundert. Das Beispiel von Kalevala und Nibelungenlied.Köln 2007 - eine Rezeptionsgeschichte des Kalevala
Stella Rollig, Arnika Groenewald-Schmidt, Akseli Gallen-Kallela. Finnland erfinden. Köln 2024 - Ausstellungskatalog mit fundierten Aufsätzen zur Motivik des Künstlers und der Bedeutung des Kalevala für ihn
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
JETZT ENTDECKEN
Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Zuspielung
Lemminkäinen-Suite, III. Der Schwan von Tuonela, erste Takte, dann dem Sprecher unterlegt.
Zitator (ältere Stimme, raunend)
Hoch im Nordland liegt Tuonela, das Reich der Toten, getrennt von der Welt der Lebenden durch einen tiefen, dunklen, reißenden Fluss. Auf diesem Fluss zieht ein schwarzer Schwan seine Kreise und singt; singt seinen wunderschönen Gesang vom Todeszauber, lockt die Seelen der Verstorbenen ins Totenreich.
Sprecherin
Der Held Lemminkäinen, ein junger Recke, will den Schwan töten. Denn Louhi, die Herrscherin des Nordlands, stellt ihm mehrere Aufgaben, bevor sie ihm gestattet, ihre schöne Tochter zu heiraten.
Zitator
Dann erst geb' ich meine Tochter,
Geb' ich dir zur Braut die Jungfrau,
Wenn den Schwan im Fluß du schießest,
In dem Strom den starken Vogel
Sprecherin
Doch Lemminkäinen wird bei dem Versuch, das heilige Tier zu erlegen, selbst durch einen vergifteten Pfeil getötet. Der Mörder zerstückelt ihn und wirft die Leichenteile in den Fluss. Seine Mutter jedoch recht die Teile aus dem dunklen Wasser und setzt sie wieder zusammen.
Zitator
Füget Fleisch dann zu dem Fleische,
Paßt die Knochen aneinander,
Bindet ein Glied an das andre,
Preßt die Adern fest zusammen.
Sprecherin
Mit Zaubersprüchen und einem magischen Honig erweckt sie dann Lemminkäinen wieder zum Leben.
Zitator
Lemminkäinen leichtgemutet
Ging gerades Wegs nach Hause
Mit der vielgeliebten Mutter,
Mit der übermächt'gen Alten.
Sprecherin
Dies ist eine Legende aus dem finnischen Epos Kalevala. 1835 erschien es erstmals als gedrucktes Werk, gesammelt und zusammengestellt von dem Landarzt Elias Lönnrot. Er reiste durch die abgelegenen Regionen des östlichen Finnland und durch Karelien, eine Region, die sich zwischen der Ostsee und dem Weißen Meer auf beiden Seiten der russisch-finnischen Grenze erstreckt, um aufzuschreiben, was bis dahin nur mündlich weitergegeben worden war.
Sprecher
Die Verse erzählen von einem Land voller Magie und Geheimnissen, bevölkert von Helden. Sie beschreiben die Entstehung der Welt und des Alls und den Beginn des Ackerbaus, sie erklären, warum es Krankheit, Leid und Tod gibt, warum Wohlstand und Reichtum oder Armut und Hunger herrschen, sie geben - wie viele Mythen - eine Antwort auf die ängstlichen und suchenden Fragen der Menschen.
Sprecherin
Lemminkäinen ist einer der zentralen Helden, ein schöner, starker junger Mann, ein Draufgänger und womanizer. Ein weiterer Held ist Väinämöinen, ein alter, weiser Barde mit magischer Stimme, und der mit Zauberkräften ausgestattete Schmied Ilmarinen. Sie leben in dem Land Kalevala. Im Norden von Kalevala liegt Pohjola, in dem die furchteinflößende, unheilbringende Hexe Louhi herrscht. Beide Länder begegnen sich immer wieder, mal im Frieden, mal im Krieg.
Sprecher
Finnland war über 700 Jahre lang ein Teil des Königreichs Schweden gewesen. Das Finnische galt als die Sprache der Bauern, die gebildete Oberschicht sprach Schwedisch. Doch im Jahr 1809 verlor Schweden den Krieg gegen Russland und musste Finnland an den Zaren abtreten.
O-Ton Niedling 1
13.20 und man hat dann versucht, irgendetwas zu finden, das gezeigt hat, dass man eben eine eigenständige Gruppierung ist, man hatte die Angst, dass man sich in Russland assimiliert oder dass man aufgeht, und das wollte man unter allen Umständen verhindern. Es gab einen Historiker zu dieser Zeit, Adolf Ivar Arwidsson, der hat ein geflügeltes Wort gesagt, oder zumindest wird es ihm zugeschrieben, das heißt auf Deutsch übertragen: Wir sind keine Schweden mehr, Russen wollen wir nicht werden, lasst uns also Finnen sein.
Sprecherin
Dr. Christian Niedling ist Germanist an der Universität Turku in Südfinnland. Er hat zu Epen, besonders zum Kalevala intensiv geforscht. Er erläutert, dass Johann Gottfried Herder, der deutsche Philosoph der Aufklärung, großen Einfluss auf die gebildeten Stände in Schweden hatte.
O-Ton Niedling 2
16:06 Da kommen jetzt die ganzen interessanten Gedanken von Herder ins Spiel, weil Herder hat unter anderem die Nation als Gemeinschaft dargestellt und für ihn war es wichtig, dass sich der Charakter einer Nation in ihrer Sprache und in ihrer Dichtung manifestiert.
O-Ton Niedling 3
16:48 Und dann begann man eben in großem Stil, die finnische Volksdichtung zu sammeln.
Sprecherin
Auf elf entbehrungsreichen Forschungsreisen schrieb Elias Lönnrot nieder, was ihm die Menschen vorsangen. Er ordnete die Verse und arrangierte sie zu zusammenhängenden Narrativen. Die Veröffentlichung im Jahre 1835 traf einen Nerv.
O-Ton Niedling 4
21:24 Das ist dann sozusagen der Beginn, wo die gebildeten Leute gesagt haben, OK, das ist jetzt unser Beweis, wir Finnen haben etwas Eigenständiges, wir haben unsere eigene epische Tradition, wir haben unsere eigenen Gesänge, wir haben eine Sprache, die zur Dichtung fähig ist. Wir haben auch eine eigene Geschichte, eben manifestiert auch in diesem Epos, und sofort hat man dann die Idee bekommen, dass eben dieses Kalevala, das Nationalepos ist.
Sprecherin
Die lutherischen Reformatoren im 16. Jahrhundert verpönten die Gesänge des Kalevala als heidnisch und abergläubisch. Nicht verwunderlich, lassen sich doch im Kalevala Aspekte von Schamanismus und Götzenverehrung entdecken.
So verkümmerte die Liedertradition im westlichen Finnland. Anders in der östlichen Peripherie, weit entfernt von den gesellschaftlichen Zentren. Dr. Christian Niedling:
O-Ton Niedling 5
29:18 Aber so richtig erhalten hatte sie sich nur noch in den karelischen Gebieten. Und auch da hat Lönnrot selbst gemerkt, dass da eigentlich diese alte epische Tradition langsam schon am Verblühen war. Also er kam praktisch gerade recht, um noch diese, die die Reste der reichhaltigen Sänger Tradition eben mit diesen mythenhaften Themen dann noch sammeln zu können, also wenn das ein paar 100 Jahre später gewesen wäre, wäre das auch dort dann verkümmert.
Sprecherin
Und so holte Elias Lönnrot aus der Peripherie das, was als "unverdorben" und "ursprünglich" die Identität des finnischen Volkes prägen sollte, eine Verbindung zu seinem archaischen, jahrhundertealten Erbe.
O-Ton Niedling 7
38:37 Und Elias Lönnrot hat eben mit diesem Epos auch zur Schriftsprache einen einen wichtigen Teil geleistet.
Es gab vorher vielleicht das Neue Testament auf Finnisch und es gab so einzelne religiöse und zum Teil auch profane Literatur.
O-Ton Niedling 8
40:00 Man wollte also möglichst schnell den Status der finnischen Sprache heben und verbessern, es war ja keine Amtssprache, es war eben nur die Sprache der der ländlichen Schichten, auch wenn es die Mehrheitensprache war. Und diese ganzen schwedischen schwedischsprachigen Gebildeten in Finnland, die haben sich dann eben mehr oder weniger in Form der der Fennomanie, auf sprachliche Programme geeinigt und hat dann eben versucht, Finnisch als eine offizielle Sprache zu etablieren und das ist dann auch 1863 mit dem Sprachedikt gelungen.
Zuspielung Sibelius, Lemminkäinen Suite, Der Schwan von Tuonela, unterlegt
Sprecherin
Das Kalevala wurde in Finnland mit Begeisterung aufgenommen. Es inspirierte die bildenden Künste, Architektur, Möbeldesign, Dichtung und Musik. Der finnische Komponist Jean Sibelius beispielsweise setzte immer wieder Episoden aus dem Kalevala in Tondichtung um, so mit der Lemminkäinen-Suite, in der er nicht nur die Abenteuer des schönen, draufgängerischen Helden musikalisch beschreibt, sondern auch den majestätischen Schwan, der auf dem dunklen Fluss des Totenreiches seine Bahnen zieht und dabei seinen wunderschönen Totenzauber singt.
Zuspielung Sibelius, Lemminkäinen Suite, Der Schwan von Tuonela, ausblenden
Sprecher
Und auch auf die Malerei hatte das Kalevala großen Einfluss. Dem finnischen Künstler Akseli Gallen-Kallela war das Epos lebenslange Inspiration. Seine Darstellungen der Episoden des Kalevala und seine mythisch überhöhten Naturdarstellungen waren prägend und gaben Finnland ein Gesicht.
O-Ton Groenewald-Schmidt 10
53:35
In der Zeit war sozusagen ein Repräsentant Finnlands, aber es wurde auch gesagt, dass er auch sehr weltmännisch auftrat. Also er sprach verschiedene Sprachen, sprach wohl auch Deutsch und auch das sozusagen konnte sein Land dadurch dann sehr gut repräsentieren, weil er eben genau eigentlich diese zwei Stränge, die man in Finnland eigentlich für sich als in der Nationwerdung als Bedeutung erfuhr, also dass man zum einen durch die eigene Kultur hat, eine sehr weit zurückreichende eben Geschichte mit dem Kalevala, aber dass man auf der anderen Seite auch durchaus international ist und in die andere Richtung schaut und Teil des westlichen Europas sein möchte als eine der Nationen, und das vereint er eigentlich in sich, in seiner Person, wie er war, wie er sich gegeben hat und was er malte.
Sprecher
Arnika Groenewald-Schmidt ist Kunsthistorikerin am Belvedere in Wien. Sie hat dort die Ausstellung "Akseli Gallen-Kallela. Finnland erfinden" kuratiert. Das Kalevala war aber nicht nur aus Gründen der nationalen Identität für Gallen-Kallela wichtig.
O-Ton Groenewald-Schmidt 1
4:29
Also diese Suche nach dem Spirituellen ist auch etwas, was sich bei ihm durchzieht, ein ewig Suchender in verschiedenen Bereichen seines Lebens und ja, auch dort hat eben das Kalevala ihm viel Quellen der Inspiration geliefert.
Sprecher
So hat er 1893 das Gemälde "Das Schmieden des Sampo" geschaffen. Ilmarinen, der Schmied, starrt gebannt ins Feuer seiner Schmiede, in der der mythische Sampo Gestalt annimmt. Der Sampo?
O-Ton Groenewald-Schmidt 3
26:19
Das oder der Sampo ist eben so die Frage, was ist das?
Ist es jetzt ein Gerät, ist es ein Instrument?
Es wird beschrieben als ein Objekt, was Reichtum und Macht bringt, und das wird eben geschmiedet von dem Schmied Ilmarinen auch wieder eben für die Herrscherin des Nordens Louhi. Eigentlich hat sie ihm dafür die Hand ihrer Tochter versprochen. Und wir sehen eben hier in diesem Bild, wie Ilmarinen mit seinen Gehilfen in einer Schmiede im Wald eben dieses geheimnisvolle Objekt schmiedet, aber man sieht es eben nicht.
O-Ton Groenewald-Schmidt 4
27:11
Und Gallen-Kallela hat es auch nie, er hat ihm keine Form gegeben. Also hier sieht man eben nur das Feuer und man sieht hinten eine Kiste. Und dieselbe Kiste sehen wir dann auch bei der Verteidigung des Sampo auf dem Boot. Auch da sieht man eben nicht den Sampo an sich, sondern eben diese Kiste, wo das etwas drin ist.
Sprecher
Auf dem Gemälde "Die Verteidigung des Sampo" sieht man den Helden Väinämöinen, der mit hoch erhobenem Schwert den in einer Kiste verpackten Sampo gegen Louhi, die zauberkräftige Herrscherin des Nordlandes verteidigt. Er hat ihr den Sampo geraubt, damit auch das Land Kalela einmal von seinen Segnungen profitiert. Louhi hat sich in einen mächtigen Adler verwandelt und greift aus der Luft an. Im Kampf zerbricht der Sampo und versinkt im Meer. Doch seine Trümmer sorgen für den Reichtum des Wassers. Einige Bruchstücke werden an Land gespült, wo sie Väinämöinen aufsammelt. Denn er weiß, dass selbst diese Bruchstücke noch fruchtbar wirken.
Zitator
"Daraus kommt des Samens Sprießen,
Wechselloser Wohlfahrt Anfang,
Daraus Pflügen, daraus Säen,
Daraus Wachstum jeder Weise,
Daraus kommt der Glanz des Mondes,
Kommt das Freudenlicht der Sonne
Auf den weiten Fluren Finnlands,
Auf Suomis Heimatsstrecken."
O-Ton Groenewald-Schmidt 5
27.38 Also auch für Gallen-Kallela war wohl dieses Objekt auch wirklich so etwas Heiliges, dem man halt keine Form geben konnte sollte, und deswegen haben wir es immer nur in der Kiste bei ihm dargestellt.
Sprecher
Eines der bekanntesten und beliebtesten Gemälde von Akseli Gallen-Kallela ist die Ansicht des Keitele-Sees. Es zeigt die silbrige Wasserfläche des Sees im Licht des Mittsommers, die sich in einem Zickzackmuster kräuselt, am Horizont eine Insel und das bewaldete Ufer. Eine ganz normale finnische Landschaft.
O-Ton Groenewald-Schmidt 7
45:14 Aber es gibt etwas, was eben an dieser Komposition unglaublich anziehend ist. Und es ist eben zum einen, es ist noch erkennbar, was es ist. Es ist ein See. Es ist hauptsächlich Wasser, eben mit dieser Insel und eben dann diesen hohen Horizont mit den Wolken und eben diesen niedrigen Ufer.
O-Ton Groenewald-Schmidt 8
45:37 Aber zum anderen ist es auch schon in gewisser Weise eine Abstraktion von dem, was er sieht, von den Farben, von dem Gefühl, was man in der Landschaft hat.
Sprecher
Und es ist eine mythisch aufgeladene Landschaft.
O-Ton Groenewald-Schmidt 9
46.18 Und wenn man noch mal zum Kalevala zurückkehrt, für Gallen-Kallela war eben ganz stark auch diese Verbindung Natur-Mensch was sich auch im Kalevala immer wieder in den Geschichten zeigt, ganz wichtig. Und da hat er sich eben auch selber drin wiedergefunden und deswegen ist auch in seinen, sagen wir mal puren Landschaften wie jetzt im Keitele-See ist für ihn auch der Mythos, die mythologischen Figuren präsent und hier beschreibt er eben selbst, dass diese Bahnen, die eigentlich ein meteorologisches Phänomen von Strömungen sind, hier eben in diesem Silbergrau gemalt, dass für ihn das die Spuren des Bootes von Väinämöinen sind, der eben am Ende von Kalevala Abschied nimmt, dann sozusagen für die neue Generation den Weg freimacht.
Zitator
Doch zurück ließ er die Harfe,
Ließ das schöne Spiel in Suomi,
Seinem Volk ließ ew'ge Freude,
Großen Sang er seinen Kindern.
Sprecherin
So verlässt Vänämöinen das Land Kalevala. Er weiß, dass sein Zeitalter, die heidnische Welt der Mythen, an ihr Ende gelangt ist, dass mit der Christianisierung eine neue Ära anbricht, und er segelt davon, hinterlässt aber dem finnischen Volk seine Harfe und seine Gesänge.
Sprecher
Mit der Begeisterung für das Kalevala erwachte auch ein Interesse an Karelien, das als Schatzkammer der authentischen finnischen Kultur verklärt wurde. Und so erhielt die nationalromantische Bewegung, die das Kalevala auslöste, die Bezeichnung "Karelianismus". Hier glaubte man die versunkene Welt des Kalevala wiederzufinden. Hierhin pilgerte man, um dem Ursprünglichen zu begegnen. Auch Akseli Gallen-Kallela reiste nach Karelien, um seine Motive zu finden.
O-Ton Groenewald-Schmidt 6
33:48 Das hat er eben wirklich dort gesehen und gemalt. Also das war für ihn dann wichtig, dass er eben das Kalevala, den Kalevalamythos auch wirklich dort verortet, wo sozusagen der Ursprungsort des Kalevala ist.
Sprecher
Nach dem Sturz des russischen Zaren erlangte Finnland 1917 endlich die ersehnte Unabhängigkeit. Zwei Jahrzehnte später tobte der Zweite Weltkrieg. Sowjetische Truppen griffen 1939 Finnland an. Finnische Streitkräfte konnten in dem sogenannten Winterkrieg die Invasion stoppen, mussten aber im Friedensvertrag 1940 große Areale von Finnisch-Karelien an die Sowjetunion abtreten. Im Fortsetzungskrieg, den die Finnen ab 1941 zusammen mit der deutschen Wehrmacht führte, eroberten finnische Truppen nicht nur die im Winterkrieg verlorenen karelischen Gebiete zurück, sondern besetzte auch weite Teile Ostkareliens, mit dem Ziel, die hier wohnende finnischsprachige Bevölkerung mit Finnland zu vereinen.
Sprecherin
Der Anspruch auf diese Gebiete wurde von der kulturellen und politischen Führungsschicht propagandistisch mit dem Kalevala und Elias Lönnrots Sammelreisen untermauert. Der epische Kampf zwischen dem Nordreich Pohjola und dem Land Kalevala wurde gleichgesetzt mit dem Kampf zwischen Russen und Finnen. Und so, wie die Helden des Kalevala die dunklen Kräfte durch ihren Mut zurückdrängen konnten, so sollten auch die Finnen gegen die übermächtige Sowjetunion ankämpfen und das gelobte Land Karelien, das das Kalevala bewahrt hatte, in Gänze heimholen.
Sprecher
Doch die Eroberungen ließen sich nicht auf Dauer halten, und 1944 war der Traum von einem mit Finnland vereinten Karelien ausgeträumt. Finnland musste harsche Bedingungen der Sowjetunion akzeptieren. So verlor es weitere Teile Kareliens.
Musikalischer Akzent
Sprecherin
Heute ist das Kalevala immer noch starker Teil der finnischen Identität und Selbstvergewisserung. Was nicht unbedingt heißt, dass das Epos tatsächlich von vorne bis hinten gelesen wird, doch alle kennen es.
O-Ton Niedling 6
37:31 Aber die Motive, die aus dem Kalevala, die sind wirklich vollgegenwärtig, die gehören überall dazu. Also zum Beispiel, dass das Sampo, dieses Wunderding, das Wohlstand schafft. Da gibt es berühmte Eisbrecher, die so heißen, oder es gibt Banken, die so heißen. Es gibt Streichhölzer, die so heißen.
Und dann eben auch in jeder Stadt gibt es Sampo Straßen und es gibt Versicherungen, die danach genannt werden also der Einfluss von dieser Kalevala- Motivik, der ist wirklich ganz ganz ganz enorm.
Sprecherin
sagt Dr. Christian Niedling. Nach wie vor ist das Kalevala Inspiration und Projektionsfläche für die verschiedensten Genres, wird stets aufs Neue interpretiert. Es gibt Kalevala-Schmuck, es gibt einen Comic, der das Kalevala mit Hunden darstellt, es gibt Radio Kalevala. Und es gibt seit den 1990er Jahren mehrere Heavy-Metal-Bands, die sich in ihrem optischen Erscheinen, in ihrer Musik und ihren Texten auf das Kalevala beziehen.
Zuspielung Ensiferum, Old Man (Väinämöinen), erste Takte, dann unterlegen
Sprecher
Die Band Ensiferum beispielsweise besingt in "Old Man" die Einsamkeit von Väinämöinen - die Anfangstakte sind im Kalevala-Metrum. Auf dem Cover sieht man einen alten bärtigen Krieger mit gezücktem Schwert in einem Boot, natürlich in einer finnischen Seen- und Waldlandschaft.
Sprecherin
Mythen sind zugleich stetig und wandelbar, offen für Interpretationen. Das macht ihre Langlebigkeit aus. Und es heißt ja auch in den letzten Zeilen des Kalevala:
Zitator
Hier nun führt der Weg in Zukunft,
Hier eröffnet sich der Fußpfad
Für die kundigeren Sänger,
Für die reichern Runensprecher
In der Jugend, die emporsteigt,
In dem wachsenden Geschlechte.