Ein Schuh ist nicht einfach ein Schuh. Die anfĂ€ngliche Schutzfunktion, zu der man sich Gras und Rinde um die FĂŒĂe wickelte, wurde mit raffinierteren Aufgaben aufgeladen. Schuh erzĂ€hlt von Politik und Macht, von Wahn, Obsession und Erotik - er verlangt prĂ€zises Handwerk und ist skulpturales Bauwerk fĂŒr den FuĂ. Von Barbara Knopf
Ein Schuh ist nicht einfach ein Schuh. Die anfĂ€ngliche Schutzfunktion, zu der man sich Gras und Rinde um die FĂŒĂe wickelte, wurde mit raffinierteren Aufgaben aufgeladen. Schuh erzĂ€hlt von Politik und Macht, von Wahn, Obsession und Erotik - er verlangt prĂ€zises Handwerk und ist skulpturales Bauwerk fĂŒr den FuĂ. Von Barbara Knopf
Credits
Autorin dieser Folge: Barbara Knopf
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja BĂŒrkle, Friedrich Schloffer
Technik: Adele Messmer
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Isabella Belting, KunsthistorikerinÂ
Albert Bertl Kreca â âSchuh-Bertlâ
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Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZSPÂ Â
Der Schnabelschuh stammt jetzt aus dem Mittelalter, 12., 13. Jahrhundert. Der hat sich ĂŒbrigens sehr lange tatsĂ€chlich gehalten, immer wieder in verschiedenen Formen. Damals war noch nicht der Absatz das Dominante, sondern wirklich die Schuhspitze. Und die hat sich dann in einer Art verlĂ€ngert, die irgendwann natĂŒrlich nicht mehr von alleine stand, sondern ans Knie gebunden werden musste, damit der Herr ĂŒberhaupt mit diesen Schuhen laufen kann. Man hat es ernst genommen, weil es eben ein Symbol war fĂŒr jemanden, der nicht arbeiten muss. 0.32
ErzÀhlerin
So erzĂ€hlt es die Kunsthistorikerin Isabella Belting. Sie leitet die Sammlung Mode/Textilien im â derzeit geschlossenen â MĂŒnchner Stadtmuseum. These boots are made for walking? Ein sehr funktional gedachter Satz.Â
MUSIK 2 ( Diamonds (Bridgerton - Season Two) 1â05)
In Wirklichkeit betreten wir mit dem Schuh sofort symbolisches Terrain. Es geht um Status. Ansehen. Macht. Reichtum. Spiel. Erotik. Und um Wahn. Ein irrationaler Faktor lauert in diesen Objekten am unteren Ende des Körpers. All diese Schnallen und Schleifchen, das noppenhĂ€utige Krokodilleder, die pergamentene Schlangenhaut, der Samt, die Seide, der Lack, die hauchdĂŒnnen Riemchen ĂŒber all den Aussparungen fĂŒr die Haut, das nackte Fleisch, an Ferse, Fessel, Zehen oder anderen Wölbungen des FuĂes, geformt wie ein DekolletĂ©. Eine Spiegelung des Körpers eigentlich, ein Abbild en miniature.Â
2 ZSP:Â
Gerade bei den Damen im Barock und Rokoko fing es dann an, dass der Absatz in dieser ganz besonders eleganten, geschwungenen Form modern wurde. Das war dann eben auch ein Absatz, der in der Mitte schmal wird und nach unten ein bisschen breiter wird. Man kann sich fast vorstellen, dass das wie so ein kleiner Körper ist, der in der Korsage steckt. Man kann sagen, dass der FuĂ, der in diesen Schuh schlĂŒpft, wie der Körper ist, der in ein Kleid schlĂŒpft. Also der Absatz hat damit auch ein sehr erotisches Aussehen bekommen.
MUSIK 3 ( Eloise & Theo (âBridgertonâ â Season Two)Â
ErzÀhlerin
Der Schuh ist eine Skulptur, an deren Ausformungen seit Jahrtausenden gefeilt wird. Gesellschaftliche Vorstellungen lassen sich darin ablesen, Konstrukte von Schönheit, auch quĂ€lerische wie im MĂ€rchen, wo die bösen Stiefschwestern des armen Aschenputtels sich Ferse und Zehen abhieben, um in den anmutig kleinen Pantoffel zu passen und den Prinzen zu bekommen. Form Follows Gewohnheiten. Den wechselnden BedĂŒrfnissen einer Gesellschaft. So hatten Ritter, Reiter, in SĂ€nften Getragene oder FuĂgĂ€nger höchst unterschiedliche SchuhbedĂŒrfnisse. FĂŒr die Gegenwart mĂŒsste man hinzufĂŒgen: auch Radler, Bergsteiger, Sportler oder Astronauten. Eine RĂŒckwirkung auf die Form unserer FĂŒĂe blieb da nicht aus, schrieb der Architekt und Gesellschaftskritiker Adolf Loos aus Wien in seinen satirischen Essays Ornament & Verbrechen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts â der noch nichts wissen konnte von der modernen Schuhindustrie und ihren mannigfaltigen Produkten: Â
ZITAT:
âDie Zeiten Ă€ndern sich und wir Ă€ndern uns in ihnen. Und so tun es auch unsere FĂŒĂe. Bald werden sie klein, bald groĂ, bald spitz, bald breit. Und der Schuster macht nun bald groĂe, bald kleine, bald spitze, bald breite Schuhe. Das geht allerdings nicht so einfach. Von Saison zu Saison wechseln unsere FuĂformen nicht. Dazu braucht es Jahrhunderte oder zum Mindesten eines Menschenalters. (âŠ) Aber der Schuster muĂ sich streng an die jeweilige FuĂform halten. Will er kleine Schuhe einfĂŒhren, so muss er geduldig warten, bis das groĂfĂŒĂige Geschlecht abgestorben ist.â (Ornament und Verbrechen, Metro Verlag, Seite 29)Â
MUSIK 4 ( Jane Monheit: A Shine On Your Shoes 0â10)
ErzÀhlerin
Genau das ist der Zwiespalt: Geht es nach der konkreten Anlage des FuĂes? Oder nach einer abstrakten Idee? So, wie erst ein linker und ein rechter Schuh ein Paar ergeben â und ein FuĂ trotzdem nie dem anderen gleicht, so liegt in den Schuhen selbst eine Ambivalenz: Sind sie doch einerseits phantastische Schöpfungen -andererseits bodenstĂ€ndiges Handwerk. Selten beides gleichzeitig.
ATMO SchleifenÂ
3 ZSPÂ
Da mache ich jetzt gerade einen Schuh, der asymmetrisch ist, also fuĂkonform ist. Das ist eigentlich auch eine alte Technik. Und die meisten Schuhe sind heute nicht mehr fuĂkomform. Also die schaden eigentlich dem FuĂ.Â
MUSIK 5 ( G.Rag y Los Hermanos Patchekos: Ein Mann sieht Sand 0â40)
ErzÀhlerin
Besuch beim âSchuh-Bertlâ in MĂŒnchen. Der Schuh Bertl hat eine gewisse Prominenz, weil er dem bayerischen Papst Benedikt seine roten Schuhe angefertigt hat. Auch der britische König bekam, als er noch Prinz Charles war, bayerische Haferlschuhe geschenkt aus Bertls Werkstatt, in der der Himmel voller Leisten hĂ€ngt.Â
ATMO SchleifenÂ
ErzÀhlerin
Wenn man mit Albert Bertl Kreca, dem Schuster und Schuhmacher in der schwarzen Cordhose spricht, inmitten der alten HĂ€mmer, Zangen, den Ambossen und NĂ€hmaschinen, einem Chaos, in dem sich der groĂe Mann schlafwandlerisch bewegt, bekommt man eine Vorstellung von der Sorgfalt und der Handwerkskunst, mit der aus einem StĂŒck Leder und einer Sohle ein schöner, haltbarer Schuh entsteht, an einer NĂ€hmaschine, angetrieben von Hand und FuĂ:Â
ATMO NĂ€hmaschineÂ
4 ZSPÂ
Ich mache Schuhe seit 40 Jahren. Meine SpezialitĂ€t sind genĂ€hte Schuhe, also ich mache rahmen- und zwiegenĂ€hte Schuhe. Ein zwiegenĂ€hter Schuh, sagt ja der Name schon, ist zweifach genĂ€ht. Ein rahmengenĂ€hter ist eigentlich auch zweifach genĂ€ht, aber du siehst nur eine Naht, also die Naht hier. Ein guter Schuh ist fĂŒr mich, so ist auch meine Philosophie, ein Schuh, der so regional wie möglich gebaut wird. Langlebig ist, reparabel ist. Das ist ein guter Schuh, der gut passt. Und immer noch aus Leder. Ganz klassisch. Aber reparabel sein muss.
MUSIK 6 ( Achim Zweschper: Walking Tension 0â55)
ErzÀhlerin
Wie wird nun ein Schuh draus? Am Anfang, vor Zehntausenden von Jahren, in der spĂ€ten Steinzeit, wickelte man sich Gras, Schnur oder Fell um die FĂŒĂe, zum Schutz. Lange gingen die meisten barfuĂ, der Schuh war ein Luxusobjekt. Die Sandale gilt als die Ă€lteste erhaltene Schuhform, ihre BlĂŒtezeit lag in der griechischen Antike, aber mit der dĂŒnnen flachen Sohle und einem einfachen Riemen hat sich dieses Urmodell bis heute als Flip-Flop erhalten. Der reine Schutz wurde schnell zum Schmuck und die FuĂbekleidung wechselte ihr Aussehen entsprechend nach den jeweiligen kulturellen EinflĂŒssen der Ăgypter, Assyrer, Phönizier, Perser oder HebrĂ€er. Mal bog man die Sohle vorne hoch zum Schutz der Zehen, mal schnĂŒrte man sich Riemen die Wade entlang, mal bestickte man die neuen Schlupfschuhe, die Pantoffeln, mit denen sich in der westlichen Wahrnehmung der Reiz des Orientalismus verband. Halbschuhe boten Halt. Stiefel kamen in Mode, Postillonstiefel, Stulpenstiefel und natĂŒrlich Reiterstiefel. An ihnen lĂ€sst sich gut zeigen, wie sich in einer offenbar schon frĂŒh vernetzten Welt kulturelle Erfindungen und EinflĂŒsse kreuzten und wie sie weiterentwickelt wurden. Als Reiter in Persien in ihren SteigbĂŒgeln Halt suchten, wurde eine Form entwickelt, um nicht abzurutschen: eine Art Absatz. Und der fand bald reiĂenden Absatz am französischen Hofe, erklĂ€rt Isabella Belting:
5 ZSPÂ
Im Rokoko ist es so, und davor im Barock, dass tatsĂ€chlich der Absatz aufkommt, der die MĂ€nner erhöhen soll ĂŒber die andere Gesellschaft. Dieser Absatz hat bei MĂ€nnern ein gewisses Stolzieren bewirkt. Und so hat sich das dann langsam auch in die Mode entwickelt, dass der Herr bei Hofe â und die Herrscher â gerne AbsĂ€tze getragen haben. Und wenn es der Herrscher direkt war, dann eben auch mit rotem Absatz. Rot war immer ein Zeichen sozusagen der ganz oberen Hierarchie und der Monarchie.
ErzÀhlerin
Nach der Französischen Revolution war die Farbe Rot mit dem Blut der Guillotinen verknĂŒpft, und die Epoche der hohen Schuhe fĂŒr MĂ€nner, Herrscher wie BĂŒrger, war ein fĂŒr alle Mal passĂ©. Bis heute eigentlich. Mal abgesehen von einigen Dragqueens oder auch experimentierfreudigen MĂ€nnern. Und jenen die lieber versteckte AbsĂ€tze im Innenschuh tragen, um gröĂer zu wirken. Aber wie das immer so ist in der Mode und eben auch bei der FuĂbekleidung: nichts verliert sich ganz. Auch das Rot ist wieder aufgetaucht. Als signalrote Schuhsohle in den Kreationen von Christian Louboutin. Sie kommunizieren: Ich bin erotisch, begehrenswert und teuer. Ein absolutes Statussymbol. Der Schnabel ist sozusagen auf die Sohle gewandert.
MUSIK 7 (Lady Gaga: YoĂŒ And I (You And I) 0â15
MUSIK 8 (Sign Of The Times (stripped)(âBridgertonâ â Season Two) 1â10)
ErzÀhlerin
Zeig mir Deinen Schuh, und ich sag Dir, wer Du bist, was Du zĂ€hlst und was Du tust, ob Du Bauer bist oder Arbeiter, Handwerker, Patrizier oder Adeliger. Selbst auf der BĂŒhne steckte jeder Rollentypus im eigenen Schuhtyp: Der Komödiant trug den sogenannten Soccus, der tatsĂ€chlich aussah wie eine heruntergerollte Socke, wĂ€hrend der Tragödiendarsteller seine Verse auf hohen Kothurnen deklamierte. Heute lautet die Devise: Anything goes -und man wundert sich, was alles geht. Die britische Designerin Vivienne Westwood kreierte so mörderisch hohe Plateauschuhe, dass das Supermodel Naomi Campbell auf dem Catwalk herabstĂŒrzte. Und Lady Gaga, die auf ebensolchen Plateauhufen auftrat, aber ohne hinteren Absatz, die Ferse also nicht abgestĂŒtzt, musste ĂŒber Wadenmuskeln verfĂŒgen wie ein bayerischer Schuhplattler. Letztlich aber sind auch diese Plateau-Gebilde nur eine Variation bereits vergangener âExtremâmode wie sie im Venedig des 16. Jahrhunderts aufkam, erlĂ€utert die Kunsthistorikerin Isabella Belting:
6 ZSPÂ
Es gibt die Chopinen oder Zoccoli aus Venedig. Man sieht, dass der Absatz also wirklich schon eine Höhe hat. Bei diesem Modell etwa 30 Zentimeter. Diese AbsĂ€tze waren oft aus Holz oder Kork und dann mit Leder praktisch umkleidet und auch schön geschmĂŒckt und bedruckt und bestickt, je nachdem. Und oben schlĂŒpfte man einfach nur ganz oben in so eine Art Lasche wie in einem Pantoffel. Die Damen in Venedig, allen voran die Kurtisanen, sind mit denen durch Venedig stolziert. NatĂŒrlich am Arm einer Zofe, weil alleine konnte man damit nicht laufen. Man ist aufgefallen; man hat natĂŒrlich auch durch die Höhe von dem Absatz sich ein bisschen von dem StraĂenschmutz geschĂŒtztâŠNachttöpfe, Pferdedreck, aller Schmutz landete auf der StraĂe. Es hat sich eine ganze Weile erhalten, weil es eben auch ein Machtsymbol war, sich ĂŒber die anderen zu erheben. Â
ErzÀhlerin
Immer neue Kaprizen, EntwĂŒrfe, Zumutungen, Kunstwerke. Designer meiĂeln millimetergenau an ein paar Quadratzentimeter Raum. Andere schaffen fĂŒr den FuĂ ein Bett. Skulpteure die einen, Handwerker die anderen.Â
MUSIK 9 ( G.Rag y Los Hermanos Patchekos: Jazz di Monaco 0â15)Â
In jedem handwerklich gearbeiteten Schuh steckt ein Universum des Wissens. Der Schuh Bertl hat vier BĂŒcher geschriebenen, das ĂŒber Haferlschuhe gilt als Standardwerk. Und er zieht alte BĂŒcher zu Rate, 2000 hat er gesammelt:Â Â
9 ZSP (endet mit Atmo/ BlĂ€ttern zum DrĂŒbergehen, hinten spielen mit dieser sehr kurzen Atmo, er ist noch mal zu hören): Original 1763, so wie das das Original von1604 ist oder diese BĂŒcher fĂŒnfzehnhundertnochwas . Da ist die Enzyklopodie von Diderot, das ist Band C, Cordonnier⊠also Schuster im Französischen heiĂt Cordonnier.Â
 BLĂTTERN noch mal kurz Wort
ErzÀhlerin
Die EnzyklopĂ€die des französischen Universalgelehrten Denis Diderot, der auch dem Schuster, dem Cordonnier, eine Seite darin gewidmet hat. Der Bertl schlĂ€gt sie auf. Originalausgabe, 18. Jahrhundert, schwerer Ledereinband, goldgeprĂ€gtes Muster, altes Papier. Eine Zukunft sieht Albert Bertl Kreca nicht fĂŒr seinen Beruf:Â
10 ZSPÂ
Ich glaube das Handwerk, das Schusterhandwerk wird aussterben. Es wird immer noch ein paar Schuster geben, so Edelschuster. Wenn du im Internet schaust, da gibt es einige, dann kosten auch die Schuhe 3,5,4.000 Euro. Die versuchen, FuĂ zu fassen und Business zu machen. Aber allgemein, der Schuster wird aus unserem Stadtbild verschwinden.
MUSIK 10 ( Andreas Suttner: Walking 1 0â35)
ErzĂ€hlerinÂ
In den HĂ€nden eines Schusters offenbart ein Schuh nicht nur seine StabilitĂ€t oder Schönheit, sondern auch seine FragilitĂ€t. Die Lederzunge kann ihm arg beansprucht raushĂ€ngen. Abgetreten und ramponiert ist er. Löchrig vielleicht. Die Ăsen fĂŒr die BĂ€nder zerrissen, die Riemchen baumelnd. Das Leben hat ihm mitgespielt. Ob sein Lebenszyklus noch mal verlĂ€ngert wird, hĂ€ngt von der pflegenden Liebe seines Besitzers und vom Material ab.Â
Apropos Material: Verlagert in BilliglohnlĂ€nder in Asien, unter Missachtung von Arbeitsschutz und Umweltbelastungen, kommen in der globalen Schuhherstellung immer wieder hochgiftige Chemikalien zum Einsatz â zum Beispiel beim Gerben von Leder. Arbeiter, hĂ€ufig auch Kinder, sind diesen in schuhproduzierenden LĂ€ndern wie Indien oft ohne Schutz ausgesetzt. Nachhaltige Produktion in Europa oder gar der Region hilft da nur zum Teil. Pflanzlich gegerbtes Leder und Materialien wie Naturkautschuk, Fasern von Bananen, Kaktus oder Ananas, können die Schwemme von Billigprodukten nicht ausgleichen.Â
MUSIK 11 ( Nancy Sinatra: These Boots Are Made For Walking 0â20)
MUSIK 12 (Son Lux: Switch Shoes To The Wrong Fell 1â00)
ErzÀhlerin
Das ist die ökologische Seite des Themas. Und dann gibt es noch die psychologischen Deutungen. Schuhe entfesseln Phantasien, kokettieren mit SchlĂŒsselreizen, in vielen Schattierungen, vom Puderquasten-Pantöffelchen der 1950er Jahre bis zu den SchnĂŒrungen und Latexinszenierungen und auf die Spitze getriebenen Requisiten der Fetischszene. Ein Spiel um sexuelle Dominanz oder Unterwerfung. Manche Menschen erregen sich am Geruch getragener Damenschuhe. Der Ăbergang vom Fetisch zum modischen Accessoire ist flieĂend. Modedesigner frönen ihm, KĂŒnstler setzen ihn visuell in Szene. Helmut Newtons âNudesâ, die nackten Frauen in High Heels, Rudolf Schlichters Frauenakte in hochgeknöpften Stiefeln. Der Maler der Neuen Sachlichkeit soll seine Frau und Muse âStiefelchenâ genannt haben.
Was fĂŒr eine Freiheit, Schuhe zu tragen, wie man will! MĂ€nner, Frauen, ob hetero oder queer, cis, nonbinĂ€r oder trans, können hochhackige Highheels tragen oder Sandalen, deren FuĂbett aussieht wie ein trockengelegtes Schlammflussbett. Und in beiden sexy aussehen. Oder eben nicht. Ganz nach Belieben. An der Absatzhöhe und dem Klackklack der Stilettos muss sich jedenfalls kein Emanzipationsstreit mehr entzĂŒnden. Und kollektive ZwĂ€nge bleiben hoffentlich historisch.
MUSIK 13 ( Michi Koerner: Glassy Drop 0â15)
12 ZSP
Also fĂŒr uns jetzt aus westlichem Blick findet man das natĂŒrlich ganz schrecklich, so einen winzigen kleinen Schuh in der Hand zu haben, wie wir hier sehen, der nicht mal die LĂ€nge einer HandflĂ€che hat â und da passte der FuĂ rein, er passte natĂŒrlich nicht rein, weil auch der FuĂ von Chinesinnen von Natur aus nicht so klein war, das ist natĂŒrlich ein völlig verkrĂŒppelter FuĂ. Dass ein Schuh sozusagen eine Art ist, jemanden zu unterwerfen oder zu knechten, sieht man ja dann an diesen doch ja sehr gruseligen Lotus-Schuhen.
MUSIK 14 ( Michi Koerner: Glassy Drop 0â30)
ErzÀhlerin
Isabella Belting hĂ€lt eine Art SeidentĂ€schchen in der Hand, mit denen die Chinesinnen, denen die FĂŒĂe gebunden wurden, in kleinen Schritten tippeln konnten. Sie kaschierten eine brutale Methode, die bis ins 20. Jahrhundert hinein noch praktiziert wurde: Das Binden der FĂŒĂe war jahrhundertelang ein Ritual der gehobenen Gesellschaft in China. Eine Demonstration von Wohlstand, eine Frau mit gebundenen FĂŒĂen musste nicht arbeiten -sie konnte ja kaum gehen.
13 ZSPÂ Â
Es ist tatsĂ€chlich eine Folter, wenn man sich das durchliest. Die 4 Zehen, wurden gebrochen und nach innen gebunden, und das einzige, das noch als stabiles Glied da war, war nur der groĂe Zeh. Und die wurden extrem gebunden und geschnĂŒrt, es muss sehr, sehr schmerzhaft gewesen sein. Aber die MĂŒtter haben es im besten Glauben gemacht, weil sie dachten, ihre Töchter haben dann ein besseres Leben, ein gutes Leben - also ausgewickelt hat man den FuĂ nie gezeigt.Â
ErzÀhlerin
Schuhe sind Lebensbegleiter. Wenn es gut lĂ€uft, baut man eine Beziehung zu ihnen auf. Sieht man irgendwo Schuhe, die liegengeblieben sind, ist das eine Irritation, die sofort Gedanken in Gang setzt, wem diese Schuhe wohl gehören mögen und warum sie da alleine stehen. Noch schlimmer, wenn es nur ein einzelner ist.Â
MUSIK 15 ( Giora Feidman: Main shikhelekh varfoylt â Mkh tsudieygelekh 0â45)
Und geradezu erschĂŒtternd ist der Anblick jener Fotodokumente auf denen haufenweise zurĂŒckgebliebene Kinderschuhe zu sehen sind. Sie gehörten jĂŒdischen Kindern, die im KZ Auschwitz ermordet wurden. Hier zeigt sich am deutlichsten, dass der Schuh ein Gegenstand ist, der nahezu als ein Teil des Körpers empfunden werden kann.Â
Die Geschichte einer Gesellschaft lĂ€sst sich an ihrer FuĂbekleidung erzĂ€hlen. Soziale Entwicklungen, Ă€sthetische Vorstellungen, Ăberfluss -oder auch Not, wie manche Exemplare verdeutlichen, die in die Sammlung des MĂŒnchner Stadtmuseums gewandert sind, wie Isabella Belting erklĂ€rt:Â
14 ZSPÂ
Dass diese Kriegs- und Nahkriegsschuhe was ganz Besonderes sind, hat man sicher in dem Moment erkannt, wenn man es in der Hand hatte â die jetzt mal erstmal per se materiell kein Wert haben, sondern wirklich aus Resten zusammengestĂŒckt und zusammengeflickt wurden. Alte Autoreifen, NĂ€gel, aus Gummi, aus irgendwelchen Pappedeckeln zusammen gehĂ€mmert, genĂ€ht -und wir sehen den und freuen uns riesig, weil das so ein wahnsinnig interessantes StĂŒck Kulturgeschichte ist und eben so etwas BerĂŒhrendes hat.Â
ErzÀhlerin
Der Schuh ist Indikator dynamischer VerĂ€nderungen, durch die Jahrhunderte hindurch -und mit ihm unser FuĂ, wie der stets zu mokanten Beobachtungen aufgelegte Wiener Architekt Adolf Loos in seinem Buch Ornament und Verbrechen um 1908 herum notiert:Â
MUSIK 16 ( Mortage Stomp 0â40)
ZITATÂ
âAber schon im Laufe dieses Jahrhunderts begann der menschliche FuĂ eine Wandlung durchzumachen. Unsere sozialen VerhĂ€ltnisse haben es mit sich gebracht, dass wir auch von Jahr zu Jahr schneller gehen. (âŠ) So langsam zu schreiten, als sich die Leute in frĂŒheren Zeiten fortbewegten, wĂ€re uns heute unmöglich. Dazu sind wir zu nervös. (âŠ) Also gehen wir schneller. Das heiĂt mit anderen Worten, daĂ wir uns mit der groĂen Zehe immer stĂ€rker vom Erdboden abstoĂen. Und tatsĂ€chlich wird unsere groĂe Zehe immer krĂ€ftiger und stĂ€rker. (âŠ) Durch eigene Kraft vorwĂ€rts kommen heiĂt die Parole fĂŒr das nĂ€chste Jahrhundert.âÂ
Ornament und Verbrechen, Metro Verlag, Seite 31 ff)
ErzÀhlerin
Adolf Loos konnte nicht ahnen, dass gut 100 Jahre nach seinen Betrachtungen die Verkörperung eines einzigen Schuhs zum Vollstrecker unserer Lebensweise geworden ist: bequem, schnell und allzeit mobil voranzukommen.Â
MUSIK 17 ( Dr. Der: Still D.R.E. 0â55)
Der Turnschuh, der Sneaker, hat sich in alle Bereiche hineingeschlichen. Wird zu jedem Style getragen. Jederzeit. Ăberall. Von allen. Der Sneaker ist Wegwerfware, Kultobjekt, Sammlerfetisch. In den Luxusboutiquen nahe der Piazza San Marco in Venedig wird er auf SĂ€ulchen und Sockeln inszeniert wie Diamantware oder die finale Goldreserve. Ein Schuh, der nicht mehr Handwerk ist und nicht mehr architektonische Skulptur. Mögen Soziologen der nahen und ferneren Zukunft herausfinden, welche Essenz unserer Zeit darin fuĂt.Â
Â