radioWissen - Bayern 2   /     Provokation in der Kunst - Vom Sinn des Tabubruchs

Description

Haben Sie sich schon einmal von einem Kunstwerk provoziert gefühlt? Sich geekelt oder geschämt? Das war vermutlich Absicht. Provokationen sind in der Kunst der modernen und zeitgenössischen Kunst keine Seltenheit. Sie sind ein legitimes künstlerisches Mittel und erfüllen einen wichtigen Zweck. Von Julie Metzdorf

Subtitle
Duration
00:23:03
Publishing date
2025-02-27 03:30
Link
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/provokation-in-der-kunst-vom-sinn-des-tabubruchs/2103769
Contributors
  Julie Metzdorf
author  
Enclosures
https://media.neuland.br.de/file/2103769/c/feed/provokation-in-der-kunst-vom-sinn-des-tabubruchs.mp3
audio/mpeg

Shownotes

Haben Sie sich schon einmal von einem Kunstwerk provoziert gefühlt? Sich geekelt oder geschämt? Das war vermutlich Absicht. Provokationen sind in der Kunst der modernen und zeitgenössischen Kunst keine Seltenheit. Sie sind ein legitimes künstlerisches Mittel und erfüllen einen wichtigen Zweck. Von Julie Metzdorf

Credits
Autorin dieser Folge: Julie Metzdorf
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Stefan Wilkening, Berenike Beschle, Diana Gaul
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Susanne Poelchau

Im Interview:
Bernhard Maaz, Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen

Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren:

Marina Abramovic - Performance, Provokation und Pop
JETZT ENTDECKEN

Joseph Beuys - Leben als Konzept und Aktion
JETZT ENTDECKEN

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
JETZT ENTDECKEN

Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ERZÄHLER

Ein ans Kreuz genagelter Frosch mit Bierkrug in der Hand. Ein Künstler, der seine eigene Haut versteigern lässt - Lieferung nach Ableben. Oder eine mit Klebestreifen an der Wand befestigte Banane – für 6,2 Millionen Dollar. 

Musik 2

"Grey" - Künstler und Komponisten: Loscil & Lawrence English - Album: Colours of Air - Länge: 0'39

ERZÄHLERIN

Die Kunstwelt ist voll von Provokationen: explizite Darstellungen von Gewalt oder Sexualität, von toten Tieren und verwesendem Essen, Angst, Ekel, und aggressiver Intimität, von Toiletten, Exkrementen und Blut, von Menschen, die sich selbst verletzen oder verletzen lassen, die öffentlich urinieren, defäkieren oder masturbieren, von christlichen Symbolen in Säure oder Urin. Kurz gesagt: von Zumutungen aller Art, die je nach individueller Verfasstheit des Publikums Unverständnis, Langeweile, Ekel oder Wut hervorrufen.

Musik 2

"Machaut: Kyrie 1" - Komponist: Machaut, Guillaume de (c1300-1377) Ausführende: Album: Early Music (Lachrymæ Antiquæ)Länge: 0'41

ERZÄHLER  

Thematisch sind der Provokation keine Grenzen gesetzt. Jede Gesellschaft und jede Zeit hat ihre eigenen Normen und Werte, deshalb gibt es immer irgendein Tabu, das man brechen kann. 

Beispiel Albrecht Dürer: sein berühmtes Selbstporträt in der Alten Pinakothek in München zeigt ihn frontal von vorn, mit lockigem Haar und im pelzbesetzen Mantel. Für die Betrachter heute ein ganz normales Porträt:

1 OT Maaz – Dürer

Wenn Albrecht Dürer sich … malt wie den Salvator Mundi, den Erretter der Welt, wie Christus, dann ist es ein Bild, was damals sicher verstörend war, weil das ein Anspruch des Menschen auf die göttliche Rolle war. Wenn wir das heute anschauen, sagen wir, so what? Die Bezugsgrößen haben sich völlig verändert. 

ERZÄHLERIN

Sagt der Kunsthistoriker Bernhard Maaz, Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. [bitte so sprechen, dass man nach dem Namen schneiden könnte – für den Fall einer Wiederholung nach Verrentung...]

Künstler galten zu Dürers Zeiten als Handwerker. Das christusgleiche Selbstporträt steht für seinen lebenslangen Kampf um Anerkennung – für sich persönlich als schöpferisch tätiger Künstler, der auch entsprechend bezahlt werden wollte, aber auch für die Anerkennung der Malerei und – allgemeiner – der Kunst als geistige, schöpferische Tätigkeit, die über das Bedecken von Leinwand mit Farbe weit hinausgeht. Mit seinem provokanten Selbstbildnis hat Dürer zu dieser heute selbstverständlichen Auffassung beigetragen, seine Provokation hatte Erfolg.

Wie schnell eine provokante Grenzüberschreitung in den Kanon der Kunst aufsteigen kann, zeigt das Beispiel Damien Hirst - 

2 OT Maaz - Totenschädel

..., der einen Schädel hernimmt und den dann mit Diamanten beklebt und damit den Tod zu einer Zierde, zu einem Schmuckstück macht, der die Werte umkehrt und der richtiggehend provoziert, indem er ein Artefakt und einen menschlichen Überrest miteinander kombiniert und das verstört. 

ERZÄHLER

Und ein drittes Beispiel: Im Jahr 2000 ließ Christoph Schlingensief in Wien einen Container aufstellen, in dem mehrere Asylbewerber zusammenlebten. In Anlehnung an das Fernsehformat „Big Brother“ wurden Bilder aus dem Inneren per Kamera auf eine öffentliche Webseite übertragen, jeden Tag kam ein Gast zu Besuch, darunter etwa Gregor Gysi, Elfriede Jelinek oder Josef Bierbichler. Wie in der TV-Show wurde zudem täglich ein Asylbewerber aus dem Container herausgewählt – aber nicht nur wie im Fernseh-Vorbild aus dem Spiel und der WG, sondern aus dem Land. Die Abstimmung erfolgte öffentlich auf der Webseite www.ausländerraus.at 

ERZÄHLERIN

Schlingensief wollte mit seinem Kunstprojekt auf die grassierende Fremdenfeindlichkeit in Österreich aufmerksam machen. Kurz zuvor war die FPÖ unter dem Rechtsaußen-Politiker Jörg Haider in den Nationalrat gewählt worden. Zugleich stellte der Künstler das Fernsehformat Big Brother in Frage.

ERZÄHLER

Die Aktion löste Kritik aus. Darf man Menschen in einer Notsituation für eine Kunstaktion „benutzen“, auch wenn man so auf ihre Not und bestehende Ungerechtigkeit aufmerksam machen will? Provokationskunst hat selten ein Happy End. Sie legt den Finger in die Wunden der Gesellschaft, sie lenkt die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Thema und löst im besten Fall Debatten aus. Dabei produziert sie ihrerseits auch Widersprüche.

3 OT Maaz - verunsichern

Das gehört auch zu den Rezepten des Provokateurs: zu verunsichern und eben nicht lineare Aussagen, eindeutige oder gar im mathematischen Sinne eineindeutige Aussagen zu treffen, die so rum und so rum gewendet, immer dasselbe sichere Wissen transportieren.

ERZÄHLERIN

Natürlich kann eine Kunstaktion keine Grundsatzdebatte lösen. Aber sie kann ein Thema anders darstellen als es journalistische oder wissenschaftliche Texte vermögen. 

Musik 4

"Apartment" - Künstler: Raffertie - Album: The Substance (Original Motion Picture Score) - Komponist: Benjamin Stefanski - Länge: 0'24

ERZÄHLERIN

Kunst – und provokante Kunst allemal – rührt an die Gefühle der Menschen. Die Vorstellung, dass eine fremde Öffentlichkeit per Mausklick darüber bestimmen kann, ob jemand drinnen oder draußen ist, ob er Asyl bekommt oder nicht, berührt auf andere Art, als die Rede eines Politikers oder die Statistiken einer Wirtschaftswissenschaftlerin.

Musik 5

"Grey" - "Grey" - Künstler und Komponisten: Loscil & Lawrence English - Album: Colours of Air - Länge: 0'34

ERZÄHLER

Provokante Kunst fordert den Betrachter heraus, bestehende Normen und Denkweisen zu hinterfragen. Die Konfrontation mit unbequemen Themen kann neue Perspektiven eröffnen und gesellschaftliche Veränderungen anstoßen. Provokation in der Kunst ist ein Mittel, um Aufmerksamkeit zu erregen, Tabus zu brechen und das Bewusstsein für aktuelle, oft unbequeme Themen zu schärfen. Damit erfüllt sie eine wichtige gesellschaftliche Funktion.

4 OT Maaz – Grenzüberschreitung

Bei allen Provokationen geht es immer wieder darum, Grenzen weiter hinauszuschieben, die Grenzen des Zeigbaren, des Sagbaren und damit eigentlich des Denkbaren. Und deswegen gehört Provokation letztendlich auch zu unserer demokratischen Gesellschaft. Ich glaube, dass das ein ganz wichtiger Aspekt ist. Wir brauchen ja nur einmal auf den Stellenwert von Pussy Riot in Russland zu schauen, um zu verstehen, dass es auch ganz anders sein kann.

ERZÄHLERIN

2012. Auftritt des Performancekollektivs Pussy Riot in der Christ-Erlöser-Kathedrale, dem zentralen Gotteshaus der russisch-orthodoxen Kirche in Moskau. Die durchwegs weiblichen Mitglieder der Gruppe treffen sich zu einem lautstarken „Punk-Gebet“. Mit ihren Songs protestieren sie gegen Kirche und Staat zugleich, gegen die ihrer Meinung nach frauenfeindliche Politik Russlands und ein von der Kirche gefordertes Abtreibungsverbot. 

ERZÄHLER

Die Strafen waren hart, drei der Künstlerinnen kamen ins Gefängnis bzw. ins Straflager. Dass Pussy Riot mit ihrer Aktion die Grenzen des Sagbaren in Russland dauerhaft verschoben hätten, kann man nicht behaupten. Andererseits erhielt die Aktion international enorm viel Aufmerksamkeit, lenkte den Blick also wie geplant tatsächlich auf die angeprangerten Missstände.

ERZÄHLERIN

Der russische Künstler Pyotr Pavlensky reagierte auf die harten Strafen mit einer weiteren Provokation: Er ließ sich die Lippen zunähen. Ein in seiner Klarheit und Konsequenz kaum zu überbietendes Bild. Die Aktion war ein stummer, aber im übertragenen Sinn auch „lauter“, das heißt äußerst medienwirksamer Protest gegen die Unmöglichkeit der freien Meinungsäußerung in Russland.

5 OT Maaz – Malkowski

Rainer Malkowski, ein zauberhafter Dichter, hat einmal diesen wunderbaren Satz geprägt: Was niemand hören will, das soll man besonders laut sagen. Und das ist … eine Aussage über die Funktion von Reibung in der Gesellschaft.

ERZÄHLER

Doch wie gesagt: Nicht jede Gesellschaft lässt eine solche Reibung zu. Um sich vor der russischen Staatsgewalt zu schützen, leben sowohl die Mitglieder von Pussy Riot als auch Pavlensky mittlerweile im Exil.

ERZÄHLERIN

Künstlerische Provokationen sind nichts Neues. Viele der heutigen Ikonen der Kunstgeschichte wurden zur Zeit ihrer Entstehung als Provokation empfunden. Weil sich mit jeder neuen Provokation die Grenzen des Zeigbaren aber immer weiter verschoben haben, echauffiert sich heute niemand mehr über die Skandalbilder von einst. Beispiel Nacktheit:

Musik 6

"Night Thoughts" - Album: A Vision in Blakelight (feat. John Medeski, Kenny Wollensen, Carol Emanuel, Trevor Dunn, Joey Baron, Cyro Baptista & Jack Huston) - Komponist: John Zorn - Länge: 0'54

ERZÄHLER

Der „Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch aus dem 15. Jahrhundert kommt wie eine Werbung für Urlaub im Nudisten-Camp daher: In einer grünen Landschaft voller Seen und Obstbäume tummeln sich hunderte Menschen, splitterfasernackt reiten, schwimmen und tanzen sie miteinander, füttern sich gegenseitig mit großen roten Beeren oder üben sich im Synchron-Handstand. Es scheint fast, als habe sich der Maler über die christliche Idee des Paradieses lustig gemacht. Zumindest der Mann, der einem anderen Mann einen Blumenstrauß ins Popoloch steckt, dürfte rund ums Jahr 1500 auf den einen oder anderen Betrachter leicht irritierend gewirkt haben.

ERZÄHLERIN

Heute finden das die meisten Menschen wohl einfach eine lustige Idee. Ob ein Kunstwerk provoziert oder nicht hat mit den jeweiligen Regeln der Zeit, den Normen und Werten einer Gesellschaft zu tun. Provokationen verlaufen deshalb in Wellen. Tizians splitternackte „Venus von Urbino“ erregte im Jahr ihrer Entstehung 1538 offenbar wenig Anstoß. Wohl aber in München 350 Jahre später: In Deutschland sollte um 1900 die sogenannte „Lex Heinze“ für Zucht und Ordnung sorgen, angeblich   „unsittliche“ Darstellungen und Handlungen in Theater und bildender Kunst wurden komplett verboten.

6 OT Maaz – Lex Heinze

Das war ein wichtiges Gesetz im wilhelminischen Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, bei dem die schönsten Tizians inkriminiert wurden, weil da jemand nackt herumliegt. Man durfte also schon im Schaufenster die Postkarte eines Tizian nicht mehr zeigen.

ERZÄHLERIN

Die jüngere Kunstgeschichte zeigt, wie schnell das Provokante eines Werks verpuffen kann: Georg Baselitz‘ „Große Nacht im Eimer“ von 1963 zeigt einen jungen, eher schmächtigen Mann mit einem überdimensionierten Phallus in der Hand. Das Bild wurde direkt nach seiner Entstehung wegen Unsittlichkeit beschlagnahmt.

7 OT Maaz – Baselitz

Ein fantastisches, vitales Bild, ein Hymnus auf die Selbstbefriedigung. Da würde man heute sagen, ja, wo ist denn hier das Problem? Das kann nicht mehr provozieren. Vor hundert Jahren galt diese Tätigkeit als hirnzersetzend, heute ist sie ein völlig etabliertes Spiel.

Musik 7

"Magenta" - Künstler und Komponisten: Loscil & Lawrence English - Album: Colours of Air - Länge: 0#52

ERZÄHLER

Über Nacktheit, Sexualität oder auch Onanie regt sich heute niemand mehr auf. Auftrag erfüllt könnte man also sagen, die Grenzen des Zeigbaren und damit der Kunst wurden erweitert. Doch Vorsicht: Provokation ist ein Mittel zum Zweck. Sie ist ein künstlerisches Werkzeug, das eigentliche Thema ist ein ganz anderes. Die Masturbation in Baselitz‘ Großer Nacht im Eimer hat eine politische Komponente: sein Bild ist die Entzauberung eines männlichen Größenwahns und konnte im Entstehungsjahr 1963 gelesen werden als Kritik oder besser Entblößung der Machtfantasien der Nazis. Es geht hier weniger um Nacktheit, sondern um Politik, Geschichtsaufarbeitung und gescheiterte Männlichkeits- und Machtfantasien.

Musik 8

"Stones Throw" - Künstler: Lusine Icl - Album: Language Barrier - Länge: 0'40 

ERZÄHLERIN

Eine Provokation ganz anderer Art lieferte der österreichische Aktionskünstler Günter Brus. 1965 spazierte er von oben bis unten mit weißer Farbe bemalt durch Wien: Haare, Gesicht, Anzug Schuhe: alles weiß. Nur in seiner Körpermitte verlief vom Scheitel bis zur Sohle eine schwarze zackige Linie. Ein Reißverschluss? Stacheldraht? Eine Wunde? Die Passanten waren verstört. Für Brus war es eine Erweiterung der Malerei, er wollte weg vom rechteckigen, flachen Bild an der Wand. 

ERZÄHLER

Die provokante Grenzverschiebung bezog sich hier also auf den Rahmen der Kunst. Brus‘ Aktion war eine logische Folge eines neuen Selbstverständnisses: Wenn der Künstler als Individuum behandelt wird und seine Kunst Ausdruck seiner Persönlichkeit ist, dann liegt für ihn nichts näher als den eigenen Körper zur Spielwiese dieser Kunst zu machen.

8 OT Maaz - Kritiker

Die Kunst war über Jahrhunderte affirmativ, Künstler waren als Hofkünstler oder für die Kirche tätig, sie dienten also, und mit der Entstehung des freien, des modernen Künstlers entsteht eine Opposition zur Gesellschaft und Künstler müssen sich untereinander abgrenzen. Sie müssen ihr Profil zeigen, aber sie wollen sich auch verstehen als Kritiker an der Gesellschaft. 

ERZÄHLER

Bei einer Performance 1968 an der Wiener Universität stieg Günter Brus aufs Rednerpult, defäkierte, onanierte und sang dabei die österreichische Nationalhymne. Als „Uni-Ferkelei“ ging die Aktion in die Kunstgeschichte ein. Er habe die Gesellschaft damit aus ihrer Nachkriegslethargie holen wollen, sagt Brus später. Brus wurde wegen "Verletzung der Sittlichkeit und Schamhaftigkeit" verurteilt und flüchtete vor einer Haftstrafe ins Exil nach Berlin.

Musik 9

"Wish You Were Husker Du" - Album: Diaz (Un film di Daniele Vicari) [feat. Il balanescu quartet] - Komponist und Künstler: Teho Teardo - Länge: 0'52

ERZÄHLER

Wegen einer besonders krassen Provokation sehr früh sehr berühmt wurde etwa der Amerikaner Chris Burden. 1971 ließ Burden einen Freund auf sich schießen: in den Oberarm. Er wollte seine Shooting-Aktion als Kommentar auf den Vietnamkrieg verstanden wissen, außerdem spielte er damit auf die übermäßige Präsenz von Erschießungsszenen in der amerikanischen Fernsehkultur an. Statt auf dem Bildschirm inszenierter er eine – mehr oder weniger – reale Erschießungsszene. Zeugen und vor allem er selbst konnten so spüren, wie es sich anfühlt, beim Schuss auf einen Menschen dabei zu sein. Hier liegt der Schlüssel der Provokationskunst: Betrachter, Anwesende, Zeugen werden zum Teil des Kunstwerkes. 

10 OT Maaz – Abramović 

Es gab eine Arbeit von Marina Abramowitsch, da standen ein nackter Mann und eine nackte Frau in einer Tür, und das Publikum musste zwischen ihnen gleichsam hautnah durchschlüpfen. Das ist eine klare Provokation des Publikums.

ERZÄHLERIN

Jeder einzelne Besucher dieser Ausstellungseröffnung 1977 in Bologna war mit der Nacktheit der Türsteher konfrontiert, kein Einlass ohne Körperkontakt. Auch wenn sich die meisten nichts anmerken ließen: irgendetwas muss das in den Besuchern ausgelöst haben. Zumindest mussten sie sich entscheiden, wem der beiden Nackten sie sich beim Durchschlüpfen zuwenden wollten: der Künstlerin Marina Abramović oder ihrem Partner Ulay. Provokationskunst verwandelt die passiven Kunstbetrachter in aktive Beteiligte. 

11 OT Maaz - Betrachter

Wir, wir als die Betrachterinnen und Betrachter, die sich einerseits fragen können, ist das Kunst, und andererseits gefragt sind: und was macht das mit mir? Kann ich es aushalten? Will ich das aushalten? Reizt mich das, erregt mich das, bestürzt mich das, beunruhigt mich das? Das Ziel der Provokation ist eigentlich immer die Hinterfragung unserer kanonischen Werte, unserer gesellschaftlichen Werte, unserer sozialen Bindungen und aber auch Loslösung.

ERZÄHLER

Bereits ein paar Jahre zuvor hatte sich Marina Abramović einer Gruppe von Galeriebesuchern in Neapel ausgesetzt. Die Künstlerin stand dabei still und passiv in einem Raum, auf einem Tisch neben ihr 72 Gegenstände, darunter eine Rose, eine Feder, Parfüm, Honig, Brot, Trauben, Wein, Scheren, ein Skalpell, Nägel, eine Metallstange und ein geladener Revolver und ein Zettel:

Musik 10

"disintegration" - Komponist: Ryuichi Sakamoto ALBUM: async - Länge: 0'23

ZITATORIN

Anweisungen.

Auf dem Tisch sind 72 Gegenstände, die man an mir, wie gewünscht, anwenden kann.

Aufführung.

Ich bin das Objekt.

Während dieses Zeitraums übernehme ich die volle Verantwortung

Dauer: 6 Stunden (20 bis 2 Uhr).

Musik 11

"Avalanche" - Künstler udn Komponisten: Monolake & Robert Henke - Album: Silence Länge: 0'42

ERZÄHLER

Es war eine Art Test: Was würden die Menschen tun? Wie weit würden sie gehen? 

ERZÄHLERIN

Die gute Nachricht: Marina Abramovic hat überlebt. Doch die Atmosphäre wurde schnell aggressiv. Man schnitt ihr die Kleider vom Leib. Man berührte sie intim. Rasierklingen kamen zum Einsatz, es floss Blut. Zugleich bildete sich im Publikum eine Gruppe, die die willenlose Künstlerin zu beschützen versuchte. Als ihr jemand die geladene Waffe an den Kopf hielt, brach zwischen den Publikumsgruppen ein Kampf aus.

ERZÄHLER

Niemand im Publikum blieb unbeteiligt, auf die eine oder andere Art mussten sich alle positionieren.

12 OT Maaz - Probe

Der Provokateur ist immer jemand, der die Gesellschaft auf die Probe stellt, der Opponent, der auf dem Wege der Negation vielleicht das Gesellschaftsbild spiegelt.

ERZÄHLER

Die Provokation bestand in der absoluten Willenlosigkeit der Künstlerin. Allein ihre Passivität rief die Reaktionen hervor. 

ERZÄHLERIN

Alles andere als willenlos waren die feministischen Aktionen von Valie Export. Nach Tausenden Jahren Kunstgeschichte, in denen Frauenkörper fast ausschließlich von Männern gemalt und geformt worden waren, setzte die österreichische Künstlerin ihren Körper nun selbst in Szene. Bei einer ihrer bekanntesten Performances 1968 am Münchner Stachus trug sie über ihren nackten Brüsten einen Kasten mit zwei Öffnungen. Per Megafon wurde zum Besuch des Tapp- und Tastkinos eigeladen: Interessierte hatten dann 12 Sekunden lang Zeit, ihre Hände durch die Öffnungen zu strecken und die nackten Brüste der Künstlerin zu berühren.

ERZÄHLER

Was das mit Emanzipation zu tun hat? Ohne ihren weiblichen Körper zu verleugnen, entschied die Künstlerin hier selbst darüber, was Männer mit ihrem Körper machen. Export bezeichnete die Aktion als erweitertes Kino, das Filmzuschauer mit dem konfrontiert, was im abgedunkelten Saal als normal angesehen wird: der voyeuristische Blick auf Frauenkörper.

ERZÄHLERIN

Natürlich lösten Aktionen wie diese breites Medien-Echo, ja gar Skandale aus. Dabei ist es wichtig, zwischen Skandal und Provokation zu unterscheiden:

13 OT Maaz – Skandal

Die Provokation kann für sich bestehen. Der Skandal muss medial

ausgetragen werden, und ... der Skandal ist tragischerweise sehr

viel schneller als die Provokation. Will sagen, das flammt einmal auf, das

hält zwei Tage, das hält fünf Tage, das hält drei Wochen maximal. Aber dann

ist der Skandal durch - und die Provokation bleibt. 

Der Skandal bringt Provokationen ins gesellschaftliche Bewusstsein. Das ist seine positive Leistung. Er tendiert aber dazu, die Ursache und die Wirkung der Provokation durch Simplifizierung zu überrollen und unsichtbar zu machen.

ERZÄHLER

Der Skandal ist eine mögliche Reaktion auf eine Provokation – allerdings leider oft unter Missachtung ihrer Absichten. Die Medien – und damit auch ein Gros der Gesellschaft – sehen meist nur die Grenzüberschreitung an sich. Nach dem Warum, nach dem Anliegen der künstlerischen Arbeit wird kaum gefragt.

14 OT Maaz - Medien

Darin sehe ich auch eine große Gefahr, weil die Reflexion mehr sein muss als nur ein erstes Wahrnehmen und Aufschreien, sondern danach muss die Frage kommen: und warum macht sie das? Warum macht er das? Der Künstler - was soll das mit uns machen? Also was soll es auslösen und bewegen? Und da ist die Gefahr der sozialen Medien, in einer überhitzten Geschwindigkeit eine zu geringe intellektuelle Durchdringung von Kunst zu transportieren.

ERZÄHLERIN

Emanzipation, Sexualität, Politik, thematisch sind der Provokation keine Grenzen gesetzt. Die Kritik kann sich auch gegen den Kunstmarkt bzw. seine Kommerzialisierung richten: 1961 füllte der italienische Konzeptkünstler Piero Manzoni jeweils 30 Gramm seiner eigenen Fäkalien in 90 Dosen, verschloss sie geruchsfest und beklebte sie mit dreisprachigen Etiketten: “Merda d’artista – Artist’s Shit – Künstlerscheiße“. Dann verkaufte er die Dosen zum damals aktuellen Goldpreis. Ein krasses Beispiel für Konzeptkunst, bei der es weniger um das Kunstwerk an sich, sondern um die Idee dahinter geht, um Ironisierung etwa. 

ERZÄHLER

Über solche Aktionen können manche Menschen nur den Kopf schütteln. Sie sehen den Kunstwert nicht. Es ist ja auch nicht ganz einfach zu verstehen, warum jemand auf sich schießen lässt und noch weniger, was das mit Kunst zu tun hat. Kritisches Hinterfragen ist angebracht! Provokation allein macht noch keine Kunst. Die Provokation darf nie Selbstzweck werden, purer Effekt. Provokation ist immer nur ein Werkzeug, ein künstlerisches Mittel. Das eigentliche Thema ist ein anderes. Und natürlich hat Provokation auch Grenzen:

15 OT Maaz - Grenzen

Die Grenzen liegen da, wo die Kunstfreiheit endet und die Verletzung von Menschenrechten oder unseres Grundgesetzes einträte. Das ist tabu.

Musik 12

"Apartment" - Künstler: Raffertie - Album: The Substance (Original Motion Picture Score) - Komponist: Benjamin Stefanski - Länge: 0'08

ERZÄHLERIN

Tabubruch und Skandal sind fester Bestandteil moderner und zeitgenössischer Kunst. 

Musik 13

"Grey" - Künstler und Komponisten: Loscil & Lawrence English - Album: Colours of Air - Länge: 0'14

16 OT Maaz - Zukunft

Ich glaube, es wird immer wieder Provokateure geben. Es muss sie auch geben. Das ist Teil des demokratischen Kunstsystems. Wenn man Provokationen berechnen könnte, dann wären sie keine.

Musik 14

"Apartment" - Künstler: Raffertie - Album: The Substance (Original Motion Picture Score) - Komponist: Benjamin Stefanski - Länge: 0'20

ERZÄHLER

Der nächste Tabubruch wird kommen. Wünschenswert wäre allerdings, dass dann nicht nur alle aufgeregt „Skandal!“ schreien. Sondern dass irgendwer auch nach der tieferen Absicht des Provokateurs fragt.